Jochen Hörisch
Vorletzte Fragen



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Vorletzte Fragen

 



Vorletzte Fragen

Alpha und Omega, das A und O, der Anfang und das Ende sind Chiffren, deren Tiefsinn man ironisieren kann und die uns doch unwiderstehlich in ihren Bann schlagen. Menschen sind Wesen, die zumindest in ihren guten, spekulativ gestimmten Stunden wissen wollen, was anfänglich war und schlussendlich sein wird. Deshalb hat die Geschichte der Erzählungen vom Anfang kein Ende, deshalb fangen die Geschichten vom Ende nicht an zu enden. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Mit diesen Worten fängt die Bibel an – mit einer apokalyptischen Vision auf die letzten Dinge und Zeichen endet sie. Eine intellektuelle Dramaturgie von unwiderstehlichem Reiz. Nach dem Ersten und nach dem Letzten zu fragen, ist jedoch kein exklusiver Gestus der christlich-abendländischen Kultur. Das machen fast alle (Kulturen, Religionen, Gesellschaften, Philosophien, Individuen). Zu den ganz wenigen Ausnahmen zählt die Kultur der Sinti und Roma. Sie kennt zur Irritation ihrer Außenbeobachter keinen Ursprungsmythos und keine Endvision. Vielmehr ist sie so weise, nur über ein genealogisches Gedächtnis, das etwa vier Generationen umfasst, zu verfügen und auf die eine großspurige, schriftlich fixierte Universalgeschichte zu verzichten: viele Geschichten vom Kommen und Gehen statt einer Großgeschichte vom Anfang und Ende.
Wer auf Fragen nach dem A und O verzichtet, löst Irritationen aus. Auf Kopfschütteln trifft in der Regel auch, wer die Fragen nach dem Ersten und dem Letzten so offensiv unterläuft wie die britischen Filmkomiker Monty Python, die einmal formulierten: „We come from nothing and we go to nothing. So what have we lost? Nothing.“ Eine Bilanz, von der dahinsteht, ob sie beruhigend ausgeglichen oder aber bestürzend negativ ausfällt – was soll all der Lebensaufwand, wenn sub specie aeternitatis (mit Blick auf die Ewigkeit) nichts anderes bleibt als (das) Nichts, ja, wenn sich gar die astrophysikalischen Indizien mehren, dass auch in Sphären jenseits des Menschen kein ewiger kosmischer Bestand garantiert ist? Irritierend am intelligenten Klamauk der Filmkomiker ist nun aber auch dies: dass er dem Tiefsinn verwandt ist. Die Spezialform britischen Humors macht nämlich, was immer auch beabsichtigt gewesen sein mag, einen der abgründigsten Sätze des frühen griechischen Denkens filmtauglich. Denn er erinnert an den berühmten Satz des vorsokratischen Denkers Anaximander, den Nietzsche wie folgt übersetzte: „Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zugrunde gehen, nach der Notwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeit gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit.“

 

Der Ursprung ist das Ziel.

 

Der Satz des Anaximander entfaltet eine faszinierende Denkfigur: Ursprung ist das Ziel. Anfang und Ende, Alpha und Omega bilden einen Kreislauf, der jedoch keiner der ewigen Wiederkehr ist. Vielmehr geht das, was sich von seinem Ursprung, seinem Grund emanzipiert hat, systematisch in seinen Grund zurück, und das heißt: zugrunde. Die tiefsinnigen vorsokratischen Worte haben einen dunkel vibrierenden Klang (zumal in ihrer griechischen Gestalt) und halten doch eine bemerkenswert nüchterne Deutung von ersten und letzten Dingen parat. Danach schuldet das, was ist (griechisch: en on), seinem Grund Buße. Das Seiende ist eine Störung der Reinheit des Nichtseins. Ja, der Umstand, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, begründet ein Schuldverhältnis. Alles, was ist, muss Buße zahlen für die frevel- und zweifelhafte Freude zu sein. Ein ebenso tiefsinniges wie ökonomisches Modell: Zeit ist Geld. Zeitlichkeit und Endlichkeit sind die ursprüngliche Währung, in der das, was entsteht, Buße für all sein Beginnen zahlt und wieder zugrunde geht beziehungsweise in seinen Grund zurückgeht. Ein Grund, der sich als Abgrund erweist.

 

Alles, was ist, muss Buße zahlen für die frevel- und zweifelhafte Freude zu sein.

 

Heidegger hat diesem Satz einen ausführlichen Kommentar gewidmet, der dunkle und prätentiöse, aber auch erhellende Momente aufweist. Darin heißt es: „Das Einst der Frühe des Geschickes käme dann als das Einst zur Letze (griechisch eschaton), das heißt zum Abschied des bislang verhüllten Geschickes des Seins. ...