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Fritz-Peter Linden: Denis Diderot, 2021; Zeichnung

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Fritz-Peter Linden: Denis Diderot, 2021; Zeichnung



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der blaue reiter Ausgabe 49

 



Voraussetzung jeder Moral ist die Gleichheit aller Menschen

Denis Diderot im Porträt

Diderot zählt zu den großen philosophes der französischen Aufklärung: Er ist Philosoph, Kunst- und Literaturtheoretiker, zugleich auch Bühnenautor, Romanschriftsteller und Verfasser zahlreicher Erzählungen. Außerdem schreibt er Essays und zahllose Artikel in der berühmten Enzyklopädie, die er maßgeblich mitgestaltet und vorantreibt. Darüber hinaus ist er in hohem Maße an Naturwissenschaften und Medizin interessiert und publiziert auch auf diesen Gebieten. Nicht zuletzt steht er im Gedankenaustausch mit zahlreichen berühmten Persönlichkeiten – Philosophen und Wissenschaftlern – seiner Zeit.

Geboren wird Diderot am 5. Oktober 1713 in Langres (Champagne) als Sohn von Angélique Vigneron und dem Messerschmied Didier Diderot. Dort besucht er von 1723–1728 ein Jesuiten-Kolleg und plant, in den Jesuiten-Orden einzutreten. Im Jahr 1728 oder 1729 wechselt er nach Paris, wo er wohl zunächst ein jesuitisches und ein jansenitisches Kolleg besucht, ehe er 1732 für drei Jahre an die Sorbonne zum Studium geht. In den Folgejahren verfolgt er Vorlesungen zur Mathematik, zur Anatomie und zur Medizin. Im Anschluss arbeitet er für zwei Jahre als Anwaltsgehilfe; als er die Stelle aufgibt, stellt sein Vater die finanzielle Unterstützung ein. Daraufhin beginnt Diderot, von Gelegenheitsarbeiten und Übersetzungen zu leben. 1743 reist Diderot in seinen Geburtsort, um die Heiratserlaubnis seines Vaters zu erhalten – der aber versucht, ihn in einem Kloster festzuhalten. Ihm gelingt jedoch die Flucht, und er ehelicht ohne den Segen seines Vaters die Näherin Anne-Antoinette Champion, mit der er vier Kinder hat, von denen drei früh versterben.

 

   „Man soll von mir verlangen,
   dass ich die Wahrheit suche,
   aber nicht, dass ich sie finde.“
   (Denis Diderot)

 

