der blaue reiter Ausgabe 53 |
Editorial
Kein „Frieden auf Erden“!
Gewalt und Krieg sind in der Geschichte der Menschheit eher die Normalität denn die Ausnahme. Schon in der Steinzeit malten Künstler Kampfhandlungen mit Pfeil und Bogen auf Höhlenwände. 242 Kriege zählt die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung allein für die Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg und 2020, und von den Mitarbeitern des Projekts Our World in Data wurden 184 gewaltsam ausgetragene Konflikte im Zeitraum zwischen dem Zweiten Weltkrieg und 2011 als Kriege qualifiziert. Dazu kommen die Ermordung von über fünf Millionen europäischen Juden im Rahmen des Holocaust, zahlreiche Massaker an Ureinwohnern im Rahmen der Besiedlung Süd- und Nordamerikas, Völkermorde wie der an den Armeniern mit über einer Million Opfern, der an den Tutsi in Ruanda und und und. Wenn auch nicht alltäglich und bei weitem nicht von allen aktiv ausgeübt – es hat den Anschein, dass Gewaltsamkeit gegen Artgenossen und auch Krieg zur Natur der Spezies homo sapiens gehören.
Doch es gibt auch Ausnahmen. Große Denker wie der Physiker Albert Einstein und der Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell waren zeitlebens Pazifisten. Angewidert vom kriegslüsternen Hurra-Patriotismus vor dem Ersten Weltkrieg und geschockt vom massenhaften Abschlachten junger Männer im folgenden Stellungskrieg plädierte Russell für Kriegsdienstverweigerung und sprach sich für einen Verständigungsfrieden mit Deutschland aus. Sich bei einem Angriff ohne Kampf zu ergeben, so eines seiner Kalküle, hätte für England wesentlich weniger entsetzliche Folgen als ein Krieg, „selbst dann, wenn wir aus dem Krieg ohne Abstriche als Sieger hervorgingen“. Sein Engagement brachte Russell sechs Monate lang hinter Gitter. Auch der Boxer Muhammad Ali nahm für seine Weigerung, als Soldat in den Vietnamkrieg zu ziehen, eine Gefängnisstrafe in Kauf: „Mein Gewissen erlaubt es mir nicht, einen Bruder zu erschießen“, soll er den Beamten der Rekrutierungsbehörde gesagt haben: „Sie haben mich nie einen ‚Nigger‘ genannt. Sie haben meine Mutter nicht vergewaltigt. Und sie haben auch meinen Vater nicht umgebracht. Warum also sollte ich auf sie schießen?“ Zu wenige taten es ihm gleich. Zu wenige weigerten sich, die anderen zu töten. So dauerte und dauert das Sterben an.
Schon im 16. Jahrhundert hatte der Universalgelehrte Erasmus von Rotterdam in seiner Schrift Die Erziehung des christlichen Fürsten konstatiert: „Was bringt der Krieg anderes hervor als Krieg? … Oft weint auch ein Sieger über einen zu teuer erkauften Sieg.“ Und in seiner Klage des Friedens, der von allen Völkern verstossen und vernichtet wurde heißt es: „Kaum ein Friede ist jemals so ungerecht, daß er nicht auch dem gerechtesten Krieg vorzuziehen wäre“, denn „im Krieg regieren die Verkommensten, und die, die man im Frieden aufknüpft, üben die wichtigsten Tätigkeiten aus“. Nicht von ungefähr war schon Cicero in einer Rede zu dem Schluss gekommen: „Silent enim leges inter arma“ (lateinisch für „Denn unter den Waffen schweigen die Gesetze“), womit er den Bruch ansonsten geltender und mit Strafen belegter Gesetze für Zeiten des Krieges legitimierte.
Gleichwohl der Friedensforscher Johan Galtung mit Recht darauf verweist, dass Frieden mehr ist als die Abwesenheit von Kampfhandlungen, äußert auch der „Friedensingenieur“ Christopher Blattman in seinem Buch Warum wir Kriege führen. Und wie wir sie beenden können die Überzeugung, dass selbst der ungerechteste Frieden besser ist als der kleinste Krieg. Frieden sei zumindest die Abwesenheit sinnlosen Leidens und Sterbens. Denn welchen Sinn haben gerechtes Leiden und gerechtes Sterben? Sind die gerecht Gestorbenen glücklicher in ihrem Tod als die zu unrecht Gestorbenen?
