Achim Sohns
Philosophische Widerworte



Vorwort im Buch-Layout herunterladen



Leseprobe im Buch-Layout herunterladen

 

Philosophische Widerworte

 




Philosophische Widerworte
Zum Mitdenken und Andersdenken?


Sofern wir den Berichten über die altpythagoreischen Lehren vertrauen können, werden erstmals in der antiken Philosophie bei Pythagoras (570 v.Chr.–510 v.Chr.) fundamentale Gegensätze – wie Licht und Finsternis, Begrenztes und Unbegrenztes – zu Grundpfeilern der menschlichen Existenz. Harmonie gilt als Ergebnis einer Mischung und Zusammensetzung von Entgegengesetztem zu einer neuen Einheit. Dieses „Eine in sich Unterschiedene“ gilt nachfolgend nicht nur als klassische Definition der Schönheit, beispielsweise bei Platon: Mit dem Philosophen Heraklit (520 v.Chr.–460 v.Chr.) wird das gesamte Sein als wesentlich bestimmt durch die Dynamik gegensätzlicher Bestimmungen beziehungsweise Kräfte gefasst. Gegensatz heißt für die alten Griechen – Leben, Dasein, Existenz.
Gegensätzliches, Widerspruch, andere Meinungen haben es heutzutage manchmal schwer. Wir erleben auch in den westlichen freien Gesellschaften, wie sich einzelne Denkweisen als abschließend, fast schon als endzeitlich begreifen. Immer wieder steht der Wunsch im Raum, widerspruchsfrei darüber befinden zu können, was sag- und denkbar ist und was nicht. Gerade in der digitalen Welt passen Zwischentöne und Komplexitäten nicht in die 280-Zeichen-Twitter-Logik, die oft nur grelle Radikalpositionen mit Aufmerksamkeit und Reichweite belohnt.
Tatsächlich stehen wir vor Herausforderungen, die ihresgleichen in der Menschheitsgeschichte suchen: Die Digitalisierung als globaler Wettbewerbsfaktor für die Unternehmen und im Bildungssystem, die Bevölkerungsexplosion in vielen Ländern der dritten Welt, der Klimawandel und die mit den beiden letztgenannten im Zusammenhang stehenden globalen Flucht- und Migrationsbewegungen, welche die Welt und insbesondere die westliche verändern – um nur einige Herausforderungen zu nennen. Ab 2020 bewegen wir uns durch die Corona-Pandemie in einem unklaren Schwebezustand, der Überkommenes und Bewährtes im politischen wie privaten Handeln in Frage stellt. Kehrt danach das alte Leben wieder, oder ist Corona ein „Zwischenraum des Möglichen“ (siehe Kapitel 2 – Corona)? In sich gegensätzliches, breit angelegtes Denken sollte bei der Lösungssuche im Vordergrund stehen. Das ist oft nicht der Fall. Politik und Medien werden häufig zu Verkündern eines vermeintlich alternativlos Machbaren. Abweichlern wird schnell Extremismus unterstellt.
Hat das alles etwas mit Philosophie zu tun? Das hat es, denn das Gegensinniges oft ausschließende Denken in Politik und Medien findet sich auch hier. Bereits 2014 forderte eine deutsche Philosophiezeitschrift: „Es gibt kein ‚mit Heidegger‘. Es ist an der Zeit, ohne Heidegger zu denken.“ Soll, was Einzelnen politisch nicht behagt, philosophisch nicht mehr gedacht werden?
Woher kommt das? Wie kommen so viele dazu, in ihrer Praxis des einseitigen Denkens beinahe ein Ende des Denkens vorzuleben? Ich meine, die Behauptung der Alternativlosigkeit im Denken ist anti-philosophisch, eine Verengung der Erkenntnis und frage, wie frei das menschliche Denken überhaupt sein kann (siehe Kapitel 1 – Über die Erkenntnis). Mitunter liegen dem endzeitlichen Denken auch moderne Trugbilder zugrunde (Kapitel 3 – Von Trugbildern). Erst wenn wir sie durchlaufen und abgelegt haben, können wir entschleunigen (Kapitel 4).
In der offenen Gesellschaft muss immer wieder neu, in Gegensätzen, gedacht werden, weil nur dadurch praktischer Erkenntnisgewinn zu erwarten ist.
Damit komme ich zum Inhalt und zur Intention dieses Buches. Eine Vielzahl aktueller gesellschaftlicher und politischer Denkmuster wird aufgegriffen und mit philosophischen Denkformen kontrastiert. Durch das Formulieren von Gegensätzen werden Spannungen erzeugt. Widerworte werden formuliert, die eigenes Denken ermöglichen. Ist der philosophische Widerspruch berechtigt, muss neu überlegt werden. Schauen Sie also genau hin. Am Ende entscheiden Sie, der Leser. Um diesen Denkvorgang einfacher und nachhaltiger zu gestalten, bietet das Buch zu den einzelnen Artikeln eine Auswahl an Verweisen, auf die man zugreifen, in die man sich weiter vertiefen kann, um eigene Positionen zum Widerwort des Autors auszubilden. Über und zu allem gibt es illustrierende und kontrastierende Bilder, denn Philosophie sollte in der Welt des Autors auch ein ästhetisches Erleben sein – Bilder als Widerworte.

