Norbert Elias
Foto: Herrmann Korte



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der blaue reiter Ausgabe 43

 



Die Zivilisation ist noch nicht abgeschlossen

Norbert Elias im Porträt

Norbert Elias’ Buch Über den Prozess der Zivilisation hat wie kaum ein anderes Werk zu diesem Thema ein weltweites Echo gefunden. Es liegt heute in mehr als 40 Sprachen vor und findet nicht nur in der Soziologie Beachtung.

Für Elias ist der Prozess der Zivilisation nicht abgeschlossen. Er müsse weitergehen und sich entsprechend der sozialen und kulturellen Entwicklung auf immer mehr und neue Bereiche des menschlichen Zusammenlebens beziehen.

Ein bewegtes, unbeirrbares Leben

Norbert Elias wurde am 22. Juni 1897 im schlesischen Breslau geboren; er verstarb am 1. August 1990 in Amsterdam. Der Vater, jüdischer Herkunft, war Textilfabrikant. Bis zum 9. Lebensjahr wurde Elias von einem Hauslehrer unterrichtet; danach besuchte er das renommierte Johannes-Gymnasium in Breslau. Bereits hier stand sein Berufswunsch fest: „Ich wollte an die Universität, wollte lehren und forschen. Das wusste ich von klein auf, und darauf habe ich mit Beharrlichkeit hingearbeitet, auch wenn es manchmal unmöglich schien.“
Im Frühjahr 1915 meldeten sich alle Schüler seiner Oberprima (13. Klasse) zum Kriegsdienst. Elias wurde Meldegänger. Nach einer schweren Verwundung im Jahr 1917 kam er zurück nach Breslau. Dort studierte er ab 1918 Medizin und Philosophie. Nach dem Physikum in Medizin wechselte er ganz zur Philosophie. Bezüge zu den Grundlagen der Medizin beziehungsweise der Anatomie sind nach seiner Ansicht auch für die soziologische Lehre und Forschung unerlässlich, so zum Beispiel die Funktionen des Gehirns oder der Aufbau des menschlichen Nervensystems.
Elias promovierte Anfang 1924 bei dem Neukantianer Richard Hönigswald zum Doktor der Philosophie (siehe Erläuterung). Die Dissertation trägt den Titel: Idee und Individuum. Ein Beitrag zur Philosophie der Geschichte. 1925 ging Elias nach Heidelberg, um Soziologie zu studieren. Dort war der Geist des 1920 verstorbenen Max Weber noch lebendig. Elias hoffte auf eine Chance zur Habilitation bei dessen Bruder Alfred, um seinen bereits als Gymnasiast gefassten Lebenswunsch zu verwirklichen. 1930 ergab sich die Chance, als Assistent mit dem Soziologen und Begründer der Wissenssoziologie, Karl Mannheim, nach Frankfurt am Main zu wechseln.
Vor Abschluss des Habilitationsverfahrens (es fehlte nur noch der mündliche Vortrag), wenige Wochen nach der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933, floh Elias. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Schweiz kam er nach Paris. Seit der Schulzeit hatte er zur französischen Sprache und Kultur eine große Affinität. Von Paris ging Elias 1935 für ein 30 Jahre währendes Exil nach England, wo er auf eine Universitätskarriere hoffte, zumal Karl Mannheim inzwischen an der London School of Economics eine Professur inne hatte. In London, im Lesesaal des British Museum, wo schon Charles Darwin und Karl Marx bedeutende Werke verfasst hatten, schrieb er, angeregt durch Manierenbücher aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen.

 

   Der Zivilisationsprozess
   hat kein bestimmtes Ziel.

 

1954 bekam Elias an der Universität Leicester eine Dozentenstelle für Soziologie. Von 1962 bis 1964 erhielt er eine Professur an der Universität Accra in Ghana, wo er im Zusammenhang eines Staudammprojekts umfangreiche Feldforschungen betrieb. Er nutzte die Zeit auch, um afrikanische Kunst zu sammeln. Zum Winter-Semester 1965/66 hatte Elias eine erste Gastprofessur in Deutschland, in Münster. 1977 erhielt er den erstmalig vergebenen Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt in der Paulskirche überreicht.
Von 1979 bis 1984 arbeitete und lebte Elias im Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, dann verlegte er seinen Wohnsitz nach Amsterdam. Neben einigen Ehrendoktoraten erhielt Elias hohe Auszeichnungen der Bundesrepublik Deutschland und der Niederlande.
Norbert Elias verstand seine Soziologie nicht nur als eine fachbezogene Spezialwissenschaft, sondern als „Menschenwissenschaft“. Darum lautet der Untertitel der Biografie von Hermann Korte: Das Werden eines Menschenwissenschaftlers. Das Spektrum seiner eigenen kultur- und sozialgeschichtlichen Arbeiten, die verschiedene Facetten der Zivilisation beleuchten, ist sehr breit. Die Arbeiten, die auf vielen Gebieten des sozialen, politischen und kulturellen Lebens seinem Ansatz folgen, sind kaum überschaubar.

