der blaue reiter Ausgabe 53 |
Leseprobe
Über Selbstüberhöhung, Kriegskunst
und die Verbesserung des Menschen
Die Bibel, Hu Tzi und Machiavelli
Der Mensch, vor allem das abendländische Prachtexemplar, neigt zur gewaltigen Selbstüberhöhung. Die Krone der Schöpfung sei er, wird uns verkündet, nicht weniger als Gott selbst, von welchem er höchstpersönlich mit Ehre und Herrlichkeit „gekrönt“ wurde. Auch die Philosophen fabulieren von den überragenden Fähigkeiten der menschlichen Vernunft, die ihn weit über die übrigen Säugetiere emporheben und auszeichnen.
Ein kurzer Blick in die Wirklichkeit trübt gewaltig das reichlich geschönte Selbstbild des Menschen. Sobald sich die religiösen Märchenerzähler auch in den weltlichen Machtapparat eingeschlichen hatten, jagte ein grausamer Krieg den nächsten. Mit beispielloser Skrupellosigkeit wurde im ersten Kreuzzug (1099) Jerusalem erobert, es folgte Konstantinopel (1204), man ermordete alles, was zwei Beine hatte, zerstörte und plünderte die zur damaligen Zeit prächtigste und reichste Stadt. Man teilte den ungeheueren Reichtum zwischen den Kriegsfürsten des Kreuzzugs und den Venezianern auf, die schließlich Teile des „christlichen“ Plünderungsfeldzugs mitfinanziert hatten. Dieses Geschäftsmodell hatte sich hervorragend bewährt und wurde permanent wiederholt. Die reichen, tüchtigen und tiefgläubigen Albigenser (siehe Erläuterung) waren das nächste lukrative Opfer. Der „heilige“ Kreuzzug gegen sie wurde mit deren Ausrottung und der Plünderung ihres Besitzes „gekrönt“.
Man erfand die Inquisition, man erfand den Krieg gegen die Hexen, man folterte, verbrannte, enteignete den Besitz der Häretiker und Hexen samt den ihrer Verwandten, denn die gewaltige Bürokratie der Inquisition verschlang immer mehr Geld. Schließlich spaltete sich die mater ecclesia sancta (lateinisch für „heilige Mutter Kirche“), aus deren Händen Blut in Strömen floss. Man überzog Europa mit einem grausamen dreißigjährigen Krieg (1618–1648), der nur wegen wechselseitiger Erschöpfung endete. Historiker, vor allem jene, die noch nicht auf den theologisch korrekten Kurs der Geschichtsschreibung eingestimmt wurden, berichten deshalb, dass es über Jahrhunderte kaum einen Krieg gab, der nicht durch religiöse Macht- und Habgier verursacht und mitinszeniert war.
Religion und Streitkräfte sind ein erfolgreiches Paar.
Auch als die Aufklärung (siehe Erläuterung) eine kleine Elite in Europa erfasste, die Macht der Kirche durch das Erstarken von Nationalstaaten und der Politik etwas zurückgedrängt und das Märchen von der überragenden Vernunft en vogue wurde, verbesserte sich nichts. Die überragende Vernunft des Menschen zeigte sich im 20. Jahrhundert an zwei Weltkriegen und mindestens 77 Millionen Toten (inklusive ziviler Opfer). Dass man im Jahre 2020 weltweit die schlappe Summe von rund 2000 Milliarden Dollar in Rüstungsausgaben verpulverte, ist sicherlich ein weiterer Beleg für die „Exzellenz“ menschlicher Vernunft. Die religiösen und philosophischen Überhöhungsfabeln finden in der Wirklichkeit, leider, keine Bestätigung. Kriege, Kriege und nochmals Kriege begleiten die Menschheit und vor allem sogenannte Hochkulturen bis zum heutigen Tage mit nie erlahmender Penetranz.
Es sind drei Faktoren, die uns Menschen zum Krieg anspornen. Erstens eine massengängige, aufhetzende, möglichst primitive Ideologie, etwa die Pflicht, Ungläubige auszurotten oder die Mörder Christi oder eine angeblich minderwertige Rasse oder, oder… Zweitens treibt den Menschen die ewig präsente Machtgier zum Krieg und drittens die damit eng verbundene Habgier. Das alles sind kulturübergreifende, scheinbar immerwährende menschliche Grundzüge. Kriege sind ganz offensichtlich unausrottbar, eine Seuche, welche uns beständig begleitet. Daher gehören die Kunst der Kriegsführung und auch die der Kriegsvermeidung zu den zentralen Themen der Menschheit.
Hu Tzis Die Kunst des Krieges und die Trennung von ziviler und militärischer Herrschaft
Zwei Vorbemerkungen: Erstens: Ob es einen Hu Tzi je gegeben hat, ob er der Autor dieser Schrift war oder seine Schüler die Sprüche ihres Lehrers zusammengefasst haben, ob er der Sohn einer adligen Familie, ob er ein erfolgreicher General und Minister bei dem König Helü von Wu war, das alles ist bis heute umstritten. Wann die Schrift genau entstanden ist, bleibt ebenfalls im Dunklen, die Angaben variieren beträchtlich. Sicher ist jedenfalls, dass diese Schrift schon einige Jahrhunderte vor Christus in China hoch angesehen war und dass Ausgrabungen 1972 einen rund 2000 Jahre alten Text zu Tage brachten, der weitgehend mit der heute gängigen Fassung der Kunst des Krieges identisch ist.
