Stefan Diebitz
Die Vielfalt des Seins



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Die Vielfalt des Seins

 




Vorwort

„Die Philosophie darf nicht die Mannigfaltigkeit
der Welt vernachlässigen – die Feen tanzen,
und Christus wird ans Kreuz geschlagen.“


Irgendwer hat irgendwo bemerkt, der dümmste Mensch sei derjenige, der nur ein einziges Buch gelesen habe. Das ist furchtbar wahr. Denn wer immer nur eine und dieselbe Antwort auf alle Fragen hat, so verschieden diese auch sein mögen, der glaubt vielleicht, alles erklären zu können, hat aber buchstäblich gar nichts verstanden.
Seit geraumer Zeit leben wir in einer Situation, in der die intellektuelle Atmosphäre von einem ebenso merkwürdigen wie immergleichen Gemisch aus Vulgärdarwinismus und Materialismus bestimmt wird, vor dem alle mögliche Gegenrede zu verstummen hat – sowohl an den Universitäten als auch in den Feuilletons der großen Zeitungen; von den beliebten Naturdokumentationen im Fernsehen gar nicht zu reden, da geht es noch vulgärer zu. Vielleicht seit dem Anfang, vielleicht seit Mitte der 90er Jahre hat sich die Vorstellung durchgesetzt, daß man allen Fragen mit naturalistischen Antworten begegnen darf, weil generell alles Physik oder Chemie ist; und so werden auch die Erscheinungen des Lebens darauf reduziert. Bewußtsein zum Beispiel gilt als ein biochemisches Phänomen, denn „Gedanken entstehen aus Molekülen, Proteinen, Enzymen.“ Seiner Sache gewiß verrät uns der britische Physiker Ben Moore: „Gefühle sind eine molekulare Interaktion, Hormone führen dazu, dass wir uns gut fühlen oder schlecht.“ Noch wesentlich grobschlächtiger schreibt der niederländische Hirnforscher Dick Swaab: „So wie die Niere den Urin produziert, produziert das Gehirn den Geist.“
Bereits die nicht zu leugnende Tatsache, daß es ohne eine physikalische Grundlage kein Bewußtsein gibt, ist für einen Naturalisten Grund genug, alle, und das heißt wirklich sämtliche in Frage stehenden Probleme physikalisch zu nennen und in der Physik die Antworten auf schlechterdings alles und jedes zu suchen. Es scheint, daß eine Gegenposition zu der Behauptung, neuronale Aktivität und Gedanke seien identisch, für gewisse Leute überhaupt nicht in Frage kommt, denn sogar gebildete Menschen, die es entschieden ablehnen würden, sich selbst als Materialisten zu verstehen, halten diese Identität für eine ausgemachte Sache.
Es ist ja nicht so, daß die Physik überhaupt keine Antworten geben könnte – ganz im Gegenteil, sie hat phantastische Erfolge gefeiert und tiefste Blicke in das Wesen der Materie oder die Entstehung des Weltalls geworfen. Trotzdem ist sie nur für einen Aspekt der Welt zuständig, und wer tatsächlich Antworten auf alles haben möchte, der sollte sich diese wie ein Mosaik aus den unendlich vielen kleinen Bruchstücken zusammensetzen, die ihm teils die verschiedenen Wissenschaften, teils die Philosophie bieten. Oder, von mir aus, die Religionen. Besser noch: Er sollte verschiedene Fäden zu einem bunten Teppich knüpfen. An diese eigentlich etwas banale Weisheit möchte dieses Buch erinnern: Die Vielfalt der Welt, also ihre Buntheit und ihr Reichtum, kann sich allein in einer Vielfalt der Antworten spiegeln. Alle eindimensionalen Theorien sind zum Scheitern verurteilt.

