Siegerehrung, ca. 520-510 v. Chr.;
Attischer Teller



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der blaue reiter Ausgabe 51

 



Die Erfindung des Sports

Von den kultischen Spielen im Olympia der Antike zum modernen Sport

Die Erscheinungsformen der Leibesübungen lassen sich nicht von den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen trennen. Das Üben für kultische Bewegungsspiele folgt anderen Regeln als die körperliche Ertüchtigung für das Kriegshandwerk oder den friedlichen Wettstreit zur Unterhaltung der Massen.

Ursprünglich diente das Üben des eigenen Körpers vor allem der Bewährung bei der Jagd und der Ertüchtigung für den Kampf gegen äußere Feinde. Ziel waren Selbstbehauptung und Machtdemonstration in einer als feindlich empfundenen Umwelt. Der Wunsch nach Selbstveredelung und das Kräftemessen lediglich zum Zweck gesellschaftlicher Anerkennung kamen erst später hinzu. Die ersten großen Wettkämpfe, für die Teilnehmer auch aus anderen Ländern anreisten, waren die zu Ehren der Götter veranstalteten Olympischen Spiele im Griechenland der Antike.

Kultfest Olympia

Das für gewöhnlich angenommene Jahr 776 v.Chr. für die ersten Olympischen Spiele war bereits in der Antike umstritten. Dass die Nutzung des so genannten heiligen Bezirks (altgriechisch altis) in Olympia als Kultstätte sehr viel älter war und bis weit in die geometrische (ca. 1100–675 v.Chr.) und möglicherweise sogar bis in die mykenische Zeit (ca. 1600–1100 v.Chr.) zurückreichte, steht außer Frage.
Mit Beginn des olympischen Gottesfriedens (ekecheiria) brachen die Athleten nach Elis und die Zuschauer sowie Pilger nach Olympia auf (siehe Erläuterung). Neben einzelnen Personen schlossen sich die Mitglieder offizieller Gesandtschaften der Städte zusammen, die durch Zurschaustellung von Reichtum und Macht Eindruck zu erwecken versuchten, indem sie aufwendige Weihgeschenke, prachtvolle Opfer und wertvolle Gerätschaften für das Heiligtum sowie für die Ausrichtung großer Gelage mit sich führten. Nach einem einmonatigen Pflichtaufenthalt der Athleten im nahe gelegenen Elis konnte das eigentliche Kultfest beginnen. Eingeleitet wurde es mit einer prachtvollen Prozession der Kampfrichter, Athleten sowie ihrer Begleiter. Der Festzug musste von Elis aus eine Strecke von annähernd sechzig Kilometern überwinden und zog nach einer Übernachtung unter dem Jubel der Zuschauer am nächsten Tag in den heiligen Bezirk von Olympia ein. An der Spitze des Zugs schritten die Trompeter, begleitet von den in purpurfarbenen Umhängen gewandeten Kampfrichtern. Ihnen folgten die Priester des Heiligtums und ihre Helfer, die die Opfertiere führten. Hieran schlossen sich die Vertreter der offiziellen Gesandtschaften an, die ihre Weihegeschenke mit Stolz zur Schau stellten. Den Abschluss bildeten die Athleten sowie die an den Rennen teilnehmenden Pferde. Ebenfalls am ersten Tag des Festes wurde vor der Statue des Zeus Horkios („Wächter des Eides“) das Gelöbnis der Kampfrichter und Athleten abgelegt. Anschließend wurden die Namen der Wettkämpfer aufgenommen und die Kampfpaare beziehungsweise die Startreihenfolge ausgelost, was nach mythischer Auffassung durch göttliches Eingreifen bestimmt wurde. Am Nachmittag fanden die Wettbewerbe der Trompeter und der Herolde statt, die die Wettkämpfe ankündigten und die Namen der Sieger sowie ihrer Heimatstädte ausriefen. Ebenfalls am Nachmittag des ersten Tages wurden Opfergaben auf den Altären der Götter dargebracht. Der zweite Tag war für die Wettkämpfe der Knaben im Laufen, Ringen und Faustkampf reserviert. Am dritten Tag wurden die hippischen Disziplinen (Pferde- und Wagenrennen, von altgriechisch hippos für „Pferd“) sowie der Fünfkampf ausgetragen, bevor am Abend im Schein des vollen Sommermondes die Opfergaben für Pelops dargebracht wurden. Der Höhepunkt des Festes war der vierte Tag; dieser begann mit dem großen Opfer von einhundert Rindern auf dem Hauptaltar des Zeus. Ähnlich wie bei der christlichen Kommunion, erhielten die Pilger ein Stück vom Opferfleisch; hierdurch sollte nicht nur der Gemeinsinn der Versammelten gestärkt, sondern auch die Verbindung mit dem obersten Gott hergestellt werden. Danach begaben sich die Teilnehmer des Opfermahls zum Stadion, um die Wettkämpfe der Ringer, Faust- und Allkämpfer sowie der Wettläufer zu verfolgen. Der fünfte und letzte Tag war den Dankopfern für die Götter und den Ehrungen der Sieger vorbehalten, die in einer gemeinsamen Prozession zum Zeustempel zogen und anschließend zu einem Festmahl geladen wurden. Am Abend, vor ihrer Abreise, feierten die Sieger mit ihren Begleitern, Freunden und Familien.

