Markus Vinzent
Nicht alle Tage



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Nicht alle Tage

 




Wenn nichts mehr geht

Irgendwann musste er des Nachts am Hotel angekommen sein. Ein Blick auf sein Handy zeigte keine Nachricht, keine E-Mail. Von Feeny kein Wort. Aber sie lebte noch, sonst wäre er informiert worden. Der Portier hatte gemeint, sie hätten das Zimmer seinem Wunsch gemäß drei Tage verlängern können.
Nach Frühstück war es ihm noch nicht. Er trat auf die Straße, und fahndete nach dem Roller, ohne an Anika zu denken. Es war ihm völlig entfallen, dass sie sich auf den Weg nach Berlin gemacht hatte. Die Kinder erwartete er erst während des Tages.
Er sah keinen Roller. Ob er in der Nacht ins Hotel gelaufen war? Er meinte, sich dunkel daran erinnern zu können, dass er nicht im Bus, sondern auf einem Roller von der Klinik zum Hotel gekommen war. Doch es war kein Roller in Sicht. Vielleicht hatte ihn schon ein Frühaufsteher genutzt. Hatte er noch den Akku unterwegs gewechselt? René schaute auf seine App und war freudig überrascht, dass ihm die Minuten wegen des Akkuwechsels gutgeschrieben waren. Die Nacht schien nicht so düster gewesen zu sein, wie er sie in Erinnerung hatte. Nachts sind alle Katzen grau, sie sind auch keine Katzen, sie mutieren zu Raubtieren.
René stieg in den nächsten Bus, der zur Klinik fuhr. Allerdings wollte er auf halbem Weg aussteigen und Feeny einen Strauß Blumen besorgen – sie liebte Blumen. Ob er solche wegen ihrer Sepsis in ihr Zimmer bringen dürfe?
„Egal“, dachte er, „wenn sie die Blumen nicht auf ihrem Zimmer haben darf, zeige ich sie ihr und stelle sie in den Aufenthaltsraum der Station.“
An einer Ecke, bei der nach Google Maps ein Blumenverkaufsstand sein sollte, stieg er aus, erblickte den eher improvisiert wirkenden Verkaufsstand, der wie ein aufgelassener Wohnwagen aussah. Geschmückt war er mit frisch geschnittenen Tulpen, die er zu dieser winterlichen Jahreszeit eher nicht erwartet hätte. René bat die burschikose Verkäuferin, ihm einen Frühlingsgruß zusammenzustellen.
„Wissen Sie“, meinte sie, „für uns ist der Winter bereits vorbei – ist der Strauß für Ihre Frau?“
René gab ihr zu verstehen, dass sie richtig getippt hatte.
„Viele, die hier Blumen kaufen, bringen die Sträuße in die Klinik. Wie geht es Ihrer Frau? Ich frage nur, um die richtigen Farben auszusuchen.“
„Sie braucht eine Mischung – ernste Farben und solche, die Mut machen. Aber nicht nur solche.“
„Sie sind ein aufmerksamer Mann.“
„Blumen sind wie Melodien, sie führen nicht diejenigen, die sie wahrnehmen, sondern locken heraus, was in uns ist. Meine Frau ist schwer krank, aber sie hat noch nicht aufgegeben. Ich will, dass sie beides spürt, wie ich mit ihr Angst habe und dass ich mit ihr kämpfe.“