Zugegeben: ich bin ein polemischer Geist. Und ich bin es mit Leidenschaft. Aber wie gern würde ich wenigstens manchmal alle Polemik beiseite lassen! Was würde ich dafür geben, ein von Grund auf selbständig argumentierendes Buch zu schreiben, in dem die Auseinandersetzung mit anderen Positionen überhaupt keine Rolle spielt! Es wäre einfach nur schön, im Stile bedeutender Philosophen einen Gedankengang vorzulegen, der seine Grundsteine selber legt, der also von elementaren Einsichten seinen Anfang nimmt und sich wie eine Baumkrone oder ein Wurzelgeflecht im ruhigen Fortgang immer mehr verzweigt, wobei er immer mehr und immer weiteres reiches Material beibringt, mit dessen Hilfe sich wenn nicht die Welt, so doch wenigstens Teile von ihr erklären lassen.
Unglücklicherweise besitze ich nicht den reichen Geist und die ausufernde Gelehrsamkeit eines Georg Wilhelm Friedrich Hegel, eines Henri Bergson oder eines Ernst Cassirer, die weite Teile der Wissenschaft und Kultur ihrer Tage überblickten und zusammenfassen konnten. Andererseits: Der Brunnen, in den ich meinen Eimer knarrend senke, trocknet nur höchst selten aus, und ich habe mich in mancherlei Wissenschaften umgetan, um meine Argumentation zu unterfüttern. So konnte den Einsichten der großen Meister vergangener Tage ziemlich viel Eigenes hinzugefügt werden. Oder doch wenigstens hier und dort. Und deshalb ist dieses Buch mehr als bloß Würdigung, Wiederholung und Deutung einer vergangenen Philosophie, und es will viel mehr sein – und es ist auch viel mehr – als bloß der Kampf gegen den Blödsinn.
Ein Buch ohne Polemik besäße wohl nicht die Energie, über die dieses Werk verfügt. Ich habe die vulgärmaterialistische Literatur als Trampolin genommen, auf dem ich jene Salti zeige, von denen mich im wirklichen Leben Alter, Vorsicht und mangelnde Gelenkigkeit abhalten. Oder der Unsinn des Monismus ist der Treibsatz, der die Rakete meiner eigenen Philosophie in den Himmel jagt. In jedem Fall benutze ich die monistische Literatur, um zu meinen eigenen Positionen zu gelangen. Ich zeige nicht allein ihre Abstrusitäten auf, indem ich in eine jede ihrer Sackgassen hineinlaufe, sondern gebe auch eigene und durchaus selbständige Antworten; und je weiter man liest, desto mehr tritt die Polemik zugunsten der Darstellung meiner eigenen Überlegungen in den Hintergrund.



