Siegfried Reusch
Chefredakteur
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der blaue reiter Ausgabe 48

 



Eine Frage des Maßes


Das Schlagwort „Nachhaltigkeit“ ist vom jahrzehntelangen Nischenthema sandalentragender Ökoromantiker in Naturschutzgruppen zum Zentrum des aktuellen gesellschaftlichen Diskurses geworden. Nicht zuletzt die Stimmen der in Fridays for Future organisierten, um ihre Zukunft bangenden Jugendlichen verunmöglichen Politikern und Managern ihr eingeübtes Spiel des Abwiegelns und Beschwichtigens mit anschließendem ungebremstem „Weiter-wie-bisher“.
Die Forderung nach einer „nachhaltigen“ Wirtschaftsweise, die natürliche Ressourcen dauerhaft sichert, findet sich jedoch schon in dem 1713 erschienenen Buch Sylvicultura oeconomica oder haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur wilden Baum-Zucht des sächsischen Beamten Hans Carl von Carlowitz. Eine nachhaltige Bewirtschaftung des Waldes bedeutet für den Sohn eines Oberforstmeisters, nur so viel Holz einzuschlagen, wie im Entnahmezeitraum wieder nachwächst. Damit stellt er die langfristige Belastbarkeit des Ökosystems Wald über eine nur kurzfristige Orientierung an der Nachfrage des Markts und versöhnt die scheinbaren Widersacher Ökonomie und Ökologie.
Fast ein Jahrhundert zuvor hatte Baruch de Spinoza den Grundtrieb des Menschen als „Bewahrung seines eigenen Seins“ festgeschrieben, lateinisch suum esse conservare. Galt René Descartes der Mensch noch als Meister und Besitzer der Natur, der sich in göttlichem Auftrag die Erde untertan macht, sind Natur und Gott für Spinoza zwei Namen für ein und dieselbe „Sache“. Gott ist für ihn kein außerweltliches Wesen, sondern der Kosmos als Ganzes. Darin eingebettet sei der Mensch nicht die Krone der Schöpfung, sondern schlicht ein Teil unter vielen, das als solches mit dem Ganzen und jedem anderen Teil verbunden sei. Um nicht das Ganze und damit sich selbst zu gefährden, liege es in der Natur der Vernunft, nicht danach zu trachten, sich über die Natur zu stellen, sondern sich in deren Abläufe einzufügen.
Weil dies unter der marktwirtschaftlichen Prämisse effizienzorientierter Gewinnmaximierung in einem zwischenzeitlich weltweiten Konkurrenzkampf allzu lange nicht beherzigt wurde, sind die Folgen des Klimawandels ebenso unübersehbar geworden, wie die Rufe nach einer nachhaltigeren Wirtschaftsweise unüberhörbar sind. In der Debatte darüber, was wann warum zu tun ist, gehen allerdings die Meinungen auseinander. Ist eine Absenkung des westlichen Lebensstandards unausweichlich, ist es dafür vielleicht sogar schon zu spät oder ist der Schlüssel zur Nachhaltigkeit gerade dort zu finden, wo die Ursache ungewöhnlicher Wetterphänomene begründet liegt: in noch mehr Technik?
