Annemarie Pieper
Foto: Peter Feenstra



Annemarie Pieper: „Philosophische Horizonte“

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Philosophische Horizonte


Mein Weg zur Philosophie


Das Wort „Horizonte“ stammt aus dem Griechischen: horizein bedeutet „begrenzen“. Wir bezeichnen beim Blick in die Ferne den Horizont als die feine Grenzlinie zwischen Himmel und Erde. Sie existiert nicht wirklich, Himmel und Erde berühren sich nicht, sondern gehen nahtlos ineinander über, aber unsere Augen haben das Bedürfnis, Oben und Unten voneinander abzutrennen – und dann die Trennung gleich wieder aufzuheben, wie es der Dichter Joseph von Eichendorff in seinem Gedicht Mondnacht tut mit den Versen: „Es war / Als hätt’ der Himmel / Die Erde still geküsst.“
Die als Horizont markierte Grenze ist nicht fest. Sie lässt sich verschieben, nach oben und nach unten, nach vorn und nach hinten. Deshalb können wir von einer Horizonterweiterung sprechen, oder dass etwas unseren Horizont übersteigt, wenn er zu eng begrenzt ist. Nur hinter den Horizont können wir nicht gehen, obwohl Udo Lindenberg genau dies in einem Song behauptet: „Hinterm Horizont geht’s weiter.“ Doch jeder Schritt auf den Horizont zu entfernt ihn im gleichen Maß. Es gibt kein Dahinter, es sei denn, wir können uns von der Erde lösen und in die Lüfte schwingen, wie dies die Schlussverse in Eichendorffs Gedicht schildern: „Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus / Flog durch die stillen Lande / Als flöge sie nach Haus.“
Die Luft hat keine Grenzen, und die Seele braucht keinen Kompass, hat sie doch ihr Ziel in sich selbst, das sie nur zu umkreisen braucht, um bei sich selbst anzukommen. Doch Udo Lindenberg hat trotzdem recht, wenn man ihm weiter zuhört. Denn auf „Hinterm Horizont geht’s weiter“ folgt: „Ein neuer Tag beginnt.“ Was da unabhängig von uns weiter geht, ist die Zeit. Sie schreitet ohne unser Zutun nach dem immer gleichen Muster fort, lässt uns am Ende der Nacht einen neuen Tag erblicken, den aber nur wir mit Sinn erfüllen und damit zu unserem Tag machen können.
Ich gehe davon aus, dass Sie heute etwas über meinen speziellen Horizont erfahren möchten, wie und wodurch er sich gebildet, hier und da erweitert, gelegentlich auch verengt hat. Ich habe 35 Jahre lang Philosophie gelehrt, zuerst nach der Promotion als wissenschaftliche Assistentin an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, dann als Dozentin an der LMU in München, schließlich 20 Jahre als ordentliche Professorin an der Universität Basel. Was vielleicht verwundert: Ursprünglich hatte ich mit Philosophie überhaupt nichts am Hut, ich wusste nicht einmal, worum es dabei geht. Zwar habe ich in meiner Geburtstadt Düsseldorf 9 Jahre lang ein humanistisches Gymnasium besucht, aber Philosophie wurde dort weder unterrichtet noch als Wahlfach angeboten. Ich wollte nach dem Abitur etwas mit Sprachen machen und ging deshalb nach Saarbrücken, weil es an der dortigen Universität ein renommiertes Dolmetscher-Institut gab. Ein Jahr lang erweiterte und vertiefte ich meine englischen, französischen und spanischen Sprachkenntnisse. Allerdings war das, was ich dabei lernte, strikt berufsbezogen, so dass die Texte, die ich übersetzen sollte, mit Kohle, Bergbau, Flugzeugkonstruktionen und Börsenberichten zu tun hatten – lauter Dinge, die mich nur mäßig interessierten. Wir wurden schon früh zu internationalen Konferenzen beigezogen, um die fremdsprachigen Reden zu übersetzen. Was mich beim Simultan- und Konsekutivdolmetschen besonders nervte, war das rhetorisch aufgebrezelte, aber inhaltlich nichtssagende Geschwafel vieler Politiker und Gewerkschaftsbosse.
Das Gefühl, dabei auf die Dauer zu verblöden, ließ mich dieses Studium abbrechen, und meine Sehnsucht nach anspruchsvoller Literatur führte mich an die Philosophische Fakultät, wo ich mich in die Anglistik, Amerikanistik und Germanistik stürzte. Also immer noch keine Philosophie. Dafür nach 4 Semestern ein tolles Promotionsangebot seitens des Anglistikprofessors, der mich ermunterte, eine Dissertation über Virginia Woolf zu schreiben, als er merkte, wie sehr mich deren Romane fesselten. Virginia Woolf, 1882 in London geboren, 1941 durch Suizid verstorben, war in der Londoner Literaturszene hoch angesehen. Was mich an ihren Romanen – wie Mrs. Dalloway oder To the Lighthouse – faszinierte, war die Art und Weise, wie sie die Ereignisse und die Erlebnisse der fiktiven Personen schilderte: nicht als chronologisches Nacheinander, sondern in einer assoziativen, die Gedankensprünge und blitzartigen Einfälle, die Stimmungen und Eindrücke oder Erinnerungen der Romanfiguren in einer scheinbar zusammenhanglos aneinander reihenden Form.