Monismus:
Der Traum von der Einheitswissenschaft


Das Gegenstück zu einer pluralistischen, in sich differenzierten Ontologie, wie sie Whitehead und Hartmann und noch einige wenige andere Philosophen entwarfen, ist eine monistische Philosophie, eine Einheitswissenschaft, die die Gesamtheit der Welt aus einem Prinzip heraus erklären möchte. White­head sprach in diesem Zusammenhang vom „Trugschluß der unzutreffenden Konkretheit“ („fallacy of misplaced concreteness“). Dieser Trugschluß, erläutert Whitehead, „besteht darin zu vernachlässigen, welchen Abstraktionsgrad man bereits erreicht hat, wenn man ein wirkliches Einzelwesen bloß insoweit betrachtet, als es bestimmte Denkkategorien exemplifiziert. Es gibt Aspekte der Wirklichkeiten, die man einfach ignoriert, solange das Denken auf diese Kategorien beschränkt bleibt.“ Man focussiert einzig und allein ein einziges Attribut und blendet alle anderen aus, so daß man mit dieser einen, ganz willkürlich ausgewählten Eigenschaft sehr schön rechnen kann – die lästigen anderen Attribute können einem ja nicht mehr in die Quere kommen, nachdem man von ihnen abgesehen hat.
Heute findet man diesen von Whitehead beklagten Denkfehler in unzähligen Arbeiten, und zwar nicht zuletzt in Gedankenexperimenten, wie sie besonders in der angelsächsischen Philosophie gang und gäbe sind. Den Abstraktionsgrad, den mit Whitehead ausgerechnet ein bedeutender Mathematiker so gefährlich findet – denn wer könnte besser mit Abstraktionen umgehen? –, erreicht man eben dadurch, daß man sich bestimmte Situationen zurechtlegt und den Akteuren wie dem Geschehen eine Eindeutigkeit zuspricht, die es in der Realität niemals gibt und auch niemals geben kann. Kein realer Gegenstand, Organismus oder Prozeß läßt sich auf ein Merkmal reduzieren. (Über den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität und die Bedeutung der Vielzahl der Attribute für die Realität weiter unten; es ist ein wesentlicher Aspekt der hier vorgetragenen Argumentation, daß allem Realen eine unreduzierbare, buchstäblich unendliche Vielfalt der Attribute entspricht. Whitehead sprach in diesem Zusammenhang von einem „Nexus“, womit die netz- oder teppichartige Verflechtung vieler Attribute angesprochen wird.)
Seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts ist neben dem Darwinismus der Physikalismus die dominierende monistische Theorie. Diese Theorie ist eine besonders vulgäre Form des Materialismus, nach dem nur physisches Sein existiert, also auch das Leben oder der Geist sich auf physische Gegenstände zurückführen und mit einer Mischung aus Physik und Chemie befriedigend erklären lassen. Die Behauptungen der Hirnforscher baumeln an den Ästen dieses so wenig rühmlichen Stammbaums; und es sind wurmstichige Früchte.
Dabei gehört es zum Standard der Argumentation, daß so getan wird, als sei eine einzige Alternative zum Monismus denkbar, nämlich der Dualismus, den man mit leichter Hand in der Philosophie René Descartes’ widerlegen zu können glaubt.
Den Dualismus gibt es in der Philosophie seit Platon – er gehört also zu ihrem Kernbestand. Und sicherlich nicht zu Unrecht, denn alle Antagonismen – jener der Seinsweisen, also der von Idealität/Realität bzw. Individualität/Allgemeinheit, ist nur ein besonders prominenter –, alle Antagonismen stellen notwendigerweise einen Dualismus dar. Aber es wäre mehr als nur schief, diesen Dualismus einfach auf die verschiedenen Arten des Seins zu übertragen, denn warum sollte der Dualismus der Seinsweisen einen Dualismus der Seinsarten zur Folge haben?
Ein anderer Dualismus, eng mit dem der Seinsweisen verwandt, ist der Dualismus des Seienden und des Geltenden, den Emil Lask in Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre behandelt hat. Aber dort geht es schon nicht mehr um einen polaren Gegensatz – das Verhältnis von Seiendem und Geltendem ist ganz und gar anders gelagert.
In diesen Überlegungen geht es vor allem um die Seinsweise, also um den Gegensatz von Idealität und Realität, und um die davon streng zu unterscheidende Schichtung des Seins, seine Aufteilung in mindestens vier verschiedene Seinsarten. Als Gegenentwurf zu allen Monismen taugt aber nur letzteres, denn ein Monismus braucht ja nicht den Gegensatz der Seinsweisen zu leugnen und tut dies wohl auch nur in wenigen Fällen.
