Jürgen Große |
Inhalt
Durch Tag und Nacht.
Lehrstunden der Schlaflosigkeit
„Was ist eine einzige Kreuzigung verglichen mit jener täglichen, die der Schlaflose erleidet?“ (Émile Cioran)
Schlaflos bleibt ein Bewusstsein, das aus sich selbst leben will und sich darum nicht mehr vergessen kann. Als Selbstbewusstsein, Selbstbehauptung, Selbstverwirklichung kennt es keine Ruhe. Schlaflosigkeit und Übermüdung bilden die zwei Seiten jener Aufgewecktheit, die von den neuzeitlichen Philosophien eines allzeit hellwachen Selbstbewusstseins verherrlicht wurde.
In 49 Kapiteln protokolliert Jürgen Große 24 Stunden eines immerwachen Bewusstseins.
Auszug aus dem Stundenplan
Mitternacht
Ein Schlafloser ist aufs Land geflohen, um dort in einem verlassenen Pfarrhaus den jahrelang entbehrten Schlaf zu finden. Ein neu installiertes, auf halbe Stunden eingestelltes Schlagwerk im Kirchturm vorm Fenster hindert ihn jedoch am Einschlafen, es veranlasst und gliedert die nachfolgenden Meditationen.
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Halb zwei
Das Selbstbewusstsein stiftet eine Weltgemeinschaft jenseits jeglichen Sachbezugs, rein durch Konventionen wie zum Beispiel die der Pünktlichkeit, das heißt einer technisch herstellbaren und messbaren Zeitlichkeit. Eine vom Selbstbewusstsein gesetzte Zeit soll die kleinen Wechselfälle des Lebens umgehen und nimmt dafür die großen in Kauf – die Opfer jener Übermüdeten etwa, denen die Verkehrstechnik übergeben ist.
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Halb drei
Die Schlaflosen arbeiten nicht für sich selbst, sondern für eine dereinst ausgeruht konsumierende Menschheit. Die Arbeit als pausenloses Generationenwerk entspricht einer vom agrarischen Lebensrhythmus abgelösten Daseinsweise, für die Schlaf und Wachen, Arbeit- und Freizeit eine Sache der Termingebung ist.
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Halb vier
In seinem Willen einzuschlafen fühlt sich der schlaflos-unermüdliche Mensch bald als ein Komödiant, aber auch als Zuschauer und Kritiker eines allnächtlichen Schauspiels. Diese Zerspaltung der Person betrifft jedoch nur jene Unermüdlichen, die in intellektuellen Berufen tätig sind und sich einen Rest Glauben an die ‚gute Stunde‘ bewahrten, worin man, ausgeruht, hellwach eines Wissens habhaft werden kann.
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Fünf
Die Angst der Wachzivilisationen ist so schlaflos wie ein Leben, das in sich selbst einen Zweck sucht und ihn in einem immerwachen Willen findet; dieser Wille setzt dem Leben eine Zeit, deren reine Erfahrung es zugleich langweilt und quält – in der Schlaflosigkeit ist die Zeit, die alle Gegenstände des Willens versammelt, selbst gegenständlich geworden. Der Wille zur Wachheit ist von einer lebensfremden Stetigkeit, die den Ich- und den Weltpol des Daseins gleichermaßen prägt; dieses Dasein ist durch und durch unsinnlich, erfährt die Sinnenwelt als äußere Grenze des von ihm selbst behaupteten und produzierten Sinns.
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Halb sieben
Der schlaflose Mensch ist in der Situation eines Gottes, der sich von seinem Sein getrennt findet dadurch, dass er ganz Bewusstsein geworden ist; ähnlich muss es einem Fichteschen Transzendentalphilosophen ergehen. Schlafloser, Transzendentalphilosoph und einsam-allmächtiger Gott können mit gleichem Recht von sich sagen: „Ich bin, der ich bin“, denn schlaflos sein heißt nichts anderes, als pausenlos an die eigene Schlaflosigkeit denken zu müssen; der Wunsch, dies nicht mehr denken zu müssen, ist der Selbstmordgedanke.