Man bezeichnet diese Erzählmethode, die Sie vielleicht aus dem Roman Ulysses von James Joyce kennen, als stream of consciousness. Der Bewusstseinsstrom kennt keine logische oder zeitliche Abfolge, sondern speist sich aus den bunt zusammengewürfelten Versatzstücken und Erinnerungsfetzen eines individuell gelebten Lebens. Diese psychische Gemengelage, in der sich die Selbsterfahrung eines Ich spiegelt, zog mich in seinen Bann. Und das wollte ich genauer untersuchen, auch deshalb, weil sich das mit Bewusstseinsstrom Gemeinte mit meiner eigenen Erfahrung deckte. Im Grunde kennen wir das alle: Während wir uns mit etwas Bestimmtem beschäftigen, schießen uns dabei unvermittelt ganz andere Dinge durch den Kopf. Ich steuere zum Beispiel zielbewusst die Post an, um ein Paket aufzugeben. Der intensive Geruch einer Linde lässt mich innehalten, und sofort steigt in mir das Bild jener Linde auf, die unter meinem Fenster im Innenhof des damaligen Philosophischen Seminars auf dem Nadelberg stand und einen so betörenden Duft verströmte, dass ich das Fenster schließen musste. Ich gehe weiter, und plötzlich heulen die Sirenen. Der Alarm war als Test angekündigt, trotzdem zucke ich erschrocken zusammen und stürze in den nächsten Hauseingang. Die Erinnerung an den lange zurück liegenden Zweiten Weltkrieg, in dem ich als Kleinkind bei jedem Sirenengeheul rasch in den Keller laufen musste, wobei einmal eine Bombe in den oberen Teil des Hauses krachte, hat sich meinem Gedächtnis eingebrannt.
Wie Virginia Woolf solche eben nicht in einem kontinuierlich verlaufenden Zeitstrom verorteten, sondern im Strom des Bewusstseins assoziativ sich einstellenden Erlebnisse literarisch miteinander verknüpft, so dass die Einzigartigkeit einer Person hervor tritt – das fand ich spannend. Und hier kam nun zum ersten Mal Philosophie ins Spiel. Der in Virginia Woolfs Londoner Haus regelmäßig zusammentreffende Literaturclub nannte sich Bloomsbury Group. Man diskutierte viel und las gemeinsam Bücher, auch solche, die für den stream of consciousness–Stil relevantes Material enthielten. Als wichtiger Autor, über den in der Bloomsbury Group debattiert wurde, galt der Philosoph Edmund Husserl (1859-1938), der Begründer der so genannten Phänomenologie und der Lehrer Martin Heideggers. Also lieh ich mir Husserls Schriften aus und versuchte, seine Thesen zu verstehen: die These von der Intentionalität des Bewusstseins, dass das Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist, eben von jenen Phänomenen, deren Wesen zu ergründen war.
Je mehr ich las, desto weniger verstand ich. Hatte ich anfangs noch Husserls Aufruf „Zu den Sachen selbst!“ begrüßt, wurden seine Ausführungen für mich immer abstrakter, weit weg von den „Sachen“, denen in einem radikalen Abstraktionsprozess erst die Haut, dann das Fleisch abgezogen wurde, bis am Ende das bloße Gerippe übrig blieb. So geht es einem, wenn man ohne Vorkenntnisse des philosophischen Jargons in philosophische Texte einsteigt. Ich beschloss, dass Husserl nur als Fußnote in meine Dissertation eingehen würde, und wandte mich wieder den Romanen von Virginia Woolf zu. Doch dann meinte mein anglistischer Doktorvater, es wäre besser, wenn ich vor der Promotion ein Staatsexamen in englischer und deutscher Literatur ablegen würde, um für alle Fälle als Gymnasiallehrerin einen Brotberuf ausüben zu können. Das klang vernünftig und erforderte keinen allzu großen Mehraufwand.
Doch da gab es im Vorfeld eine kleine Hürde. Und nun kommt die Philosophie erneut ins Spiel. Als Bedingung für die Zulassung zum Staatsexamen verlangten die Behörden eine Zwischenprüfung, das so genannte Philosophicum. Ach Gott, dachte ich, nicht schon wieder Husserl und Konsorten. Ich besuchte ergeben ein philosophisches Anfänger-Seminar und hörte mir dort an, wie der Dozent eine Stunde lang über den Satz „Das Ich setzt sich“ redete. Es ging um Johann Gottlieb Fichte, den ersten der drei deutschen Idealisten vor Schelling und Hegel. „Das Ich setzt sich. ... Und indem es sich setzt, setzt es sich ein Nicht-Ich entgegen.“
Ich dachte, der Mann spinnt, da ich keine Ahnung hatte, dass mit dem Satz etwas Einfaches, ja fast Banales gemeint war: Das Ich positioniert sich, es bezieht Stellung und bestimmt sich selbst als Ich; und indem es sich selbst bestimmt, grenzt es sich von etwas ab, das nicht es selbst, nicht Ich und insofern Nicht-Ich ist. Ratlos besuchte ich eine Vorlesung über die abendländische Metaphysik, mit der ein frisch nach Saarbrücken berufener Professor seine Stelle antrat. Es ging um das Sein des Seienden, insofern es ist. Ich wurde richtig böse über diesen Quatsch. Als ich hinterher zu ihm ging, um meinem Ärger Luft zu machen und ihm sagte, ich wäre doch sehr erstaunt, dass man für so einen Unsinn auch noch bezahlt würde, lachte er und meinte, ich müsste mich mal ernsthaft in philosophische Fragestellungen einarbeiten, um ihren Sinn zu verstehen. …

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