Die Verkäuferin drehte sich um und besorgte aus dem rückwärts gelegenen Lager einige Schnittblumen, die sie mit Grünzeug mischte, dazu violette Farben, auch ein paar zitronengelbe – mit Kunstfertigkeit fügte sie das Gebinde und überreichte es René. Der roch an ihm, zahlte und merkte, dass er an seiner eigenen Zuversicht zu arbeiten hatte, bevor er an Feenys Bett treten könne. Den Strauß in seiner Hand lauschte er nach den Melodien der Farben. Geigenmusik hörte er, bizarre, synkopierte Noten, einen Filmtrailer, eine Mischung zwischen New York, Gipsy und Rap, er dachte an „August Rush“.
Der Verkehr, das Gedränge im Bus, Menschen, die zur Arbeit huschten, Jugendliche, die Schulaufgaben machten, Sekretärinnen, die trotz Gehoppel ruhig und präzise Lippenstift und Makeup auftrugen. Er mit dem Blumenstrauß dazwischen, die Klänge im Ohr. Viel Zeit bleibt nicht, bis zum Arbeitsplatz, zur Schule, zum Büro. Ob die Ärzte und das Krankenhauspersonal ihre Vorbereitungen auf den letzten Drücker machen müssen? In der Eröffnungsstory des Eierstockkrebs-Spezialisten Sehouli „Von der Kunst, schlechte Nachrichten gut zu überbringen“ wird die diensthabende Ärztin so beschrieben: gehetzt unterwegs zum Gespräch mit ihrer Patientin.
Auch in der Klinik sind die Verantwortlichen einem enormen Druck ausgesetzt. Wann immer sie im Besprechungszimmer von Prof. Choukri saßen – oft nach stundenlangem Warten – war klar, wie kostbar und eng bemessen seine Zeit war. Sie hatten Platz genommen, doch dann trat eine Verlangsamung der Zeit ein. Schlechte Nachrichten gut zu überbringen braucht Raum und Zeit. Braucht Takt und Pause. Stille und Zuhören. Prof. Choukri nahm sich Zeit, hatte Zeit. Saß oft stumm, hörte, schwieg, überlegte. Fragte, hörte wieder, achtete, spürte, saß, saß mit ihnen. Die wichtigste Botschaft, die er überbrachte, kam wortlos.
Nicht anders die Ärzte, das Krankenhauspersonal. Warten, das war das Zauberwort – Zeit das andere. Raum ein anderes. René erfuhr, dass die Zeit, die im Alltag abgekürzt zu werden schien, verknappt durch Medien, die deren Verlängerung versprachen, durch Kalender, Apps, Zeitsparmethoden, Planer, im Krankenhaus gedehnt, oft bis ins Unerträgliche und Unbegreifliche hinein gedehnt wurde. Er schaute auf seinen elektronischen Kalender – und erschrak.
„Verdammt! Ich habe Anika vergessen – wo sie ist?“
Die Blumen in der Hand wählte er ihre Nummer, und schon meldete sich eine liebenswerte Stimme: „Ich sitze gerade in deinem Hotel beim Frühstück, bist du schon unterwegs?“



