Mit Tigern schweigend |
Nachwort
Sylvia Townsend Warner: Geschichte einer Faszination
Sie ist wenig bekannt, noch viel weniger bekannt als ihre Zeitgenossin Virginia Woolf, der wenigstens postumer Ruhm in hohem Maße zukam. Gerade einmal einer ihrer Romane ist ins Deutsche übersetzt; ihre Gedichte sind sogar in ihrer englischen Muttersprache kaum noch erhältlich. Wer war Sylvia Townsend Warner (1893–1978), und warum sollte sie endlich gelesen werden?
Es gibt jede Menge gute Gründe für die längst fällige Wiederentdeckung. Zunächst: Warner war eine schreibende Frau. Schreibende Frauen hatten es, historisch gesehen, schwer in ihrem Leben, und sie haben es bis heute schwer in der Überlieferung; eine weibliche Literaturgeschichtsschreibung steckt noch in den Kinderschuhen. Warner war zudem eine außerordentlich gebildete, intelligente und witzige schreibende Frau; alles Qualitäten, die auch bei Männern das Fortleben im Andenken der Nachwelt gelegentlich eher erschweren denn befördern. Sie war natürlich auch, wie jede intelligente Frau, politische Feministin, und zwar (wie nicht alle politischen Feministinnen) in Maßen und mit Verstand. Sie lebte in interessanten Zeiten und engagierte sich politisch wie menschlich; in ihren Briefen zeigt sie sich großzügig in ihrem Umgang, beständig in ihren Freundschaften und verletzlich in ihrer Liebe. In ihrem langen Leben liebte sie Frauen und Männer; sie liebte die Natur (besonders die englische Landschaft), sie liebte die Kunst (besonders die Musik); sie liebte ihre Landhäuser und, vor allem gegen Ende ihres Lebens: ihre Katzen! Und schließlich: Als Autorin war Sylvia Townsend Warner eine stilistische Meisterin, mit einer geradezu schlafwandlerischen Sicherheit sowohl im Erzählen als auch im Gedichteschreiben; die Lektüre ihrer Texte ist deshalb geradezu ein sinnliches Vergnügen.
Das alles wären nun schon genug Argumente dafür, Warner zu lesen, in ihrer Originalsprache oder auch in einer Übersetzung. Aber ein weiterer wichtiger Grund kommt noch hinzu: Sie war eine originelle und anregende (Selbst-)Denkerin. Warner hat literarische Philosophie geschrieben, und zwar in allen ihren Werken. Am konzentriertesten und am lebensnächsten findet man ihre Philosophie jedoch in ihren Gedichten. Das vielleicht tiefsinnigste von ihnen, das epische Langgedicht Opus 7, ist die (Anti-)Heldengeschichte einer Alkoholikerin auf dem Lande. Es ist tragisch und komisch, tiefsinnig und einfach, naiv und witzig; und es ist dabei sprachlich so genial, dass man ihm in einer Übersetzung sowieso nicht gerecht werden kann. Was aber – hoffentlich – auch in einer Übersetzung gezeigt werden kann, ist: In der Geschichte einer passionierten Trinkerin und schelmischen Blumenverkäuferin, die als einfache Frau Gott zu einem Trinkduell herausfordert, ist mehr Gedachtes und Gefühltes als in so mancher Buch-Philosophie voller Systematik und Jargon.
Lolly Willowes: Bekanntschaft mit dem Teufel schließen
Vielleicht kann man die Besonderheit von Warners Dichtung, ihre poetischen wie gedanklichen Stärken, am besten einfangen, indem man – sie nicht analysiert, sondern nacherzählt und eine Geschichte daraus macht? Dieses Nachwort ist deshalb eine Lesegeschichte und eine Liebesgeschichte, und sie beginnt mit einem unscheinbaren Taschenbuch. Die Übersetzerin bekam es in einer schwierigen Lebenssituation von einer lieben und mitdenkenden Freundin geschenkt, es trug den ziemlich befremdlich anmutenden Titel Lolly Willowes or The Loving Huntsman, und das Titelblatt zeigte eine Frau undefinierbaren Alters unter verwehten Herbstblättern. Obwohl passionierte Leserin und wissenschaftlich durchaus nicht unbewandert in der Geschichte schreibender Frauen, hatte die Übersetzerin noch nie etwas von Sylvia Townsend Warner gehört, geschweige denn gelesen. Vor ihrem inneren Auge tauchte bei dem Gedanken an einen „liebenden Jägersmann“ spontan eine Art romantischer waidgrüner Freischütz auf: Er trieb durch die „Willowes“, die „Weiden“ mit den verführerischen Doppel-Ls, und die verwehten Herbstblätter auf dem Titelblatt des schmalen Taschenbuchbändchens verstärkten den Eindruck von Wald und sanft lispelnden Bächlein noch. Ein Operntitel? Eine Satire? Wie man sich irren kann!