 

   Die „Olympischen Spiele“ der Antike
   waren keine „Feste des Sports“.

 

Waren die athletischen Wettkämpfe in den ersten Jahrhunderten des Heiligtums wahrscheinlich noch eine Randerscheinung, so änderte sich dies mit Beginn der archaischen Epoche um das Jahr 700 v.Chr. Olympia wurde in dieser Zeit nicht nur zum bevorzugten Wettkampfplatz, sondern es bildete sich eine „feste Gruppe von Spezialisten, die sich vom Alltagsleben ihrer Heimatgemeinden abgesondert hatten“, um bei den zahlreichen Wettkämpfen der großen Kultfeste anzutreten. Es ist zwar nicht geklärt, warum es zu dieser Form der Spezialisierung kam, jedoch spricht einiges dafür, dass der allgemeine Bedeutungsgewinn der Wettkämpfe als wahrscheinlicher Grund hierfür anzunehmen ist. Der Sieg im Wettkampf ehrte nicht mehr nur die Götter, sondern der Sieger selbst sowie seine jeweilige Heimatstadt rückten mehr und mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit. Wer vor wachsender Kulisse in Olympia erfolgreich war, dessen Name wurde rasch in vielen griechischen Städten und in den überseeischen Kolonien bekannt. Dieser Geltungsgewinn aufseiten der Athleten und der siegreichen poleis (altgriechisch für „Stadtstaaten“) ging noch nicht zu Lasten der Götter, da diese nach wie vor als maßgeblich für den Ausgang der Wettkämpfe angesehen wurden. Ihr himmlischer Glanz strahlte ungebrochen, allerdings vertrauten die Wettkämpfer immer stärker ihren eigenen Fertigkeiten, die auszubilden und zu steigern sie als ihre Pflichtaufgabe ansahen.

 

   Die Erscheinungsformen des Sports lassen sich
   nicht von den jeweils vorherrschenden
   gesellschaftlichen Bedingungen trennen.

 

Ein exemplarischer Blick auf eine prestigeträchtige Disziplin mag die wachsende Bedeutung des Siegs im Wettkampf für die Athleten und Angehörigen der Adelsschicht verdeutlichen. Im Faustkampf (pygme) war es das Ziel, den Gegner durch gezielte Schläge vor allem ins Gesicht und gegen den Oberkörper kampfunfähig zu machen oder zur Aufgabe zu zwingen. Durch das Heben des Zeigefingers konnte ein Kampf sofort beendet werden, allerdings galt dies als unehrenhaft. Die Kampfrichter achteten vor allem darauf, dass Tritte, Schläge auf die Genitalien und Ringergriffe unterblieben. Sonst bestanden keine Verbote, und es wurde solange gekämpft, bis ein Sieger ermittelt werden konnte. Es gab keinen Sieg nach Punkten, keine Einteilung der Athleten in Gewichtsklassen und keine zeitliche Begrenzung der Kampfdauer. Die Hände der Faustkämpfer waren mit rindsledernen Riemen umwickelt, die die Wirkung der Schläge verstärkten. Ab dem vierten vorchristlichen Jahrhundert wurde noch härteres Leder verwendet, das später, während der römischen Kaiserzeit, mit Metallelementen verstärkt wurde, um gezielt tödliche Schläge herbeizuführen. Die Faustkämpfer genossen, ähnlich wie die Ringer und Allkämpfer (Pankratiasten), ein vergleichsweise hohes Ansehen, da der Zweikampf um den Sieg besonders heftig und direkt geführt wurde, so dass schwere Verletzungen zu erwarten und Todesfälle unausweichlich waren. Das Gottesurteil über Sieg und Niederlage erwies sich im Falle der Kampfdisziplinen nicht nur als spektakulär, sondern auch als unmissverständlich, da etwaige Zweifel am Ausgang einer Entscheidung mit Blick auf den körperlichen Zustand der Athleten gar nicht erst aufkamen. Die Sieger genossen höchsten Ruhm und größtes Ansehen, da sie sich den Schlägen ihrer Gegner und den Gefahren des Kampfes erfolgreich widersetzten und das Opfer ihrer selbst in den Triumph des Selbst umwandeln konnten. Die Verwandlung (metamorphosis) des Kämpfers zum Sieger war zugleich Ausdruck göttlicher Macht, da der Gestaltwechsel als typisches Vorrecht der Götter gesehen wurde. …

Autor: Franz Bockrath