Durch die Rückführung komplexer Naturvorgänge auf elementare, mathematisch beschreib- und berechenbare Prozesse ist es den Naturwissenschaftlern gelungen, dass immer mehr Lebensmittel für eine wachsende Anzahl an Menschen produziert werden können sowie ungeahnte Möglichkeiten der Mobilität und Kommunikation geschaffen wurden. Doch wo das Rettende wuchs, so könnte man in Umkehrung einer Gedichtzeile Friedrich Hölderlins resümieren, wuchs auch die Gefahr. Denn neben all den Segnungen brachte der menschliche Erfindungsgeist auch eine weltweite Ungleichverteilung von Reichtümern, die Atombombe sowie Unmengen an Umwelt- und Klimagiften hervor. Entsprechend ist Skepsis berechtigt, wenn Naturwissenschaftler und Politiker glauben machen möchten, dass es gelingen könne, allein durch technische Innovationen wie die CO2-Speicherung in Gesteinsschichten im Rahmen eines Geoengineerings den Klimawandel zu bändigen. Nicht wenige sind zwischenzeitlich der Überzeugung, dass gerade die eindimensionale naturwissenschaftliche Art der Vereinfachung komplexer Sachverhalte selbst das Problem ist. Gefordert wird deshalb immer wieder eine andere, eine „organische“ Art zu denken, die das Ganze nicht nur als Summe seiner Teile erachtet und mehr als nur das mathematisch Berechenbare in die Überlegungen einbezieht. Aus rein rationaler betriebs- und volkswirtschaftlicher Sicht ist zum Beispiel eine Generationen übergreifende Ethik überflüssig. So wie eine Maschine aussortiert wird, wenn sie nicht mehr den gewünschten Profit abwirft, ließen sich auch unproduktive Kranke und Alte aussortieren. Die Natur macht es vor: Wird der Leitlöwe alt und schwach, findet sich alsbald ein junger kräftiger, der den alten Anführer sowie dessen Junge tot beißt und das Rudel übernimmt. Doch wie nur allzu oft ist auch hier offensichtlich, dass sich aus den Abläufen der Natur keine Werte für das menschliche Zusammenleben destillieren lassen. Liegt doch die Würde des Menschen jenseits der beobachtbaren Naturvorgänge wie auch jenseits nüchterner Kosten-Nutzen-Kalküle. Gerade Gefühle wie die, künftigen Generationen etwas schuldig zu sein, Alte und Kranke eben nicht zum ökologisch verträglichen Schnellableben bewegen zu wollen, sind es, die den Menschen als Menschen auszeichnen.
Schwierig wird es jedoch, wenn man die Frage beantworten muss, was genau wir künftigen Generationen schulden. Diskutiert wird diesbezüglich, ob sich mithilfe der „Theorie der Gerechtigkeit“ des amerikanischen Ethikers John Rawls nicht nur Pflichten innerhalb einer Generation, sondern auch solche gegenüber zukünftigen ermitteln lassen. In Gedankenexperimenten werden hierfür gesellschaftliche Regeln gesucht, auf die sich alle vernünftigen Menschen unter Absehung ihrer aktuellen und zukünftigen Stellung in der Gesellschaft einigen könnten. Auch wenn niemand die Entwicklungen der Zukunft mit Sicherheit voraussagen kann, kommt Kirsten Meyer zu dem Schluss, dass zumindest für alle Handlungen, die auf die natürlichen Lebensgrundlagen künftiger Generationen einen negativen Einfluss haben, eine Rechtfertigung verlangt werden könne. Aber ist es gerecht, durch Beschränkung der Nutzung natürlicher Güter zugunsten zukünftiger Generationen die Entwicklung und freie Entfaltung der aktuell Lebenden einzuschränken?
Die Anleitungen zu einem dann solchermaßen durch Vernunft bestimmten Leben seien erfahrungsgemäß Rezepte für das Unglücklichsein, so der Ökonom Fred Luks. Schließlich lebe man nicht für das Zweckmäßige, „sondern für das, was darüber hinausgeht, für die Momente, die eben nicht aufgehen in irgendeinem betriebswirtschaftlichen Nutzen“, zitiert er die Ansprache des Schriftstellers Navid Kermani im Rahmen eines Konzerts des WDR-Sinfonieorchsters. Aus der Begrenztheit der Ressourcen folge nicht zwingend die Pflicht zur Selbstbeschränkung. Verschwendung, so Luks mit Bezug auf George Batailles „Antiökonomie“, gehöre zum Mensch-Sein: Der Mensch ist von Natur aus maßlos und unvernünftig. Statt das Maßlose moralisch zu verteufeln, bedürfe es eines vernünftigen Umgangs mit der Unvernunft des Menschen. Maßlosen Forderungen zur Mäßigung erteilt er eine klare Absage. Vor allem brauche Nachhaltigkeit weniger Moral und mehr Fantasie.
