| Moralische Schwerkraft |
Leseprobe
Vorbemerkung
Das Gegenteil von Moral stellt nicht so sehr ein Immoralismus dar, worüber wir meinen, moralische Grundsätze im Ganzen leugnen zu können. Es ist vielmehr ein Moralismus, demzufolge wir uns in moralischen Dingen anderen voraus wähnen, um sie dann entsprechend zu unterweisen. Damit verstoßen wir gegen den moralischen Grundsatz der Gegenseitigkeit, dessentwegen es überhaupt Moral gibt.
Hieran knüpft sich die alte Frage, ob Moral lehrbar sei – oder ob wir, allem amoralischen Aussehen unseres Handels und Verhaltens zum Trotz, nicht immer schon moralische Wesen sind. Was nicht heißt, dass wir nicht dann und wann daran erinnert werden müssten. Wir erinnern uns selbst daran, unwillkürlich, sobald wir, in der Regel unfreiwillig, ins Nachdenken kommen. Nicht nur, dass wir uns von anderen umgeben und beansprucht wissen; wir zweiteilen uns von jeher in uns selber, werden uns zum eigenen Du, mit dem wir im Gespräch sind. Sprach- und Gewissensbegabtheit ist ein und dasselbe.
Die andere Frage ist, inwieweit wir es sind, die der Wirklichkeit, die wir wahrnehmen, Sinn und Wert sei es zu-, sei es absprechen; oder ob der Wirklichkeit nicht bereits Sinnhaftigkeit und Wertgehalt eignet, worauf wir mit unserem Denken und Fühlen antworten. Wie immer auch unsere Antworten ausfallen mögen, erleben wir uns selbst als wirkliche Wesen, die in der sie umgebenden Wirklichkeit nicht aufgehen: Wir stehen ihr gegenüber – uns selbst.
Jederzeit und überall sind wir durch den Unterschied von Innen und Außen bestimmt. Eine Differenz, die nirgends, nicht einmal an unserem eigenen Inneren, unseren Gefühlen und Gedanken, haltmacht. Von daher auch befinden wir uns in keinem bleibenden Gleichgewicht. Wir müssen dieses immer neu suchen. Im Subjektiven verbinden wir ein solches Gleichgewicht mit dem Empfinden, „bei uns“ zu sein, in Hinblick auf die Welt und unser aller Koexistenz mit Frieden.
Laut Platons Gorgias leben wir umso schlechter, je ungerechter wir sind – deswegen, weil wir, ungerecht handelnd, nicht nur der Gemeinschaft und Freundschaft mit den anderen, sondern mit uns selbst entraten. Die Differenz von Innen und Außen, wie sie uns in unserem Selbst- und Weltbezug bestimmt, stellt uns vor die Aufgabe, unser Verhältnis zu den anderen über dasjenige zu uns selbst zu ermitteln, und umgekehrt. Auf diesem Weg werden wir eines uns miteinander Verbindenden gewahr – eines Dritten, das uns in doppelter Weise, einerseits als ein Zwischen-Uns, andererseits in Form unseres Bei-uns-selbst-Seins, beieinander hält.
Nicht nur, dass dieses Dritte unsere Kommunikation in Gang hält; es durchzieht noch unsere Selbstgespräche. Genau dies macht die Wirklichkeit des Moralischen, deren Schwerkraft, aus. Wir können uns ihr so wenig entziehen, wie es uns gelingt, ihr mit der Moral, die wir uns geben, vollkommen gerecht zu werden.
Der Moralist und das Murmeln
Wenn der Moralist seine Stimme erhebt, ist dies, so Hegel in Bezug auf Kant,
ein Akt der Eitelkeit: Der Moralist gibt vor, das Ideal des Moralischen exklusiv
in sich zu tragen. Seine Stimme erhebend, beansprucht er einen Vorsprung
vor den anderen. Was, wenn er, Abstand zu sich nehmend, sich wie von außen
zuhörte? Nachdem er zu reden aufgehört hätte, würde er hören müssen, was ihm
die anderen zu sagen haben. Es kehrte das Bewusstsein zu ihm zurück, dass die
anderen ebenso dies Ideal in sich tragen, dass auch sie, mit sich sprechend,
mit diesem – sich selbst – ringen.
