Nicht alle Tage |
Leseprobe
Nicht alle Tage nennet die schönsten der,
Der sich zurücksehnt unter die Freuden, wo
Ihn Freunde liebten, wo die Menschen
Über dem Jüngling mit Gunst verweilten.
Friedrich Hölderlin
Anika und Feeny
Anika schaute in ihren Kalender, Freitag, 12. Februar 1988 – den Nachmittag in München hatte sie sich freigehalten, Meetings standen keine an, keine Treffen mit Studierenden. Das Einzige, was sie sich für diesen Tag eingetragen hatte, war der Besuch bei der Modekünstlerin Feeny Achner in der Sendlinger Vorstadt. Sie hatte Feeny kontaktiert, weil sie Fotos von ihr als Model gesehen hatte. Feeny meinte am Telefon, sie habe einige neuere Werke in ihrem Studio hängen und Anika eingeladen, sie zu betrachten. Anika plante eine Ausstellung, bei der nicht nur die Fotografen, sondern auch die Models im Mittelpunkt stehen sollten.
Die Fotos hingen im Flur und in den beiden Räumen des Salons, meist Schwarz-Weiß-Akte von Feeny. Von Bild zu Bild erklärte Feeny die Posen, was diese für sie bedeuteten, und war gespannt, von Anika zu erfahren, wie eine Kunsthistorikerin die Werke betrachtete und erläuterte. Anika hatte Mühe, sich zu entscheiden, wohin sie schauen sollte, auf das Model in den Fotos oder auf die Erscheinung, die neben ihr in einem weiten, hauchdünnen und durchsichtigen Oberteil stand, das ihr knapp über die Hüfte reichte.
„Sieh, hier eine Studie mit einem Voilekleidchen, das ich entworfen und genäht habe und heute für dich trage, es wurde für Katalogaufnahmen abgelichtet!“ Das von ihr benutzte Du klang nicht nach Anbiederung, schien ernst gemeint, und Anika ließ sich darauf ein.
Feeny zeigte auf Kleid und Körper, drehte sich um und ging durch den Flur wie ein Model auf dem Catwalk. Anika verfolgte ihren Gang. Feeny setzte mit langen Schritten, gleichmäßig und fließend Fuß vor Fuß, bewegte sich entlang einer unsichtbaren Linie, überquerte diese leicht. Ihre Arme schwangen locker, natürlich, eher unmerklich. Nach einer Pose kehrte sie um, schritt auf Anika zu und schaute ihr geradewegs entgegen, auffordernd und entwaffnend zugleich. Anika wusste nicht, wie ihr geschah. Selbstbewusst kam Feeny auf sie zu, drückte sie an sich und fragte: „Darf ich Dir auch meinen Massageraum zeigen und dich verwöhnen? Ich lebe nicht nur von meinen Stoffen, Kleidern und den Bildern.“
„Welche Art Massagen bietest du an?“
„Medizinische, aber auch sinnlich-erotische, body-to-body, und, wenn du willst mit happy ending. Hast du schon die Erfahrung einer Tantramassage gemacht?“
Bevor Anika antworten konnte, führte Feeny sie in eine Umkleide und verschwand in einem Nebenraum, um sich vorzubereiten. Anika atmete durch, ihr blitzte kurz die Frage auf, ob es o.k. sei, sich auf Feenys Einladung einzulassen. Warum nicht, dachte sie dann, sie würde nicht nur Feeny als Modekünstlerin engagieren, sondern in ihrer ganzen Person – und eine Massage, Zeit für sich zu haben, ja warum nicht, dachte sie. Noch etwas unsicher, entkleidete sie sich, duschte und legte sich auf die bereitstehende breite Massagematratze.
Feeny trat zu ihr, strich mit ihren zarten Händen über ihren Rücken, um sich mit einem festen Griff in die ausgeprägten Schultermuskeln ihrer Klientin zu graben. Mit kräftigen Kreisbewegungen massierte sie diese hin zum Hals und vom Hals zurück zu ihrer Schulter. Anika stöhnte leicht, Feeny stretchte Haut und Muskeln, knetete sie mit beiden Fäusten entlang des Rückgrates, schob das lange, blonde Haar von Anika zur Seite, grub sich tiefer in ihren Körper ein. Anika spürte jede einzelne ihrer Wirbel. Feenys Finger tasteten, arbeiteten sich durch die dazwischenliegenden Hügel in die Tiefen, sie schienen durch die Haut hindurch bis in ihr Innerstes zu dringen und versetzten Anika in Trance, ihr wurde heiß und kalt, als sie meinte, Feenys Brustspitzen spüren zu können, die ihren Rücken rhythmisch streiften.