Im Jahr 1746 erscheinen Diderots Philosophische Gedanken, eine erste kurze philosophische Abhandlung, die ihn als Philosophen der Aufklärung ausweist (siehe Erläuterung). In einigen ihrer Passagen wird bereits Diderots Vorliebe deutlich, Gedanken dialogisch zu entwickeln. Auch für Diderot wichtig bleibende Themen werden darin angesprochen: die Aufwertung der Leidenschaften sowie die kritische Auseinandersetzung mit der Religion. Mit diesem Text beginnt wohl Diderots Abwendung vom Theismus über einen Deismus hin zum Atheismus (siehe Erläuterungen).
Ein Jahr später, 1747, entstehen der lang unveröffentlicht gebliebene Text Der Spazierweg des Skeptikers oder die Alleen und der Roman Die indiskreten Kleinode, die wiederum ein Jahr später publiziert werden und einen Skandalerfolg erzielen. Der Spazierweg des Skeptikers beschreibt drei Wege: Die „Dornenallee“, einen religiös geprägten (Lebens-)Weg, den Weg der ruhigen, philosophisch-wissenschaftlich aufzufassenden „Kastanienallee“ und schließlich die „Blumenallee“ – die mit Märchen, Spiel und Fiktionen zu tun hat. Die indiskreten Kleinode erscheinen anonym 1748. Im Mittelpunkt dieses erotischen Romans steht ein Ring, der seinen Träger unsichtbar macht und – wird er auf eine Frau gerichtet – deren Geschlechtsteil zum Reden bringt. So werden intimste Geheimnisse dem Besitzer des Rings, einem Sultan, bekannt. Zutage gefördert werden so Heuchelei, Korruption und Verlogenheit am Hof, wobei der Hofstaat des französischen Königs gemeint sein dürfte. Zudem enthält der Roman satirische Passagen, die unter anderem Philosophie und Religion betreffen. Diskutiert wird beispielsweise, ob die Seele von Kindern nicht zunächst in ihren Füßen und dann in den Beinen sitzt, und erst später in die oberen Körperteile gelangt!
1749 erscheint das erkenntnistheoretische Werk Brief über die Blinden mit dem Untertitel Zum Gebrauch für die Sehenden. In ihm denkt Diderot über die Erkenntnismöglichkeiten von Blinden nach, die über einen anderen Weltzugang als die Sehenden verfügen, und erwägt, ob sie eine andere Metaphysik (siehe Erläuterung) und eine andere Moral haben als die Sehenden. Erörtert wird unter anderem auch, ob ein Mensch, der von Geburt an blind ist, Gott überhaupt erkennen könne, da er ja dessen (vermeintlich wundersame) Werke schließlich nicht sehen könne. Im selben Jahr wird Diderot wegen seiner Werke beziehungsweise seiner Religionskritik für mehrere Monate inhaftiert; aufgrund eines schriftlichen Geständnisses und des Versprechens, sich künftig wohl zu verhalten, wird er freigelassen.
Noch im gleichen Jahr lernt Diderot Baron Paul Henri Thiry d’Holbach kennen – einen der radikalen Aufklärer. Er wird von da an häufiger Gast des Barons und taucht in dessen Haus in eine Sphäre freier Diskussion ein, was aber angesichts drohender staatlicher Repressionen im Verborgenen bleiben muss. Debattiert werden hier wie auch im Haus von Claude Adrien Helvétius, wo sich Diderot ebenfalls immer wieder aufhält (und David Hume während seines Frankreichaufenthalts dazu stößt), in intellektuellen Zirkeln materialistische, evolutionistische und religions- beziehungsweise kirchenkritische Thesen. Hinzu kommen Themen aus dem Bereich des Politischen und der privaten Lebensgestaltung, die nicht mit den herrschenden Tugendvorstellungen einhergehen. Vor allem das Ausleben der Sinnlichkeit des Menschen wird dabei positiv beurteilt, was in den Augen konservativer Zeitgenossen wohl eher als schlimmes Laster und furchtbare Ausschweifung betrachtet wird. Erörterungen von erdgeschichtlichen und anderen naturwissenschaftlichen Thematiken verdeutlichen dabei den Gegensatz zu biblischen Auffassungen, etwa wenn es um die Entstehung der Erde und der Tierarten beziehungsweise des Menschen geht. Für den damaligen Status quo inakzeptabel sind zweifelsohne die erörterten revolutionären politischen Ideen, die eine Abschaffung des Ständestaats und die Einführung einer solidarischen Gesellschaft beinhalten. Solche Themen zu diskutieren war nicht ungefährlich – drohten doch schwere Strafen.