Jede und jeder verfügt über moralisches Bewusstsein in Gestalt eines Bewusstseins der Diskrepanz ihres inneren moralischen Ideals und der Äußerlichkeit der praktizierten Moral. Uns ist bewusst, dass wir bei unserem alltäglichen Handeln hinter unseren eigenen moralischen Wertvorstellungen zurückbleiben. Eine Diskrepanz, die wir im Gespräch mit uns selbst verhandeln, indem wir uns abwechselnd verurteilen und vor uns selber rechtfertigen. Es ist dieses innere Murmeln, mit dem wir unser Nicht-eins-Sein mit uns durchspielen und so balancieren.
Das gestörte Selbstgespräch
Was uns von außen her an Signalen und Informationen erreicht, übersetzen wir von vornherein in die Sprache und Logik dieses inneren Murmelns. Wenn wir uns äußern, übersetzen wir, umgekehrt, unser Selbstgespräch in eine allgemein verständliche, dem inneren Murmeln der anderen assimilierbare Sprache. Auf die Weise regulieren wir, nach innen wie nach außen, die Differenz von Innen und Außen, in die wir uns gestellt vorfinden. Wir sorgen dafür, dass wir weder mit unserer Umwelt verschmelzen noch uns von ihr komplett unterschieden erleben. Nichts anderes als diese Regulierung, die wir in Form eines inneren, meist lautlosen Sprechens leisten, bedeutet „Denken“.
Mit uns selbst sprechend, werden wir uns zum eigenen Du. Wir sind nicht eins mit uns, sondern müssen es immer erst noch werden. Zu diesem Zweck zweiteilen wir uns ins uns, treten denkend in einen Dialog mit uns ein. Es ist gerade diese uns augenscheinlich voneinander isolierende Fähigkeit, mit uns selbst zu sprechen, die uns miteinander verbindet. Aus diesem Prozess des Zu-uns-Kommens drohen uns die Ansprachen des Moralisten herauszureißen. Es ist der Moment, in dem potenziell Manipulation stattfindet. Sie ereignet sich überall dort, wo unsere Selbstregulierung qua Ansprache von außen außer Kraft gesetzt wird, wo wir als Subjekte, die über die Art ihres Bestimmtseins eigenständig, per eigenem Denken, zu bestimmen suchen, zum Verstummen gebracht werden.
Nicht von ungefähr begreift Thomas Hobbes, Vertreter einer manipulativen Rationalität par excellence, Sprache als ein System willkürlich festgelegter Worte, die, von den Vätern befehlshaft an ihre Söhne vererbt werden, die diese dann, durch neue Worte ergänzt, an ihre Nachkommen weitergeben. Wobei, laut Hobbes, immer die Gefahr der Uneindeutigkeit besteht. Danach können mit denselben Worten ebenso gut verkehrte Regeln und Handlungsanweisungen tradiert und somit gefährliche Irrtümer verbreitet werden. Während die Tiere, da sie, so Hobbes, keine Sprache besitzen, sich und andere auch nicht zu täuschen vermögen, steht der Mensch ständig in der Gefahr, entweder gedankenlos daherzureden oder sich und andere in die Irre zu führen.
Hobbes kennt, in der Logik seines Verständnisses der Sprache als etwas von uns Gesetztes nur Wahrheit oder Irrtum, nichts dazwischen – keine Möglichkeit der Selbstkorrektur, kein Lernen, das zwischen beidem navigiert. Das hat wiederum damit zu tun, dass er Wahrheit, wie die Worte, die sie bezeichnen, ausschließlich im Außen der sichtbaren Wirklichkeit festmacht, während der privilegierte Ort des Irrtums unser allen Blicken verschlossenes Inneres sei.
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(Fortsetzung in der „Leseprobe im Buch-Layout“, siehe Download in der linken Spalte)