Otto A. Böhmer
Geht ein Philosoph übers Wasser



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Geht ein Philosoph übers Wasser

 




Was denn nun?

Der Traum kehrte zurück, als er ihn nicht mehr haben wollte. Über seinen Kopf hinweg hatte man entschieden, dass aus einer harmlosen Vision Wirklichkeit werden sollte, und zwar nach Art eines Dienstgeschäfts, dem sich zu entziehen nicht angeraten war. Die Gesellschaft des Philosophen, dessen Lehre er, mehr oder weniger dezent, zu vertreten hatte, hatte ihn zu einer Landverschickung auf See verdonnert. Nach einem peinlichen Auftritt sollte er in sich gehen und zur Besinnung kommen, was auch die Verpflichtung vorsah, philosophische Sprechstunden und Lesungen an Bord eines mittelgroßen Kreuzfahrtschiffes abzuhalten.
Bevor Prof. Dr. Otto Prenzlau jedoch aufs Meer kam, musste er in die Luft. Allein der Gedanke daran machte ihm zu schaffen. Am Frankfurter Flughafen, der leider nicht bestreikt wurde, denn dann wäre Prenzlau zu Hause geblieben, wartete er auf seinen Flieger nach Gran Canaria. Er schwitzte, es war Mitte Januar, aber er fand, dass die Klimaerwärmung just in diesem Moment noch mal zugelegt hatte. Um ihn herum unerträglich gut gelaunte Urlauber, vorwiegend Familien mit verhaltensgestörten Kindern, dazu acht, neun muntere Greise und eine Ansammlung von Alkoholikern, die alle quergestreifte T-Shirts trugen, auf denen Werbung gemacht wurde für den bekannten Männergesangverein „Halbe Lunge WAF“. Die Alkoholiker konnten also singen, was sie auch gleich mal vorführten; es klang, wie der schwitzende Prenzlau zugeben musste, gar nicht so schlecht. Man applaudierte, die gute Stimmung wurde zur Bombenstimmung. Prenzlau überlegte, warum das Sicherheitspersonal nicht einschritt, aber es war ja, wie neuere, aus den Tiefen der Brüsseler EU in Auftrag gegebene Studien schon mehrere Male belegt hatten, ohnehin überfordert, und zwar chronisch. WAF!? Ein Autokennzeichen, eine Stadt mittlerer, nein eher kleinerer Größe. Prenzlau wurde von einem Hauch Heimatgefühl gestreift: WAF stand für Warendorf, ein Städtchen im Münsterland, überschaubar und geordnet, mit historischem, von gepflegten Althäusern umstandenem Marktplatz. Da war er schon mal gewesen, aber warum und wie lange und wieso, er wusste es nicht mehr. Überhaupt hatte er viel mehr Wissenslücken, als ihm lieb sein konnte. Darüber war, vor allem aus beruflichen Gründen, besser zu schweigen. Wenn die Öffentlichkeit, der er regelmäßig denkwürdige Meinungen und Kommentare zukommen ließ, die er nicht freiwillig absonderte, sondern die ihm abverlangt wurden, erfuhr, dass er nicht schlau, sondern eher ein wenig doof war, und zwar mit altersgemäß steigender Tendenz, hatte er verschissen. Prenzlau stand vor einer öffentlichen Flughafentoilette, und der mächtige Druck, den er eben noch in seinem mächtigen Leib verspürt hatte, verpuffte nach innen. Was für ein unangenehmer Betrieb. Da verging einem alles. Er stand in der halbgeöffneten Tür und bekam vom breit dastehenden Spiegel ein Schrägbild seiner selbst vorgeführt.
Wollen Sie wissen, wie Prof. Dr. Otto Prenzlau aussah? Wollen Sie nicht, kann ich verstehen, aber ich sag’s Ihnen trotzdem, denn es ist gut, wenn man weiß, mit wem man es zu tun hat, wobei es da anfangs, ähnlich wie in der Liebe, auf Äußerlichkeiten ankommt, platonisch werden kann man später immer noch. Also, Prenzlau ist, je nach Betrachtungsvorbehalt, kein schöner Mann, aber es gibt auch hässlichere. Er sieht, findet er selbst, allerdings nur bei positiver Stimmungslage, die ihn zuletzt immer seltener überkam, interessant aus; ein interessanter Mann mit leicht blaurandiger Brille, zackigen Augenbrauen, etwas abgewölbter Stirn, zu breit angelegter Nase und lichtem, schon ein wenig fusselig wirkendem Haupthaar. Und, das muss man leider in aller Deutlichkeit sagen, er ist zu dick; da hilft auch keine kaschierende Kleidung mehr, es sei denn, er würde sich in beduinische Gewänder vom Umfang eines Hauszelts hüllen. Er ist aber kein Beduine, und Hauszelte waren noch nie seine Sache. …