Ein Kinderspiel. So ist das Leben
Leseprobe
Der Baum
Beim genauen Hinsehen erkennt man, dass er kaum Blätter ausgetrieben hat. Die Rinde ist an manchen Stellen spröde, an anderen feucht, was auf sein langsames, fast unsichtbares Verfaulen hindeutet. Er verwest still, in Etappen. Nur wenige Knospen haben sich im Frühjahr gebildet, weshalb die Ernte alles andere als reichlich ausfallen dürfte. Im nächsten Jahr wird es wahrscheinlich noch weniger sein. Bienen meiden ihn zwar nicht, allerdings sehen sie sich lieber nach attraktiveren Gewächsen zum Bestäuben um. Stattdessen tummeln sich Käfer auf seiner Rinde, und das erste zarte Moos wächst langsam von den Wurzeln aufwärts an ihm empor.
Das Kind erinnert sich, wie vor ein paar Jahren Insekten in seiner Krone brummten und welche Pracht an Früchten er trug – so viele, dass sich die Äste unter der Last der blutroten Kirschen bogen. Ihr kräftiger Geschmack ist ihm noch in guter Erinnerung. Daher tut es ihm leid, dass der Baum den nächsten Winter vermutlich nicht überleben wird. Schaut sich das Kind um, sieht es kein weiteres Gehölz von dessen Art. Vermehrt hat sich der Baum dem Anschein nach nicht, und wenn, dann ist dies dem Kind entgangen. Um ihn herum gedeihen etliche Apfel- und Pflaumenbäume, deren Äste wie kleine Arme steil in den Himmel ragen. Das Kind fragt sich, ob die Erde oder der Regen etwas mit seinem plötzlichen Verfall zu tun haben könnten. Da aber all die anderen Pflanzen so üppig wachsen, schließt es diesen Gedanken rasch aus.
Das Kind scheut sich, näher an ihn heranzutreten, glaubt jedoch, es ihm aus irgendeinem Grund schuldig zu sein, so dass es den Schritt in seine Richtung wagt. Nun sieht es genau die kleinen Früchte, die noch grün und unreif aus den eingetrockneten Blütenresten hervorschauen. „Zu wenige“, denkt es sich, „als dass sich die Mühe lohnte, sie zu pflücken.“ Nur die Raben und Krähen werden sich an ihnen erfreuen. Die einzelnen, die es schaffen, rot zu werden, verderben am Baum, oder der Wind wird sie als Fallobst hinunterwerfen. „Wie unbarmherzig das Schicksal doch ist“, überlegt das Kind und greift gedankenverloren nach einer der grünen Kirschen. Es steckt die Rötelfrucht in den Mund und muss sie nach einmaligem Kauen sofort ausspucken, so bitter und mehlig schmeckt sie.
Traurig berührt das Kind die Rinde. Harz quillt hervor. Tropfen um Tropfen läuft er den Stamm hinunter und bleibt an den Fingern hängen. Klebrig fühlt er sich an, als wolle sich der Baum mit aller Kraft am Leben erhalten. „Nur nicht aufgeben!“, flüstert das Kind ihm zu. Da ruft schon die Mutter nach ihrem Spross. Gemeinsam sitzen sie zu Tisch und essen frisch gebackene Waffeln, die sie mit einem Schlag Sahne und gekauften Kirschen aus dem Glas genießen.
Auf Augenhöhe
Keiner wusste, woher sie kamen, aber von einem Tag auf den anderen konnte man das Fleisch unter ihrem Gewimmel kaum mehr sehen. Überhaupt vermisste das Kind die Fliegen, von denen man sagt, dass sie sich auf alles stürzen, was nach Fäulnis riecht, um sich von ihr zu ernähren und ihre Eier abzulegen. Hier aber war kein Summen zu hören; still und gierig fraßen sich die Maden durch den Leichnam, und bei dem Tempo, in dem sie es taten, war sicher, dass von diesem binnen einer Woche nichts weiter als ein paar Knochen übrigbleiben würde. Das Kind rutschte näher an den Kadaver heran und versuchte zu erkennen, um welches Tier es sich handelte. Die Überreste waren allerdings schon so zersetzt, dass sich die Spezies nicht mehr zweifelsfrei feststellen ließ.
Das wenige Fell, das dem Säuger geblieben war, klaffte über seinem aufgeplatzten Bauch, aus dem die halb verwesten Eingeweide hervorquollen. Das Kind vermochte nicht noch näher an die Kreatur heranzurücken, war sie doch hier zum Sterben unter ein paar Holzbretter gekrochen. Sie hatte ungestört und allein sein wollen, wie es Tiere tun, wenn sie ahnen, dass für sie jede Hilfe zu spät kommt. Die aufdringliche Hand des Kindes griff nach der Pfote, umschloss sie und gab sie eilig wieder frei, nachdem ein paar Maden auf seine Fingerkuppen gekrochen waren. Angeekelt zuckte das Kind zurück und wischte sich hastig das Gewürm von seiner Haut.
Aus einiger Distanz beobachtete es das Treiben der Maden auf dem Schädel – nur wenige Meter vor seinen Augen. Es fragte sich, welche Krankheit das arme Wesen wohl dahingerafft hatte und ob sein Leiden qualvoll und lang gewesen war. „Jedenfalls ist es nun vorbei“, resümierte das Kind und bemühte sich um die Verdrängung des Gedankens, einmal selbst so zu enden, was ihm aber nicht gelingen wollte. Es malte sich aus, wie sein Körper von diesen trägen, gleichförmig kriechenden Würmern zerfressen würde, so dass nichts von ihm übrigbliebe und es geräuschlos aus der Welt verschwände. „Wenigstens bekommt hier jeder das Gleiche und muss keine Entscheidung mehr treffen“, schloss es, legte sich auf den Bauch und starrte in die leeren Augenhöhlen des Tieres.