Robert Zimmer
Die Philosophen und ihre großen Bücher



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Die Philosophen und ihre großen Bücher

 




Einführung
Bücher und „große“ Bücher.
Warum die Philosophie Leser braucht


Müssen Philosophen eigentlich immer Bücher schreiben? Und dazu noch oft dicke und schwer verständliche Wälzer, bei denen man sich die Zähne ausbeißt und die nur Fachleuten zugänglich sind? Nicht unbedingt. Es geht nämlich auch ohne. In der Geschichte der Philosophie begegnen uns einige Denker, die nie eine Zeile hinterlassen haben und auch nie die Absicht hatten, ein Werk zu schreiben. Schon die Antike bietet uns dafür einige sehr prominente Beispiele. Man denke zum Beispiel an „Diogenes in der Tonne“. Gemeint ist der griechische Philosoph Diogenes aus der kleinasiatischen Stadt Sinope, der später nach Athen zog und sich der Schule der Kyniker anschloss. Die Kyniker waren eine von vielen Philosophenschulen, aber sie hatten doch eine Besonderheit: Sie hatten eine große Abneigung gegen „Theorie“ und legten den Akzent ganz auf die Lebenspraxis. Diogenes war der vielleicht radikalste unter ihnen, denn er lehnte nicht nur jede theoretische Auseinandersetzung, sondern auch jegliche Form der schriftlichen Erörterung ab. Er wollte das, was er dachte, durch seine Lebensführung „darstellen“. Das Leben selbst war für die Kyniker die Bühne, auf der philosophische Fragen zur Entscheidung kamen. Die Lebensführung der Kyniker war asketisch und zuweilen provokativ gegen die Moral- und Lebensvorstellungen der Zeitgenossen gerichtet. Dass Diogenes, wie mitunter kolportiert wird, in einer „Tonne“ – also vermutlich in einem Fass – geschlafen oder „gewohnt“ hat, ist nur ein Beispiel dafür.
Diogenes stand durchaus in einer Tradition philosophischer „Lebenskünstler“. Er war ein Schüler des Philosophen Antisthenes und dieser wiederum hatte sein philosophisches Handwerk bei dem berühmtesten aller nicht-schreibenden Philosophen gelernt: Sokrates nämlich, von dem jeder schon gehört, von dem aber noch niemand etwas gelesen hat. Sokrates ist sicher der berühmteste unter den Philosophen, die kein Werk hinterlassen haben. Im Gegensatz zu Diogenes war er aber kein sozialer Außenseiter und auch kein Provokateur. Er stand vielmehr mitten im normalen Leben: Er war wie sein Vater ein ausgebildeter Steinmetz und diente im Peloponnesischen Krieg als Soldat, wobei er sich durch außergewöhnliche Tapferkeit auszeichnete. In seinen späteren Lebensjahren verbrachte er die meiste Zeit damit, auf den Plätzen Athens Schüler um sich zu versammeln und mit ihnen Grundfragen der philosophischen Ethik zu diskutieren. Bekanntlich wurde Sokrates aufgrund des Vorwurfs, er habe die Jugend ideologisch verführt, zum Tode durch den Giftbecher verurteilt. Der wahre Grund ist aber wohl der, dass Sokrates zu eng mit den sogenannten „Dreißig Tyrannen“ verbunden war, die Athen nach dem Peloponnesischen Krieg beherrschten. Als die Tyrannen durch die Wiederherstellung der athenischen Demokratie gestürzt wurden, hatte Sokrates bei den neuen Machthabern sehr schlechte Karten.
Sokrates wirkte durch seine Art des Lehrens und durch seine Persönlichkeit. Er war als Rollenmodell des „Weisen“ Vorbild für die Denker der gesamten Antike und fast alle Philosophenschulen beriefen sich auf ihn. Er ist das prominenteste Beispiel dafür, dass es eine gelebte Philosophie gibt, die ganz auf Bücher verzichtet. Warum also nicht philosophieren und Philosophie leben wie Sokrates? Warum sich also noch mit schwer verdaulichen Büchern befassen?
Natürlich muss man nicht durch die philosophischen Bibliotheken surfen, wenn man Philosophie betreiben will. Aber die Lektüre philosophischer Bücher macht vieles leichter und erspart viele Umwege. In der Welt des 21. Jahrhunderts finden wir nur noch selten philosophische Gurus, die uns auf öffentlichen Plätzen mit philosophischen Themen konfrontieren. Und unsere Lebensformen erlauben es uns auch nicht mehr, uns von sozialen und praktischen Verpflichtungen zu lösen, um uns einem philosophischen Meister anzuschließen.
Bücher dagegen können uns überallhin begleiten. Auch in der digitalisierten Welt wenden wir uns natürlicherweise an Texte, wenn wir uns informieren oder mit einem Thema beschäftigen wollen. Und auch von Diogenes oder Sokrates wüssten wir nichts, wenn Zeitgenossen und nachfolgende Generationen nicht etwas über sie aufgeschrieben hätten. Sokrates zum Beispiel verdankt seine Wirkung und seinen Ruhm der Tatsache, dass der Komödiendichter Aristophanes, der Historiker Xenophon und vor allen der Philosoph Platon über ihn berichtet haben. Vor allem Platon hat sich so sehr mit Sokrates identifiziert, dass er ihn in all seinen Werken auftreten lässt.
Wir sind also froh, dass wir etwas über Sokrates und Diogenes lesen können. Nicht nur das: Der weitaus größte Teil der philosophischen Tradition, in der uns das Erbe der wichtigsten Denker überliefert ist, ist eine Tradition der Schriftlichkeit. Die Philosophie braucht Leser, um sich zu verbreiten und öffentliche Wirksamkeit zu entfalten. Wenn wir tiefer in die Philosophie einsteigen wollen, sind es vor allem die Bücher, die uns helfen, uns in der Welt der Philosophie zu orientieren.

