Jürgen Große
Die Philosophen



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1 Die Beweislastigen

Wenn man einmal unvermutet auf eine Gesellschaft von Philosophen trifft, dann betäubt die warm wirbelnde Luft der Beweisreden, deren Sendung nur vorläufig verborgen scheint. Sie bleibt es jedoch. Die Betäubung klärt sich zum Gefühl, dass hier eine erkünstelte Hitze das Klima bestimme, es findet seine Erklärung an dem Mangel der Sendung, des Anlasses, der Verpflichtung: In der Philosophen-Gesellschaft denkt man erklärtermaßen nicht, um etwas zu beweisen und alsdann in Ruhe zu lassen; das führt nun aber nicht etwa zum entspannten Geplauder, sondern zur entfesselten, nicht abreißenden Beweisrede. Ein Denker, der irgendwas beweisen muss, fühlt immerzu seine Fragwürdigkeit und seine Freiheit in der Bindung ans Bewiesenseinwollende, und man fühlt mit ihm. Überhaupt lässt sich hier etwas fühlen, jeder Millimeter, den das Denken ausholt, um sich von seinem Beweisgrund zu entfernen, erzeugt ein moralisches Ziehen, Drücken und Ächzen; im Mitgefühl für den Redlich-Verzerrten begreift man, dass nur das Denken so frei ist, sich missbrauchen zu lassen.
Das Denken, wo freigelassen, ist gewiss räuberisch, es geht auf Beute und lebt für den Verzehr, es lebt aber von der Hand in den Mund, hat jedenfalls in nichts anderem seinen Wert als in seiner Nahrung; ein Denker lebt nicht neben irgendwelchen Gedanken, die sich weder fassen noch fressen lassen, er hat kein Verhältnis zum – vorgesetzten oder vorgefundenen – Leblosen, er hat keine Nebengedanken. Philosophen vertrauen darauf, dass sich immerzu Gedanken finden, die sich zubereiten und verzehren lassen, nachdem ihnen das Philosophieren, dieses Würzen alles Vorhandenen, sein Aroma, seine Rechtsgründe – seinen Wert mitgeteilt habe.
Das Philosophieren will seinen eigenen Wert haben, und deshalb vermag es weder Gefühl noch Mitgefühl zu erwecken; die damit Beschäftigten wirken verdächtig. Nichts zwingt sie ja, die Luft des Rechtbehaltenmüssens zu atmen und umzurühren, doch gerade bei ihnen schnauft es von Beweis und Not und Gewicht. Man bringt es nicht fertig, sich von ihnen irgendwohin gezwungen zu fühlen, weshalb ein Kunstgeruch schon am Lehrling, dem Interessierten, zu kleben scheint, der ihnen ungezwungen naht mit der bekannten Zwangsmiene.

2 Der Zweifelstüchtige

Sobald einer den Zweifelstüchtigen um die Ecke biegen sieht, nimmt alles Reißaus, denn kommt er auch in gemächlichem Schritt, so fürchtet man doch das Rasende seiner Zweifel. Der Zweifelstüchtige weiß um diese Wirkungen, er kennt es von klein auf nicht anders. Behütet war seine Kindheit, versorgt waren seine Tage von Anbeginn, doch drängten sich vielleicht zu viele Verwandte um ihn an den Weihnachts- und Namenstagen mit ihren Geschenken. Da konnte es schon einmal geschehen, dass er auf die Frage, wie ihm dies und das gefalle, zur Antwort gab: „Wie meinst du das?“ oder „Ist das dein Ernst?“ Die Verunsicherung war dann groß, sie wuchs mit den Jahren des Zweifelstüchtigen. Er stammt ja aus einer der tüchtigsten, einer der ältesten Familien des kleinen Landes, um das sich nur freundliche Nachbarn drängen, wie könnte man sich so vieler Freundlichkeit versichern, wenn nicht durch gelegentlichen Zweifel?
Irgendwann entdeckte er, dass dies Zweifeln etwas Philosophisches habe, wenn man es in den Rang einer Marotte erhob und sich nach ihr benannte. Seitdem nennt er sich selbst einen bekennenden Zweifler. Sein Behagen an der Skepsis ist grenzenlos, irgendwann teilt er seine Kunst in Lehrbüchern mit. Bei all dem ist der Zweifelstüchtige nichts weniger als aufdringlich. Er ist also nicht jener unvermeidliche Vortragsgast in der letzten Reihe, der vom Thema nichts versteht, aber von einem anderen umso mehr, wovon jetzt bitte schön, in gebotener Kürze selbstverständlich, einmal das Nötigste zu sagen wäre – der Zweifelstüchtige verachtet alles Spezialistische, er ist und bleibt Philosoph. Nur das Ganze, was immer es sei, zieht er in Betracht, im Übrigen lächelt er still in sich hinein. Sein Zweifel ist kultiviert, hat Methode, lässt nichts aus – „Lächle ich jetzt still in mich hinein?“ –, über derlei Fragen sammelte sich beim Zweifelstüchtigen eine ungewöhnlich hohe Zahl von Gewissheiten. Wenn er spricht, weiß er, wie er tönt, wenn er schreibt, weiß er, wie er wirkt – „etwas verschmitzt doch wohl“ und immer mit einem „fragenden Lächeln“.
Am liebsten wäre der Zweifelstüchtige eine Frau geworden, der man ununterbrochen Komplimente macht, die hätte er dann von morgens bis abends geprüft. Genauer: „strengster Prüfung unterzogen“ beziehungsweise „schonungslos hinterfragt“. In seiner Unschuld ist er übrigens schon vielen Frauen, mit starken Armen und kräftigen Meinungen über ihn, zur Beute geworden und zur Bruchware, auf seine Visitenkarten ließ er drucken: Leon S. Winter. Philosophischer Abbruchunternehmer.
Der Zweifelstüchtige ist von bezwingender, dreifältiger Zutraulichkeit: er glaubt von Wahrheiten umzingelt zu sein, er glaubt, die Wahrheiten lohnten die Mühe der Zersetzung, er glaubt an die Zersetzungskraft seiner täglich frisierten Zweifel. Man kann ihm nichts vormachen, er hat alles durchschaut – umso gründlicher, als er nie an was Lebendigem, was Mächtigem beziehungsweise Gegenmächtigem zweifeln würde, das verbieten ihm Sportsgeist und Handwerksehre.
Am vergangenen Gedanken zweifelt er viel besser, an allem, was abgetan ist – da entfällt die Erregung der Gegenwart, da lässt sich gemütvoll wägen und werten. Als Gymnasiast hat er begonnen mit den Zeitgenossen des Sokrates, „da gab es manches anzumerken“, als Gymnasiallehrer von 30 Jahren ist er bis ins 19. Jahrhundert gedrungen, „hier darf doch wohl kritisch gefragt werden“, und täglich entdeckt er von neuem, was über keinen Zweifel erhaben sein kann (Hegel! Marxismus! Kirchenglaube! Geschichtsphilosophie!); kaum noch zwei Jahrhunderte entfernt vom Zweifelstüchtigen, zittern seine Zeitgenossen 2006.

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