Zweitens: Dieser Text entstammt einer Kultur und einer Weltauffassung, die fundamentale Unterschiede zu der christlich-abendländischen aufweist. Die altchinesische Weltsicht war „innerweltlich“. Sie kannte keine zwei Welten, hier das irdische Jammertal und dort das ewige Himmelreich, in dem Gottvater persönlich an seinem goldenen Schreibtisch thront, bewacht von vier merkwürdigen Schreckensgestalten und periodisch beschallt von seitlich sitzenden Berufsjublern. Vom pulex irritans, dem gemeinen Beißfloh, bis hin zum homo sapiens, dem zweibeinigen, aufrechtgehenden Säugetier, hat er alles höchstpersönlich erschaffen. Diese Zweiweltentheorie ist für eine innerweltliche Anschauung Unsinn. Schöpfung war, zumindest für die altchinesische Elite, ein Akt der Selbstorganisation der Natur. Wenn wir bei Hu Tzi vom „Himmel“ lesen, so ist natürlich nicht der ewige, christliche Himmel gemeint, sondern schlicht und ergreifend das Wetter, das sich über unseren Köpfen zusammenbraut. Dem nüchternen Hu Tzi waren religiöse Riten und Orakel, die den Ausgang von Schlachten vorhersehen und beeinflussen sollten (wie wir sie von den alten Griechen, Römern und Christen kennen), ein Greuel: „Verbiete die Befragung von Orakel und bekämpfe den abergläubischen Zweifel, dann mußt Du, bis der Tod selbst kommt, keinerlei Unheil fürchten.“ (Kapitel 11)
Hu Tzis Text besteht aus dreizehn Kapiteln mit je einer kurzen Überschrift. Er kann inhaltlich in zwei Aussagenklassen gegliedert werden. Die eine beschäftigt sich mit dem Verhältnis der weltlichen Macht, sprich dem Herrscher, zum militärischen Befehlshaber. Überdies werden taktische und strategische Fragen der Kriegsführung thematisiert, die sowohl politische als auch philosophische Relevanz besitzen. Auf diesen Teil wollen wir uns konzentrieren. Im anderen Part werden spezielle militärische Fragen diskutiert. Nun zu der ersten Gruppe von Aussagen, den politisch-militärischen und philosophischen. Hu Tzi fokussiert sich primär auf fünf Faktoren, welche die Kunst des Krieges bestimmen. Erstens die „Gesetze der Moral“. Er versteht darunter die Übereinstimmung des Volkes mit den Absichten des Herrschers, sodass das Volk den Absichten der Politik bedingungslos, boshaft ausgedrückt, hirnlos folgt. Es geht also darum, die Moral des Volkes auf die der politischen Elite zu trimmen. Die geschickt inszenierte Kriegsbegeisterung der Deutschen im Ersten und Zweiten Weltkrieg liefert ein eindrucksvolles Beispiel für Hu Tzis Verständnis von den Gesetzen der Moral. Der zweite Punkt, den wir bei der allgemeinen Reflexion über die Kriegsführung berücksichtigen sollten, ist das Wetter (in einigen deutschen Übersetzungen „der Himmel“). In eisiger Kälte und im tiefsten Winter lässt sich kaum noch Krieg führen, man denke beispielsweise an Stalingrad. Selbstredend spielen, drittens, auch die Geländeformationen („Erde“), in denen sich das Heer bewegt, die Entfernungen, die es zurücklegen muss und die hierbei lauernden Unwägbarkeiten eine wichtige Rolle. Auch die charakterlichen Fähigkeiten des militärischen Befehlshabers sind, viertens, von herausragender Bedeutung. Für Hu Tzi waren jedoch die charakterlichen Eigenschaften des Befehlshabers, also seine Klugheit, seine Aufrichtigkeit, sein Wohlwollen, sein Mut und seine Strenge, wichtiger als die militärischen Fachkenntnisse. Ebenso ist, fünftens, auf eine gut funktionierende Organisation mit strenger Disziplin und auf eine ausgewiefte Logistik zu achten.
Werden diese fünf Faktoren beherzigt, indem wir sie in Fragen umwandeln, dann kann man vernünftigerweise eine Prognose über den Ausgang des Krieges stellen. Der Befehlshaber fragt sich beispielsweise: „Auf welcher Seite liegen die Vorteile des Wetters und des Geländes, welche Armee ist besser organisiert und diszipliniert, habe ich selbst die charakterlichen Fähigkeiten für solch eine anspruchsvolle Aufgabe?“ Denn: „Wenn du deinen Feind und dich selbst kennst, dann brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten.“ (Kap. 3) Und noch eine bedeutsame Einsicht verkündet Hu Tzi: „Jeder Krieg beruht auf Täuschung.“ (Kap. 1) Er empfiehlt: Wenn du stark bist, täusche Schwäche vor, wenn du angreifen willst, täusche Inaktivität vor. Schon aus diesen kurzen, einführenden Erläuterungen folgt, dass es einer Unzahl rationaler und nüchterner Überlegungen bedarf, um einen erfolgreichen Krieg zu führen. …
Autor: Otto-Peter Obermeier