Wagen wir uns also zusammen in diesen fremden Wald! Der Anfangssatz gibt sich bedeckt: „Nachdem ihr Vater starb, ging Laura Willowes nach London, um dort bei der Familie ihres älteren Bruders zu leben“. Das riecht mehr nach Jane Austen als nach romantischem Freischützen: Man macht uns bekannt mit einer typischen Tante, die bedauerlicherweise nicht wie vorgesehen verheiratet werden konnte und nun der Verwandtschaft zur Seite oder im Wege steht. Und Tante Laura, von den Kindern bald „Lolly“ genannt, ergibt sich so sanft in ihr Schicksal, dass man zunächst gar nicht auf die Idee kommt, irgendetwas könnte falsch daran sein. Sie hütet die Kinder, sie streift ziellos durch London, und sie bleibt bei all dem – merkwürdig unberührt. Doch gelegentlich erfahren wir etwas über ihr Inneres. Es ist dann, als spräche ein selbst merkwürdig abwesender und anwesender Erzähler in einer Art zweiten Stimme aus ihr heraus. …
Hexen, Nonnen, Elfen: Leben und Werk von Sylvia Townsend Warner
Wer aber war diese Frau, die einen derart ungewöhnlichen Roman schreiben konnte über eine Frau, die sich als Hexe dem Teufel verschreibt und bei all dem so – leidenschaftslos, unkonventionell im allerbesten Sinne und gleich-gültig bleibt? Die Fakten ihres Lebens sind schnell nacherzählt. Es spielte eine Zeitlang im London von Virginia Woolf, aber über weitere Strecken auf dem Lande von Jane Austen, und es hatte eine Menge wissenschaftliche, intellektuelle und politische Ambition und eine gleichgroße Menge – Gleichgültigkeit gegenüber dem Erfolg. Geboren wurde Sylvia Townsend Warner knapp zehn Jahre später als Virginia Woolf, noch zu Ende des 19. Jahrhunderts. Sie war ein Einzelkind und stark beeinflusst von ihrem Vater, einem Schulrektor auf dem Lande, gebildet und geschichtsbegeistert. Die Mutter hatte ihre Kindheit im kolonialen Indien verbracht, was eine multikulturelle Färbung in die kleine Familie brachte. Wenig ist überliefert über Sylvias Jugend und Schulzeit, und wir begegnen der erwachsen werdenden Sylvia erst wieder, als sie den durchaus ambitionierten Vorsatz fasst, in Wien bei Arnold Schönberg Musik zu studieren. Offensichtlich musikalisch begabt und sehr gut ausgebildet, hat sie später bei musikhistorischen Projekten mitgearbeitet und dazu auch einiges Wissenschaftliche veröffentlicht (die Musikalität ist auch in ihrer Sprache allgegenwärtig).
Was aber dazwischenkam, war der Erste Weltkrieg, und Sylvia leistete, wie alle, ganz selbstverständlich ihren patriotischen Kriegsbeitrag: Sie arbeitete in einer Munitionsfabrik und bei der Unterbringung von Flüchtlingen. Nach Kriegsende trat sie für eine kurze Zeit in Kontakt mit dem Bloomsbury Circle, dem intellektuellen Zentrum der englischen Avantgarde im frühen 20. Jahrhundert. In dieser Zeit trifft sie Valentine Ackland, mit der sie eine lebenslange Beziehung eingehen wird, die man wohl, obwohl sie zeitweise von massiven Krisen und Eifersuchtsphasen erschüttert war, als gelungen bezeichnen kann. Auch Ackland war Autorin, und gemeinsam veröffentlichten sie beide einen Gedichtband mit dem schön gleich-gültigen Titel Whether a Dove or a Seagull (es spricht aber ganze Bände über die schlechte Gleichgültigkeit der Literaturwelt, dass das Buch nur noch antiquarisch zu erhalten ist und der Text des Titelgedichts im großen weiten Internet nicht zu finden). …
Autorin: Jutta Heinz