Der Prozess der Zivilisation

Habent sua fata libelli (lateinisch für „Bücher haben ihre Schicksale“) – dieser Ausspruch aus einem Lehrgedicht des Römers Terentius Maurus trifft auf das Hauptwerk von Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, in besonderer Weise zu. Die Erstausgabe erschien 1939 in Basel. Wegen des Kriegsausbruchs und auf Grund der jüdischen Herkunft des Autors war die Resonanz gering. Das Werk geriet weitgehend in Vergessenheit, bis es Ende der 1960er-Jahre wiederentdeckt wurde und eine große Resonanz erfuhr. Allein bis 1990 sind 15 Auflagen erschienen.
In den autobiografischen Notizen, Über sich selbst, sagt Elias über die Absicht des Werks: „Was ich wirklich wollte, war, den Schleier der Mythologien durchbrechen, der unser Gesellschaftsbild verhängt, damit die Menschen vernünftiger und besser handeln können.“ Die enge Verschränkung der die gesellschaftliche Entwicklung begleitenden psychischen und sozialen Prozesse sollte die „zivilisatorische Veränderung von Menschen und die eng damit verbundene langfristige Verwandlung der staatlichen Integrationsebene von Menschen mit Hilfe von detaillierten empirischen Belegen in den Griff bekommen.“
Der erste Band trägt den Untertitel Wandlungen des Verhaltens in den westlichen Oberschichten des Abendlandes. Den Analysen ist ein umfangreiches Kapitel zum Gegensatz von Kultur und Zivilisation in Deutschland und zur „Soziogenese des Begriffs civilisation in Frankreich“ voran gestellt. Der Zivilisationsbegriff beziehe sich auf sehr verschiedene Fakten: Auf den Stand der Wissenschaft und Technik, auf Wohnstandards und vieles mehr. Er bringe „das Selbstverständnis des Abendlandes zum Ausdruck“. Im deutschen Sprachgebrauch und Verständnis sei Zivilisation zwar etwas Nützliches, aber gegenüber der Kultur, die sich im Kern auf geistige, künstlerische und religiöse Grundlagen beziehe, doch von geringerer Bedeutung. Der französische und englische Begriff von Zivilisation sei umfassender. Gleichwohl lasse der Zivilisationsbegriff die nationalen Differenzen zwischen den Völkern bis zu einem gewissen Grad zurücktreten; er akzentuiere, was allen Menschen gemeinsam ist oder sein sollte.
Im zweiten Kapitel behandelt Elias in historischer Perspektive, wie sich seit dem hohen Mittelalter das menschliche Verhalten durch den Zivilisationsprozess veränderte und heutige Zivilisationsstandards zum Vorschein kamen. Seine wichtigste Quelle waren sogenannte Manierenbücher des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Die Durchsetzung neuer Sitten und Gebräuche ging vom Adel aus, wurde vom Bürgertum der Städte übernommen und erreichte nach Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert breitere Sozialschichten. Elias erläutert die Veränderungen der Verhaltensweisen unter anderem an folgenden Beispielen: Verhalten beim Essen und der sich nur langsam durchsetzende Gebrauch von Essbesteck; Wandel in der Einstellung der Verrichtung der natürlichen Bedürfnisse, mit einer stetig ansteigenden Peinlichkeits- und Schamschwelle; die Ächtung von Schneuzen und Spucken in der Öffentlichkeit.
Dem Zivilisationsprozess ist inhärent, so Elias, dass aus Fremdzwängen der Verhaltenssteuerung durch Verinnerlichung der geforderten Standards Selbstzwänge werden. Der Regelung von Geschlechtlichkeit und Sexualität kommt hierbei eine Schlüsselposition zu. Die Umformung, Regelung, Zurück- und Geheimhaltung des Trieblebens wird mit der Zeit zu einer der wichtigsten Erziehungsaufgaben der Familien. Diese Verhaltensstandards führten im Wohnbereich zu neuen Formen des Familienlebens. Was das für den Haus- beziehungsweise Wohnungsgrundriss bedeutete, hat die historisch-soziologische Wohnforschung herausgearbeitet.
Es ist nur zu offenkundig, dass Elias dem damals einflussreichen psychoanalytischen Werk von Sigmund Freud (1856-1939) grundlegende Einsichten über die Regulierung des Triebhaushalts verdankte. Das hat er immer wieder betont, zugleich aber auch den Unterschied klar gemacht. Hermann Korte fasst Einfluss und Differenz wie folgt zusammen: Aller innerer Zwang sei in der Menschheitsgeschichte zunächst äußerer Zwang gewesen. Elias habe auf der Basis seiner Materialien darstellen können, wie aus dem Fremdzwang Selbstzwang wurde, also etwas, das vom Individuum selbst gewollt wurde und zugleich den Individualisierungsprozess voran brachte. …

Autor: Bernhard Schäfers