Die Verurteilung der Sinnlichkeit gilt schon Johann Gottfried Herder als ein verbreitetes Vorurteil: Eine Idee, die vom Dasein unseres Körpers absieht, könne es in unserem Geist nicht geben, denn: „Uns und die Welt zu genießen: das war Absicht der Natur.“ Entsprechend erachtet der Seelsorger und Vater von sieben Kindern, dem nichts Menschliches fremd war, die Leidenschaften des Menschen nicht als Defizite, sondern als naturnotwendig. Das Gesetz des sinnlichen Begehrens gehöre zu den unverbrüchlichen Naturgesetzen und sei demnach gut. Sein Begehren zu moderieren, gehöre zu den Leistungen, die jeder im Rahmen seiner sozialen Beziehungen erbringen müsse.
Norbert Bolz zufolge ist das ökologische Problembewusstsein in eine kollektive Angstreligion umgeschlagen. Anstelle von rationaler Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen richte sich politisches Handeln in unserer durch die Wissenschaften entzauberten Welt nurmehr an medial erzeugten emotionalen Erregungszuständen aus. Statt „Was darf ich hoffen?“ frage die heutige Religiosität „Was muss ich fürchten?“ Anders formuliert: Die Theologie des Weltuntergangs sei durch die Ökologie des Weltuntergangs ersetzt worden. „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“, diesen sogenannten ökologischen Imperativ von Hans Jonas hält Bolz für eine Zumutung. Würden dem Einzelnen derart doch nicht nur Pflichten gegen seinesgleichen, sondern auch gegenüber der ganzen Welt aufgebürdet. Das Prinzip Verantwortung, so auch der Titel des Buchs von Jonas, sei eine „Ethik der Furcht vor unserer eigenen Macht“.
Für viele hat diese Macht zwischenzeitlich die Form der Ohnmacht angenommen. Und in der Tat liegt der Schlüssel zur Lösung der aktuellen Umweltprobleme weniger in der Ratio als im Bereich der Gefühle. Denn das Wesen des Menschen erschöpft sich nicht in seinem instrumentellen Verstand. Maßgeblich ist auch der menschliche Körper und mithin dessen Bedürfnisse nach Lust sowie seine Verletzlichkeit. Leben heißt „leben von“ und „leben von“ heißt genießen, schreibt Corine Pelluchon. Nahrung ist für sie kein „Treibstoff“ und Essen entsprechend etwas anderes als Tanken. Gerade weil die Welt Nahrung für den Menschen sei, müssten wir Heideggers „In-der-Welt-Sein“ durch ein „Mit-der-Welt-Sein“ ersetzen.
Das einfache dualistische Weltbild mit der Entgegensetzung Mensch versus Natur beziehungsweise Natur versus Technik ist überholt. Auch in Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit von Natur gibt es nichts außerhalb der Natur! Natur ist weder das Andere der Kultur noch das Andere des Menschen, sondern der Mensch ist selbst Natur und die von ihm geschaffene Technik Teil seiner Natur. Gernot Böhme spricht diesbezüglich von der „Natur, die wir selbst sind“. Gleichwohl ist die naturbelassene, die natürliche Natur für den Menschen ebensowenig ein Paradies, wie es eine rein virtuelle Existenz je sein könnte. Die Natur ist kein Widerstand, den es immer neu zu überwinden gilt, sie muss vielmehr als lebendiges Ganzes im Blick bleiben. Souverän ist der Mensch erst dann, wenn er seine Leiblichkeit und mithin sein Natursein anerkennt.
Angesichts der aktuellen Probleme ist Naturphilosophie keine spekulative Hybris, sondern überlebensnotwendig. Dabei ist die vielerorts gepflegte apokalyptische Untergangsrhetorik ebenso fehl am Platz wie eine kritiklose Begeisterung für Großtechnologien, die prinzipielle Ablehnung gegenüber technischen Innovationen ebenso verfehlt wie stoische Schicksalsergebenheit. Keine Generation ist dazu verurteilt, so zu leben wie ihre Vorfahren. Umweltverändernder technischer Fortschritt und gesellschaftliche Innovationen gehören ebenso zum Wesen des Menschen wie die Vermögen zu Selbstreflexion, Literatur und bildender Kunst. Problematisch ist nicht die Macht, welche die Erkenntnisse der Naturwissenschaften der Menschheit verleihen, die wirklichen Probleme sind die kulturellen Mechanismen und die Herrschaftsansprüche Einzelner, die Menschen dazu bringen, sie destruktiv einzusetzen.

Dr. Siegfried Reusch, Chefredakteur