„Das Widerstreitende zusammentretend und
aus dem Sichabsondern die schönste Harmonie.“




Wie frei können wir sein?
Beweisen die modernen Neurowissenschaften die Unfreiheit des menschlichen Denkens?


Die modernen Neurowissenschaften zeigen eindrucksvoll die Bedeutung des Nervensystems für die Zusammensetzung und Interpretation menschlicher Wahrnehmungen, für die Motive menschlicher Handlungen und Entscheidungen. Was und wie wir wahrnehmen, auch was wir nicht wahrnehmen und wie das Wahrgenommene verarbeitet wird, erweist sich als von neuronalen Prozessen bestimmt, die wesentlich außerhalb unseres Bewusstseins liegen. Sie sind nur der Hirnforschung zugänglich.
Nach neueren Untersuchungen tauchen weniger als zehn Prozent der durch die Sinne aufgenommenen Informationen überhaupt im bewussten Erleben auf. Der Großteil wird unmittelbar vom Gehirn verarbeitet und nach von uns unwählbaren Regeln (aus)sortiert, ohne die begrenzten Möglichkeiten des Bewusstseins jemals zu erreichen.
Da die überwiegende Informationsauswahl und Verarbeitung eben nicht Gegenstand menschlicher Entscheidungen ist, muss mit verblüffender Eindeutigkeit davon ausgegangen werden, dass unser bewusstes Sein ein nachrangiges Gut der menschlichen Entwicklungsgeschichte ist. Ein interner gegebener (genetischer) Code im Menschen legt unsere „Informationsverarbeitung“ zu einem großen Teil fest. Er bestimmt, welche zehn Prozent Informationen uns bewusst werden, und präformiert überwiegend die Arten des Umgangs mit ihnen.
Das erscheint unbefriedigend.
Schon der Philosoph Arthur Schopenhauer hat vor 200 Jahren die Gegenstände der bewussten Wahrnehmung als das Ergebnis zerebraler Verarbeitungsprozesse beschrieben: „Alles Objektive, Ausgedehnte, Wirkende, also alles Materielle … ist ein nur höchst mittelbar und bedingterweise Gegebenes, demnach nur relativ Vorhandenes; denn es ist durchgegangen durch die Maschinerie und Fabrikation des Gehirns und also eingegangen in deren Formen, Zeit, Raum und Kausalität…“
Dieses Unbewusste, Vorherbestimmende, dem Schopenhauer den Begriff ‚Wille‘ gibt, wandelt auch in den menschlichen Motiven, mit denen wir Handlungen begründen. Das Vorherbestimmende gilt als ein allem und jedem innewohnender „blinder, unaufhaltsamer Drang … Die Aktion des Leibes ist nichts anderes als der objektivierte, d.h. in die Anschauung getretene Akt des Willens.“
Wo bleibt, wenn man dem folgt, die menschliche Freiheit und seine Verantwortung sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber? Im Denken der modernen Menschen ist individuelles Freiheitsstreben schließlich ein hohes Kulturgut; unser gesamtes modernes Bild von uns selbst sowie seine Manifestation in politischen Grundsatzprogrammen wie auch in politischen Verfassungen ist wesentlich durch die Möglichkeit menschlicher Freiheit geprägt.
Nun, sagt Schopenhauer, zum Einen lernen wir unseren inneren Code der Informationsauswahl und ihrer Verarbeitung, unseren Charakter, im Verlauf des Lebens kennen. Wir setzen ihn um und werden so der oder die wir sind. Der Einzelne kann lernen, zu wissen, was er sich „zutrauen kann und darf“. Er vermag also seine Ziele den Möglichkeiten seiner selbst anzupassen. Das kann man Selbstverwirklichung nennen.