Während Feeny Anika mit ihren Händen und Fingern walkte, erzählte sie von ihren Erlebnissen aus der vergangenen Woche, von den Schwierigkeiten, ihren Massagesalon als Alleinunternehmerin zu erhalten. Anika versuchte sich zu konzentrieren, ihr zu lauschen. Feeny berichtete, dass sie Tage zuvor beim Brötchenholen an der Straßenkreuzung gegenüber der Bäckerei eine dunkle Gestalt stehen sah, von der sie sich beobachtet fühlte. Kaum sei sie mit der Brötchentüte in der Hand auf ihrem Heimweg gewesen, habe sie bemerkt, dass ihr eine stämmige Person zu folgen begann.
„Unaufhaltsam beschleunigte sich mein Schritt, aus einem entspannten Gehen wurde ein Wettlauf, doch der Mann blieb mir auf den Fersen. Hätte ich doch nur Hassia, den Schäferhund meiner Nachbarin, mitgenommen, den ich sonst die Woche ausführe“, sagte sie.
Völlig außer Atem habe sie ihre Haustür erreicht, von der mysteriösen Gestalt in ihrem Schatten keine Spur.
…
Im Paradies angekommen
Es war das erste Mal, dass sie mit Bruno in sein heimatliches Saarland gefahren war. Bruno hatte ihr von seinem Jugendparadies geschwärmt. Nicht von der Familie, jedoch von diesem außergewöhnlichen Fleck auf Erden, wo sich Himmel und Hölle küssen, Wein und Speisen zusammenkommen, wo Frankreich nicht mehr als ein paar Schritte weit weg ist, und die Großeltern und Eltern nicht nur Alkohol und Zigaretten oder Zigarren schmuggeln konnten, sondern man auch jetzt noch in wenigen Minuten die unvorstellbare Theke an Käse- und Weinauswahl vor sich hat, zu Preisen, die günstiger als diesseits der Grenze sind. Dazu Delikatessen, die es im regulierten Deutschland gar nicht zu erwerben gibt: Froschschenkel verschiedener Art, Farbe und Größe, Schnecken, ob lebendig, in Knoblauch eingelegt oder überbacken. Mindestens fünfzehn verschiedene Austernarten, entlang der französischen, holländischen, dänischen und englischen Küste. Und nochmals Käse. Er kam aus dem Schwärmen nicht mehr heraus. Dann erzählte er von der Flussnähe, die Saar, natürlich, die Blies und im Norden die Nahe, die im Saarland entspringt, die Weinberge, die nicht weit von der Saarschleife in Perl liegen, die kleinen Winzerkneipen. Anika konnte sich dieses Traumland kaum vorstellen und war voller Erwartung.
Doch zunächst fuhren sie mit ihrem Leihwagen durch Rheinland-Pfalz, die Mosel entlang – schon hier barg jede Straßenwindung etwas Unerwartetes, ob Burgen auf steilen Landrücken, die dramatisch in das Moseltal hinabragten, ob grüne Wiesenfluchten den Fluss entlang. In Bernkastel-Kues bog Bruno ab und folgte einem kleinen Schild mit der Aufschrift: Cusanus Stift. Was sich dahinter verbarg? Sie gelangten in ein mittelalterliches Gebäude, das einem Kloster ähnelte. Bruno erklärte ihr, dass es das älteste oder eines der ältesten Alters- und Pflegeheime zumindest Deutschlands war, von einem Kardinal Nikolaus von Kues im 15. Jahrhundert gestiftet und seither ununterbrochen betrieben und finanziert von den Weinbergen, die der Kardinal dieser Institution bei seinem Tod vermacht hatte. Nachdem er vorher Bischof im saarländischen St. Wendel, zuletzt Bischof im norditalienischen Brixen gewesen sei, habe er sein Herz hier in der Kapelle dieses Altersstifts beerdigen lassen.