In der Tat ist jeder Krieg ein Verbrechen. Gerechte Kriege gab es nie und wird es nie geben. Mögen die Verherrlicher vermeintlich mannhaften Heldentums auch noch so oft den heldenhaften Kampf „Mann gegen Mann“ beschwören und emphatisch auf die „Ehre des Soldaten“ pochen oder, wie politische Geostrategen, auf das Kriegsrecht und die Regeln der Genfer Konvention verweisen – wir alle wissen: Es gab noch nie einen Krieg ohne Tote, ohne verstümmelte, bewusst misshandelte, gefolterte und vergewaltigte Frauen, Männer und Kinder und es wird auch niemals einen solchen Krieg geben. Krieg ist kein ehrbehaftetes, von Schiedsrichtern geordnetes Säbelfechten im Rahmen einer Mensur und auch kein Spiel wie Paintball, bei dem die von Farbkugeln Getroffenen aus dem Spiel genommen werden, bis sie sich wie im Egoshooter Counterstrike ein neues Leben kaufen. Ob mittels Präzisionsbomben präzise oder unpräzise getötet, ob in einem vermeintlich gerechten oder ungerechten Krieg, ob absichtlich getroffen oder „nur“ Kollateralschaden, ob schuldig oder unschuldig – der Tod ist unwiderruflich. Und der Krieg ist der Meister des Todes, der ultimative Totmacher.
Gerne wird nach kriegerischen Konflikten die Schuld auf vermeintlich „böse“ Anführer geschoben. Doch hätten diese mit ihren Feldzügen den Sieg errungen, wären sie vor allem von jenen als große Kriegsherren gefeiert worden, die sich nach verlorenen Schlachten immer auf ihre Pflicht sowie einen sogenannten, zumeist nur vorgeschobenen Befehlsnotstand berufen und sich vorgeblich mindestens in der inneren(!) Emigration befanden, wenn nicht gar im inneren(!) Widerstand. Pazifisten werden in Friedenszeiten von solchen selbsternannten Kennern der menschlichen Natur, sogenannten Realisten, als weltfremde Spinner verlacht und in Kriegszeiten weggesperrt. Für Feldherren, die nichts anderes sind als Organisatoren des massenhaften Tötens, werden Statuen errichtet, Kriegsgegner, Deserteure und Kriegsdienstverweigerer werden bestenfalls weggesperrt. Julian Assange, dessen schlimmstes Verbrechen darin besteht, als geheim klassifizierte Unterlagen des US-Militärs, die Kriegsverbrechen US-amerikanischer Soldaten belegen, öffentlich gemacht zu haben, wird seit Jahren inhaftiert, um Nachahmer abzuschrecken, wohingegen die für völker- und kriegsrechtswidrige Folterungen Verantwortlichen wie Donald Rumsfeld und Georg W. Bush sich in Freiheit größter Ehren erfreuen.
Jeder solle sich „nicht erst im Kriege, sondern schon in Friedenszeiten auf den Krieg einüben“, heißt es in Platons Nomoi unter vermeintlicher Einsicht in die menschliche Natur. Doch sich für den Krieg zu rüsten – gemeint ist bei Platon die Verteidigung – ist etwas anderes, als den Krieg und dessen Gewaltsamkeit schon in Friedenszeiten zu verherrlichen. So wird selbst das ritualisierte Trauern um die Opfer der Kriege mit trauriger Regelmäßigkeit umgedeutet in heldenhaftes Sterben für die Verteidigung der Vaterländer. Die Gefallenen – oder sind es nicht vielmehr Ermordete? – werden zu Helden stilisiert, um noch ungekrönte Helden zu neuen, zu noch größeren Heldentaten zu motivieren. Gehuldigt wird einer wahnhaften Opferbereitschaft, die auch für den nächsten und übernächsten Krieg erhalten und geschürt werden muss. So zeigen Denkmäler für die „Gefallenen“ der Weltkriege keine zerfetzten Leiber, sondern allzu oft kraftstrotzende Behelmte mit ihren Waffen. Mit der Aufschrift „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“ ist das zwischen Stephansplatz und Dammtorbahnhof gelegene sogenannte 76er-Denkmal in Hamburg eher eine Werbefläche für die Rekrutierung von Soldaten denn eine Mahnung an die Nachkommen der Überlebenden. Selbst das vorgebliche Gedenken an die weitaus zahlreicheren zivilen Opfer moderner Kriege wird derart zur untergründigen Verklärung vermeintlich heroischer Männlichkeit umgedeutet.