Was dem Leser hier angeboten wird, ist eine Auswahl philosophischer Amuse-Gueules, die das große philosophische Menu eröffnen und dem philosophisch Interessierten die Wahl des Hauptgerichts, die Lektüre der Originalwerke, erleichtern sollen. Willkommen also beim Aperitif im Haus der großen Bücher!


Die Geburt der ersten Philosophie
Aristoteles: Metaphysik


Wo finden wir die erste Philosophie? Bei den Griechen, oder vielleicht noch früher, in den orientalischen Hochkulturen oder in den Weisheitslehren Indiens und Chinas? Oder meinen wir mit „erster“ gar keinen zeitlichen Vorrang?
Die Antwort, die Philosophen geben würden, wäre vermutlich: Die erste Philosophie finden wir überall dort, wo die philosophischen Grundfragen gestellt werden, wo es um jene letzten Wahrheiten geht, auf denen alle anderen Einsichten aufbauen. Diese erste Philosophie hat in der Tat nichts mit einer zeitlichen Reihenfolge zu tun, sondern mit einem Vorrang in der Sache. Dem griechischen Philosophen Aristoteles verdanken wir das Verständnis von „erster Philosophie“, das unter Fachleuten bis heute geläufig ist. Aristoteles war derjenige, der zum ersten Mal das Knäuel philosophischer Fragen und Probleme aufgedröselt und in eine Ordnung gebracht hat. Auf ihn geht es zurück, wenn wir heute zwischen Ethik, politischer Philosophie, Logik, Naturphilosophie und anderen philosophischen Disziplinen unterscheiden. Als wichtigste und grundlegendste aller philosophischen Disziplinen sah er aber jene an, die er „Erste Philosophie“ nannte. In ihr geht es um die Grundprinzipien und den Bauplan dessen, was wir „Welt“ oder „Wirklichkeit“ nennen. Ihre Geburt erlebt diese, in den Lehrbüchern häufig groß geschriebene „Erste Philosophie“, in jenem ungeheuer einflussreichen Werk des Aristoteles, das den Titel Metaphysik trägt und dessen Teile zwischen 367 und 322 v.Chr. entstanden sind. „Metaphysik“ war schließlich auch der Name, unter dem die „Erste Philosophie“ zur Königsdisziplin der Philosophie wurde.
Aristoteles nimmt sich den allgemeinsten Begriff der Philosophie, den Begriff „Sein“ vor, und will klären, was wir überhaupt meinen, wenn wir davon sprechen, dass etwas so oder so „ist“. Es gibt nämlich, so Aristoteles, sehr verschiedene Arten zu „sein“ und es kommt darauf an, die wichtigsten und wesentlichen Arten des Seins zu unterscheiden. Dies ermöglicht es uns, einen Blick auf die Tiefenstruktur der Wirklichkeit zu werfen. Denn diese wird, so Aristoteles, von einem obersten Prinzip in Bewegung gehalten, das er „Gott“ nennt. Er bezeichnet damit eine Wesenheit, die, in seinen eigenen Worten, „Leben und Ewigkeit“ zugleich ist und die höchste Form der Wirklichkeit verkörpert. Auf diesen Gott führt alles zu, wenn wir die letzten Gründe des „Seins“ erkunden. Die Metaphysik des Aristoteles zeichnet auf dieser Grundlage einen Bauplan unserer Wirklichkeit, über den sich viele Jahrhunderte lang Vertreter der westlichen Philosophie gebeugt haben.