Angela Staberoh
Freitod. Frauen, die Hand an sich legten



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Freitod. Frauen, die Hand an sich legten

 




Vorwort

Wer in Todesanzeigen das ominöse Wort Suizid sucht, wird nicht fündig werden. „Nach langer schwerer Krankheit verschied unsere gute Mutter“ oder „ein schrecklicher Unfall hat den geliebten Sohn aus unserer Mitte gerissen“ sind die üblichen Redewendungen, mit der Angehörige den schmerzlichen Verlust ihres Familienmitglieds bekannt geben. „Er schied freiwillig aus dem Leben“ – absolut undenkbar. Selbst wenn die Spatzen es bereits von den Dächern pfeifen, ist der schwarz umrandeten Mitteilung nur ein vertuschendes „Plötzlich und unerwartet…“ zu entnehmen.
Nur wenig hat sich geändert an dem jahrhundertelangen Tabu, das den Freitod umgibt. Aber nicht nur die Reaktionen des Entsetzens und des Schuldgefühls, der Verteufelung, Abscheu, Scham und Schande begleiten ihn, sondern auch insgeheime Bewunderung und fatale Faszination. Ganz besonders gilt das Tabu für Frauen, die Hand an sich legen. Wer im Internet nach Listen von berühmten Frauen fahndet, die ihrem Leben ein Ende setzten, wird verwundert feststellen, dass erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts vermehrt Suizidentinnen auftauchen.
Statistiken sprechen eine klare Sprache: …

Einführung

Es ist nicht wahr, dass Gott die Welt so eingerichtet hätte, dass es für alle Notlagen des Lebens einen Ausweg gäbe.

Von Seiten der christlichen Moraltheologie sind immer wieder drei Argumente gegen die Selbsttötung geltend gemacht worden: Zum Ersten, die Selbsttötung ergebe sich aus einer Verzweiflung an den Endlichkeiten des Daseins, die mit dem Glauben nicht vereinbar sei. Aber dagegen spricht, dass die Selbsttötung keine Entscheidung über den Wert oder Unwert des Daseins im Ganzen darstellt; sie ist vielmehr ein letzter Fluchtweg aus dem Gefühl oder der Erkenntnis der Ausweglosigkeit einer konkreten Lebenssituation. Ein zweites Argument sieht in der Selbsttötung einen Akt widergöttlicher Eigenmächtigkeit. Aber der Eindruck der Ausweglosigkeit, der zur Selbsttötung treibt, ergibt sich gerade aus der Ohnmacht des Ichs gegenüber dem Es, dem Überich und der äußeren Realität. Gegenüber dem krankhaften Suizid wird die christliche Moraltheologie (heute!) in der Regel wohl Milde walten lassen. Ein drittes wichtiges Argument gegen die Selbsttötung aber besteht in der oft geäußerten Überzeugung, eine objektive Ausweglosigkeit könne es für einen gläubigen Menschen nicht geben, und nur Gott allein habe das Recht, den Zeitpunkt des Todes zu bestimmen. Dieses Argument, sooft es auch vorgetragen werden mag, hält jedoch am wenigsten stand. …

Biografie (Eleanor Marx)

… Das emotionale Band zwischen Eleanor und ihrem Vater scheint unzerreißbar. Sie ähnelt ihm auf geradezu verblüffende Weise: Eine breite, niedrige Stirn über dunklen strahlenden Augen und eine ausgeprägte Nase. Man braucht sich Eleanors Fotografie nur mit einem Bart vorzustellen, und schon hat man das Bild des jungen Marx. „Zuweilen scherzte sie, sie habe leider nur die Nase ihres Vaters und nicht sein Genie geerbt“, schreibt Francis Wheen in seiner Biografie Karl Marx über die jüngste Tochter des im Londoner Exil lebenden ausgebürgerten Deutschen.
Die geradezu symbiotische Vater-Tochter-Beziehung lässt die Frage offen: Wer braucht wen am meisten? Karl Marx die Tochter, die für ihn als Privatsekretärin arbeitet, seine Texte ins Englische übersetzt, dolmetscht und seine vielfältigen körperlichen Wehwehchen pflegt, oder „Tussy“ den Vater, dem sie gefühlsmäßig viel näher steht als der Mutter und dem sie als ihrem „Lebensmenschen“ niemals einen Wunsch abschlagen wird?
Der Konflikt scheint vorprogrammiert, als sich die 17-jährige Eleanor in den doppelt so alten Franzosen Prosper Olivier Lissagaray verliebt. Fettig glänzende Pomade im Haar, ein arrogant wirkendes Lächeln und selbstbewusst zur Schau getragene Eleganz lassen Eleanor dahinschmelzen, nicht jedoch ihren Erzeuger. Er sieht rot. Sämtliche Alarmglocken beginnen in seinem rational verdrahteten Vaterhirn zu schrillen, das die Jüngste lebenslang komfortabel versorgt sehen will. Die Anlagen zu einem verantwortungsbewussten Ehemann scheint dieser aalglatte Gallier nicht zu besitzen. Der jahrtausende alte Interessenkonflikt zwischen besorgten Vätern und eigensinnigen Töchtern, die sich ihre Ehegatten selbst aussuchen wollen, macht auch vor dem partnerschaftlich agierenden Marx’schen Familienverband nicht Halt.
Erst mit sanftem, dann mit unnachgiebigem Druck verlangt der Versorgungsbesessene eine Beendigung der Romanze. Damit bürdet er seiner Tochter fast unerträgliche Höllenqualen auf. Für wen soll sie sich entscheiden? Für den Geliebten oder für den Vater? Hin und her gerissen zwischen Liebeserlebnis und Kindespflicht wählt sie die „Halb-Halb-Variante“. Sie lässt ihren Vater im Glauben, sich von dem französischen Charmeur, genannt „Lissa“, zu trennen, trifft sich aber weiterhin heimlich mit ihm. Unterstützung für die verbotenen Begegnungen erhält sie von gänzlich unerwarteter Seite: ihrer Mutter. …