Zwischenstation Kroatien

Sie standen sich gegenüber. Froh, zugleich vorsichtig, beide entschlusslos, wie sie aufeinander reagieren sollten.
„Komm rein, kann ich dir mit dem Gepäck helfen“, sagte Feeny unsicher. Ob sie ihn umarmen sollte? Dieselbe Frage hatte er sich gestellt. Feeny brach die Spannung.
„Ich habe dich so vermisst – und hatte auch Angst um dich, dass du die lange Fahrt allein hinter dich bringen musst. Ich hab schon im Kühlschrank ein Getränk für uns vorbereitet. Entschuldige, wenn ich gerade etwas zurückhaltend war, aber der Gedanke, dich nicht zu haben, war schrecklich, und der Gedanke, dich loslassen zu müssen, ist noch viel schrecklicher, der schrecklichste, der mich plagt, abends, nachts, am Morgen. Aber jetzt bist du da.“
René nahm sie in den Arm, streichelte durch ihre immer noch recht kurzen Haare, an ihren Seiten entlang, drückte ihre Hüfte an die seine, gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Du bist mir so nahe, du könntest mir nicht näher sein – auch wenn du nicht da bist. Ich sehe dich, spüre dich – noch kurz vor meiner Ankunft hier war ich sicher, dass ich dich am Straßenrand stehen sah. Ich hielt an, nahm dich mit – du bist bei mir, auch wenn du nicht bei mir bist.“
Feeny holte den Aperitif aus dem Kühlschrank, zwei Gläser, die wie Aperol Spritz aussahen, mit Orangenschnitten darin.
„Erzähl mir, wie die Fahrt war.“
„Ich kam gut durch, besser, als ich dachte – und als ich die Küstenstraße entlangfuhr, dachte ich, die sollten wir miteinander besuchen, ich bin an romantischen Winkeln vorbeigekommen, auch dem einen oder anderen Fischrestaurant, an Orten, an denen ich gern gehalten hätte und die dir gewiss gefallen würden. Vielleicht können wir eines davon aufsuchen, auf dem Rückweg.“
„Lass uns sehen – vielleicht. Aber erst bist du hier, und ich freue mich schon darauf, morgen nicht allein am Tisch sitzen zu müssen, sondern mit dir gemeinsam die Aussicht zu genießen. Ich hab auch schon eingekauft, so dass ich dir ein schönes Frühstück bereiten kann – und du kannst ein bisschen länger schlafen, du wirst sicher müde von der langen Fahrt sein.“
„So lange habe ich sie gar nicht empfunden – dafür war das Ziel zu attraktiv für mich.“
Er traute sich, sich ihr etwas zu nähern, ihr nochmals einen Kuss zu geben. Tatsächlich zuckte sie dieses Mal nicht zurück, wandte gar ihren Mund zu dem seinen, und sie gaben sich einen kurzen Kuss auf die Lippen. „Gut, dass du schon angekommen bist – ich habe, wie ich dir am Telefon erzählte, in dem Restaurant am Strand einen Tisch bestellt. Am besten, wir brechen auf, dass wir nicht zu spät dort eintreffen.“
René war einverstanden, außerdem hatte er Hunger, nicht erst nach dem Aperitif. Außerdem freute er sich auf das Restaurant. Nachts war es weniger spektakulär als am Nachmittag und insbesondere beim Sonnenuntergang, aber als Spezialität erwartete sie auf dem Holzgrill geröstete, frisch gefangene Fische, die mit Salaten und Grillgemüse gereicht wurden. Als Vorspeise würde er noch eine Portion Cevapcici schaffen, von denen Feeny gewiss auch die eine oder andere probieren würde.
Der Weg führte sie am Strand entlang, über Felsen, dazwischen angelegte, betonierte Wegstücke, dann ging es über Kieselsteine, wieder über Felsen, zum Schluss noch ein paar Meter an Ferienhäusern entlang über die zwischen Meer und diesen gelegene Zufahrtstrasse. Das Restaurant war gut besucht, bis auf den reservierten Tisch, auf den Feeny zusteuerte, waren alle Plätze besetzt.
Sie saßen sich gegenüber. Feeny wirkte müde – so dachte Feeny auch von René. Doch als sie ins Gespräch gekommen waren, was beiden nicht schwerfiel, änderte sich ihr gegenseitiger Eindruck. Feeny kicherte gar, als René nochmals die Chimäre seiner Anhalterin erzählte, auch die Erinnerung an ihre Fensterputzaktion. Wie wahr Renés Erinnerung war, dachte sie, und wie glücklich sie war, dass sie zueinander gefunden hatten. Zwischendurch verfielen sie in eine Retrospektion, die sie nachdenklich, dann sogar traurig stimmte. In diesem Augenblick kam der nach Holzkohle duftende Fisch, der ihren Spirit wieder hob und ihnen verdeutlichte, wie wichtig der Abend war – den ersten seit mehreren Tagen –, den sie miteinander verbringen konnten, seit längerem erstmals auch wieder zu zweit. Der Fisch war zart, nicht überbraten, schmackhaft und zusammen mit dem Gemüse und Salat ganz nach Feenys Geschmack. Auch René liebte Fisch, speziell, wenn er wie hier rustikal gemacht war. Dazu kam, ohne Aufforderung, für beide ein Slivovitz, der die Stimmung weiter aufheiterte. Beide strengten sich sichtlich an, gemeinsam einen guten Abend miteinander verbringen zu können, und das trotz des Paradoxes, dass die gefühlte größere Nähe ein mulmiges Gefühl auslöste und begleitete. Aber an diesem Abend gelang es mit jedem Bissen, mit jedem Schluck und mit jedem Dialog besser, dieses Unwohlsein zu überwinden.
„Darf ich mich zu dir, auf deine Tischseite setzen?“, fragte Feeny.