Von den Grundbüchern der europäischen Philosophie der Neuzeit, von Hobbes Leviathan und der Methodenschrift von Descartes, wird allein der Entwurf des letzteren mit unermüdlicher Schärfe kritisiert; Hobbes dagegen, der doch nicht viel weniger einflußreich war, wird in diesem Zusammenhang merkwürdigerweise kaum jemals erwähnt. Aber der cartesische Dualismus, der Gegensatz von res extensa und res cogitans, wird in unzähligen, teils sehr auflagenstarken Büchern des 20. Jahrhunderts auf das schärfste angegriffen. Auf die in sich viel differenzierteren philosophischen Konzepte Hartmanns, Whiteheads oder anderer wird in aller Regel mit keiner Silbe eingegangen. Schon deshalb, weil er sich keinen ernsthaften Gegner aussucht, vermag der Monismus keinen zu überzeugen, der tiefer zu fragen und nachzudenken bereit ist.
In der deutschen weltanschaulichen Literatur wird mit Monismus meist die Lehre Ernst Haeckels identifiziert, des großen Biologen, der ausgangs des 19. Jahrhunderts mit größtem Erfolg die Werbetrommel für Charles Darwin rührte. Auf diesen künstlerisch begabten, aber „als Philosophen unbeträchtlichen Mann“ (Rickert), der sich nicht entblödete, sich selbst zum Gegenpapst auszurufen und damit den quasi-religiösen Charakter seiner Weltanschauung offen zuzugeben, berufen sich noch heute Universitätslehrer wie Wolfgang Welsch in seinem Opus magnum Homo mundanus oder Schriftsteller wie Michael Schmidt-Salomon, der eine Reihe von Autoren in der Giordano-Bruno-Stiftung versammelte, die unter großem Getrommel und Gepfeife das Erbe der Haeckelschen Monistenvereine fortführt. Sonst schließt sich dieser Monismus so ziemlich vorbehaltlos Sachbuchautoren wie Daniel Dennett oder Richard Dawkins an und verallgemeinert, vergröbert und verabsolutiert mit diesen die Theorien der Evolution, indem er deren Prinzipien einerseits von der belebten auf die unbelebte Natur, andererseits auf die Kultur überträgt. Das Prinzip der Selektion etwa soll nicht allein erklären, wie es überhaupt zu Leben und seiner Entfaltung in verschiedenen Arten kommen konnte, sondern darüber hinaus selbst für die Tradierung kultureller Entdeckungen und den Erfolg von Religionen verantwortlich sein.
Diese Übertragung eines eigentlich allein für das Leben formulierten Prinzips auf ganz andere Gebiete ist keineswegs ein neuer Vorgang, sondern mit Friedrich von Hayek hat bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer der weltweit einflußreichsten Nationalökonomen volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse zu verstehen versucht, indem er die Ergebnisse der Selektionstheorie auf sie übertrug: „Die Theorie der Entwicklung durch natürliche Auslese beschreibt eine Art von Prozeß (oder einen Mechanismus), der unabhängig ist von den spezifischen Zuständen, unter denen er auf der Erde stattgefunden hat … Die … Grundidee ist, daß ein Mecha­nismus der Vervielfachung von übertragbaren Varianten und einer wettbewerblichen Auslese jener Varianten, die eine größere Überlebenschance haben, im Laufe der Zeit eine große Vielzahl von Strukturen hervorbringt, die dazu angepaßt sind, sich fortlaufend an die Umwelt und aneinander anzupassen.“ Wie man leicht sehen kann, ist der in der Politik weltweit herrschende Neoliberalismus die auf ökonomische Vorgänge übertragene Evolutionstheorie.
Daniel Dennett als Mastermind des Neodarwinismus durfte sein letztes Werk schon Jahre vor dessen Veröffentlichung werbewirksam in einem vielgelesenen Wochenmagazin mit den Worten bewerben, er habe „gerade ein Buch abgeschlossen, in dem ich Religionen evolutionsbiologisch betrachte … Die Vorstellung, die Humanwissenschaften seien vor evolutionärem Denken zu schützen, ist für mich die Anleitung zum Desaster.” „Dieselben Untersuchungsmethoden“, konnte man drei Jahre später in dem endlich erschienenen Buch nachlesen, „mit denen wir die Geheimnisse von Süße, Alkohol, Sex und Geld gelüftet haben, lassen sich auch auf viele Facetten der Religion anwenden.“