Schon seit 1746 arbeitet Diderot an dem Werk Enzyklopädie oder erklärendes Wörterbuch der Wissenschaft, der Kunst und des Handwerks (Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers), das er zusammen mit Jean Le Rond d’Alembert, einem der führenden Mathematiker seiner Zeit, herausgibt. Anfang 1752 erscheint der erste Band und schon im selben Jahr erfolgt ein Verbot des Werks, dessen weiteres Erscheinen dann aber stillschweigend geduldet wird. Gleichwohl müssen sich die Autoren vor der Zensur hüten. Vor allem in konservativen und kirchlichen Kreisen regt sich heftiger Widerstand gegen das Werk. Gleichwohl schreibt Diderot weitere Artikel, insgesamt werden es tausende, und gibt einen Band nach dem anderen mit heraus. Das Projekt, an dem 140 Beiträger mitwirken, darunter zwischenzeitlich auch Voltaire, Jean-Jacques Rousseau, Baron de Montesquieu, Anne Robert Jacques Turgot und d’Holbach, soll das gesamte damals verfügbare Wissen aufnehmen und allgemein zugänglich machen. Ziel ist die Aufklärung der Menschen, denen unter anderem auch vor Augen geführt wird, dass die „Wiedergaben“ der Bibel nicht glaubhaft sind respektive keine Fakten präsentieren. Infrage gestellt wird überdies die moralische Autorität der Bibel. Durch die Lektüre der Enzyklopädie sollen die Menschen die Welt besser verstehen können. Wichtig ist die Kritik an Institutionen, die aus aufklärerischer Perspektive zum Unglück der Menschen beitragen: der Ständestaat beziehungsweise die Fürstenherrschaft und die Religion, die mitsamt der von ihr verbreiteten und aufrecht erhaltenen Moral vielfach Gegenstand der Kritik wird – oft „getarnt“ in unverfänglich scheinenden Artikeln. Trotz aller Widerstände wird die Enzyklopädie ein großer Erfolg: Bis ins Jahr 1789 erreicht sie eine Auflage von ca. 25000 Exemplaren. Bis 1765 ist sie auf insgesamt 17 Textbände angewachsen; hinzu kommen noch etliche Tafelbände mit Illustrationen.
Aus Diderots selbst verfassten Artikeln aus der Enzyklopädie lassen sich seine Politische Philosophie und seine Ethik entnehmen. So hält Diderot in dem Artikel „Naturrecht“ fest, dass der Mensch, der nur seinem eigenen und von den anderen abgesonderten Willen folgt, ein Feind der Menschheit sei. Es bestehe eine Sozialverpflichtung der Menschen. Wer sich gemäß dem allgemeinen Willen verhalte, denke darüber nach, was Menschen voneinander zurecht erwarten dürfen. Dabei gehöre zur Moral ein grundlegender Gleichheitsgrundsatz.
Ferner vertritt Diderot in seiner an John Locke orientierten Politischen Philosophie vertragstheoretische Auffassungen: Im Naturzustand (also bevor es Staaten und ihre Gesetze gibt) seien alle Menschen gleich, frei und vernünftig, und somit auch zum moralischen Urteilen fähig. Demgemäß wären sie in der Lage, frei und verantwortlich Verträge einzugehen. Und wegen der im Naturzustand herrschenden Unsicherheit würden die Menschen einen Gesellschaftsvertrag abschließen, in dem ein gemeinsamer Wille zum Ausdruck käme. Der Zweck des Vertrages sei es, die den Menschen zukommenden unveräußerlichen Naturrechte zu bewahren, auch wenn der Naturzustand verlassen beziehungsweise überwunden wird und die Menschen eine Gesellschaft bilden respektive einen Staat errichten. Diese natürlichen Rechte hat im Staat der Souverän zu schützen. Gleiches gilt für die Gleichheit der Menschen, was auf die Abschaffung aller Privilegien und der Stände hinausläuft. Auch das Recht auf Freiheit ist nicht aufhebbar. Gleiches gilt für das Privateigentum, welches zum Nutzen der Gemeinschaft verwendet werden soll.
Der Vertrag zwischen den Bürgern und den Herrschenden ist damit ein Herrschaftsvertrag, kein Unterwerfungsvertrag – anders als bei Thomas Hobbes, demzufolge die Bürger sich einem Herrscher unterwerfen, der ihnen im Gegenzug Schutz bietet. Folglich darf der Diderot’sche Vertrag von den „Beherrschten“ aufgekündigt werden. Die nach Diderot vorzusehende Verfassung ist folgerichtig für alle verbindlich, also auch für den Souverän, was eine absolute Monarchie ausschließt. Tatsächlich plädiert Diderot für eine demokratische Staatsform. Vorgesehen wurde von ihm zudem ein Widerstandsrecht insbesondere des dritten Standes gegen vertragsbrüchige Herrscher. Selbst ein Recht auf Revolution wurde (in späteren Schriften) von Diderot eingeräumt. Entsprechend schätzt er auch die Amerikanische Revolution. …

Autor: Wulf Kellerwessel