Der Mann gab ihm einen freundschaftlichen Klaps und René marschierte los.
An der Krankenhauskapelle vorbei betrat er das Klinikgebäude, ging durch den Patientengang, bis er zur gynäkologischen Onkologie gelangt war. Dort erinnerte er sich, dass er ohne Überlegung und aus Gewohnheit zu diesem Gebäudeteil gegangen war, jedoch stattdessen sich zur Intensivstation begeben müsse. Im Aufzug gelangte er zur Intensivstation, läutete, um eingelassen zu werden und musste, wie erwartet, sich einige Zeit gedulden. Dann aber öffnete eine Schwester, führte ihn zum Umkleideraum, gab ihm einen sterilen Kit, den er von Kopf bis über die Schuhe anlegte und wurde zu Feenys Bett geführt. Sie lag da, die Augen weit geöffnet, ihr Bauch war mit einem sterilen Tuch überdeckt und die Schwester erklärte ihm, dass er ihre Hand halten dürfe, ihr auch einen Kuss geben könne, aber sehr vorsichtig sein müsse, wenn es um den unteren Körper ginge, weil die Naht ihres Bauches noch nicht verschlossen sei. Aber es ginge ihr den Umständen entsprechend gut und sie mache Fortschritte. Die Ärzte hätten sogar in Aussicht gestellt, dass sie den Bauch entweder am Abend schon verschließen könnten, spätestens aber am nächsten Morgen. Auf jeden Fall war geplant, sie am nächsten Tag auf Station zurückzuverlegen, wenn sie sich weiter so entwickeln würde.
Feeny, die die Einführung mit gehört hatte, versuchte, so gut sie konnte, René anzulächeln. Noch konnte sie nicht recht sprechen, weil sie an vielen Schläuchen hing.
Um ihr diesen Druck zu nehmen, streichelte René sie, küsste sie kurz auf den Mund, benetzte ihre Stirn mit einem der feuchten Tücher, die an ihrem Kopfende standen und strich ihr zärtlich über ihre Haut. Sie reagierte auf ihn und versuchte, so gut sie konnte, mit ihren Fingern ihm ihre Zärtlichkeit zurückzugeben.
Als er sie fragte, ob er ihr ein wenig von seinem Vortag erzählen solle, nickte sie gierig, er setzte sich zu ihr und erzählte unter Auslassung mancher Details von dem, was er erlebt hatte. Sie freute sich, wie er ihren Gesichtszügen entnahm, dass er Dinge unternahm, die sie mehr noch als er geliebt hatte – angefangen vom türkischen Frühstück. Als er ihr schließlich erzählte, dass am nächsten Tag Anika sie besuchen wolle, weil es ihr letzter Tag in Berlin sei und er am Tag darauf sie wieder besuchen käme, stimmte sie lächelnd zu.
Er merkte, dass Feeny sein Erzählen ermüdete.
„Feeny, ich mache Pause mit dem Erzählen, dass du ein wenig Schlafen kannst, aber ich bleibe noch bei dir hier.“
Es dauerte nicht lange und sie atmete ruhig, ihr Brustkorb hob und senkte sich sanft.
Seine Blicke wanderten von Monitor zu Monitor. Er sah die Kurven, in welchen die Gehirnströme gemessen wurden, ein anderer Monitor stellte die Herzbewegungen dar. Wie gebannt sah er auf die Gleichmäßigkeit dieser meditativen Wellen. Verbunden mit dem Blick war die besorgte Vorstellung, wie es sein würde, wenn diese Kurven nur mehr eine flache Linie zeigen würden. Über dieser Angst, während er ihre Hand in der seinen hielt und sie die seine in ihrer, nickte auch er ein.
Irgendwann später, beide waren zwischen Träumen und Wachsein, näherte sich die Intensivschwester und bat ihn, die Patientin zu verlassen, die Ärzte würden sie untersuchen wollen, um gegebenenfalls ihren Bauch zu schließen. Er gab der Schwester zu verstehen, dass am nächsten Morgen eine nahe Familienfreundin seine Frau besuchen werde. Die Schwester zeigte ihm an, dass sie verstanden hatte, verbunden mit einem lieben Hinweis, er solle sich etwas erholen und nach sich schauen.
Der Weg aus der Intensivstation und der Klinik war ihm an diesem Spätnachmittag leichter – er hatte zumindest den Eindruck, dass Feeny sich etwas erholt habe, genährt aus der Perspektive, dass die Ärzte sie am nächsten Tag auf die Normalstation verlegen wollten. Unterwegs vom Bus aus telefonierte er mit beiden Kindern und berichtete ihnen vom kleinen Fortschritt, den ihre Mama an diesem Tag gemacht habe.