Von niemandem kann man die Opferbereitschaft eines Gandhi oder die friedensstiftende Kraft eines Nelson Mandela verlangen. Dass aber die Herrscher so vieler Staaten nach wie vor mit willfährigen Helfern beim Töten der von ihnen zu äußeren wie inneren Feinden Erklärten rechnen können, ist ein Armutszeugnis der Menschheit und spottet auch in Deutschland allem Gedenken Hohn. Doch ideologische und religiöse Verblendungen der Massen sowie die Machtinteressen und die damit verbundene materielle Gier Einzelner bestimmen politisches Handeln nach wie vor mehr als Vernunft und Menschlichkeit.
Dabei gibt es zur friedlichen Aussöhnung zwischen den Völkern, den Anhängern unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse und den Streitparteien bei Konflikten um Ressourcen keine Alternative. Denn wenn die alttestamentarische Vergeltungslogik „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ weiterhin Bestand hat, ist die Menschheit bald erblindet und zahnlos.
Die nimmer enden wollenden Forderungen nach ausgleichender Gerechtigkeit durch Vergeltung des Gleichen mit Gleichem (oder besser mit noch mehr), die in trauriger Regelmäßigkeit die Zahl der Toten aller beteiligten Seiten vermehren, müssen ein Ende finden, fordert der israelische Journalist und Autor Igal Avidan in seinem Reisebericht durch Israel „und es wurde Licht“. Leid könne man nicht messen und „niemand wäre erleichtert, weil der Schmerz des anderen größer ist“, zitiert er die sich als Araberin, Palästinenserin und Muslima verstehende Noah Khatib. Die endlose, sich aus unbeantwortbaren Fragen nach Schuld und Unschuld drehende Spirale der Rachefantasien konfrontiert er mit gelungenen Beispielen gelebter Mitmenschlichkeit im Alltag zwischen Israelis und Arabern.
Mag der Mensch auch von Natur aus eine blutrünstige Bestie sein, wie es Thomas Hobbes‘ Rede vom homo homini lupus est (lateinisch für „der Mensch ist dem Mensch ein Wolf“) insinuiert und wie es von zahllosen Historikern und Psychologen belegt wurde. Doch der bellum omnium contra omnes, der „Krieg aller gegen alle“, den Hobbes für den sogenannten vorstaatlichen Naturzustand wie das Verhältnis zwischen Staaten postuliert, ist nicht unausweichlich. „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“, ist keine weltvergessene Utopie: Bertrand Russell und Muhammad Ali haben es vorgelebt. Und selbst Ciceros rhetorische Frage „Denn was könnte gegen Gewalt ohne Gewalt getan werden?“ lässt sich leicht beantworten: Da wo Gewalt als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln (Carl von Clausewitz) weder willige Helfer noch Profiteure findet, sprich da, wo Gewalt grundsätzlich als Strategie zur Konfliktlösung auf Ablehnung stößt, bedarf es auch keiner gewaltsamen Gegenwehr. Doch solange Autorität und Macht nicht auf Können und Vernunft basieren und sich hinreichend viele willfährige Vollstrecker finden, die sich gerne hinter vermeintlich starken Anführern verstecken, wird Ernst Jandls Gedicht vater komm erzähl vom krieg nichts von seiner Bitternis verlieren:
vater komm erzähl vom krieg
vater komm erzähl wiest eingrückt bist
vater komm erzähl wiest gschossen hast
vater komm erzähl wiest verwundt worden bist
vater komm erzähl wiest gfallen bist
vater komm erzähl vom krieg
Dr. Siegfried Reusch, Chefredakteur