Das Kostbarste des Stifts eröffnete ihr Bruno aber erst, als sie an Ort und Stelle schwelgerisch in der Sonne einen Cappuccino in der Stube des Altersstifts tranken. Er erzählte ihr, dass er bereits als Student einmal hier war, zusammen mit seinem Doktorvater. Sie hatten nämlich die außergewöhnliche Bibliothek besucht. Es ist eine der wenigen Privatbibliotheken aus dem 15. Jahrhundert, die fast komplett erhalten ist. Der Kardinal, ein Handschriftenliebhaber, hatte sie zusammengebracht und mit den Weinbergen dem Stift in seinem Testament überschrieben. Forschenden sei sie heute noch offen und gäbe einen Einblick in Leben und Denken jener Zeit. Selbst Anika begann das Herz zu schlagen, so empfand sie das Hochgefühl, das Bruno ausstrahlte.
Tatsächlich hätte sich Anika keine solch vornehme Bibliothek vorstellen können. Holzvertäfelt, rundherum große Buchrücken, es schwebte ein Geruch von Geschichte und Weisheit in den Hallen, ein wenig auch von Staub und Moder.
Zurück im Auto dauerte es nicht lange, dann erreichten sie die Saar, und schienen von einem Wunderflecken zum nächsten zu fahren. Dass sie in den Landkreis Saarlouis gekommen waren, ließ sich, wie Bruno erklärte, an den künstlich errichteten, grauen Hügeln erkennen, dies seien Schlackenhalden und die hohen Stahlgerüste, die manchmal neben ihnen herausragten, seien Fördertürme des Kohlenabbaus der vergangenen Zeit. Leider sei seit 2012 keines der Fördergebiete mehr in Betrieb. Doch habe die Kohlegewinnung im Saarland eine große Tradition, eingeschlossen die Verehrung der heiligen Barbara, von der sich die Kameraden in den Bergwerken beschützt gewusst hätten.
Anika folgte aufmerksam, hielt jedoch noch Ausschau nach dem Paradiesgarten, den Bruno angekündigt hatte. Dann, als Bruno links über eine Brücke abbog und über die Saar hinüber in Richtung eines – wie sollte man es beschreiben – Ensembles an Schlackenhalden und Abraumhügel fuhr, stockte ihr doch etwas der Atem, sie meinte, noch die feinen Staubpartikel der Kohle auf der Zunge, im Hals und auf der Lunge zu spüren. Inzwischen waren diese künstlichen Steinberge mit grünen Hecken und einem Wald an Birkenbäumen überwachsen. Auf einer engen Straße fuhren sie im Zickzack durch diesen Schlackenwald, bis sie in einer kleinen Lichtung an einem zwischen ihnen einsam gelegenen Haus ankamen, das wie ein Märchenhäuschen umgeben von Birkenbergen war.
„Hier sind wir“, sagte Bruno stolz, und seine Augen blitzten, „hier ist oder war Zuhause.“
Anika stieg aus dem Wagen und hing sich Bruno an den Hals.
„Mitten in deiner Kindheit?“
„Ein bisschen“, meinte er, „ich war schon Jahre nicht mehr hier, in der Erinnerung hat sich vielleicht auch manches verklärt.“
„Nein gar nicht“, sprang Anika ihm zur Seite, „ich hatte keine rechte Vorstellung, aber sehe, warum dir dieser Ort wichtig ist.“
Bruno hatte den Schlüssel – zu einem offenbar unbewohnten, aber wie sich im Innern herausstellte, nicht ungepflegten Haus. Auch wenn Bruno schon lange nicht mehr dieses Haus betreten hatte, schien es wohl unterhalten zu sein. Bruno erklärte ihr später, dass sein älterer Bruder nach dem Familienanwesen schaute, schon aus Pietät zu den Eltern, die bereits vor Jahren verstorben waren. Das Haus diente den Kindern des Bruders als Übernachtungsstätte, wenn sie ihn besuchten, und auch Freunde konnten in ihm übernachten. Sogar der Kühlschrank war mit Getränken gefüllt. Lebensmittel brauchten sie keine, weil Bruno für den Abend jenseits der Grenze in einem französischen Restaurant einen Tisch für sie bestellt hatte. Selbstverständlich kannte er den Inhaber und Koch. Er hatte ihnen Löwenzahnsalat mit Speck als Vorspeise serviert, dann Weinbergschnecken in Knoblauch geröstet und schließlich ein Boeuf Bourguignon auf Gratin-Kartoffeln angerichtet. Mit all dem Aperitif, den Weinen, dem Digestif konnte sich Anika nicht mehr recht an den Heimweg erinnern, der im Wagen über eine kleine Saarbrücke ohne Grenzgefühl führte.
…