Pepa Salas Vilar: Friedrich Wilhelm Christian Carl Ferdinand von Humboldt, 2020;
Acryl auf Leinwand, 40 x 30 cm



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der blaue reiter Ausgabe 46

 



Bildung ist die Bestimmung des Menschen

Wilhelm von Humboldt im Porträt

Keine Sonntagsrede in der Bildungspolitik und kein programmatisches Papier zu Schule und Universität, das ohne den Namen Wilhelm von Humboldt auskommen könnte. Aber die Zusammenstellung der Worte „Bildung“ und „Humboldt“ ist längst leer geworden. Deshalb spricht die Forschung vom „Mythos Humboldt“ und meint damit den zum Gemeinplatz entleerten Namen eines Gelehrten, dessen Ideen auf Schlagworte verkürzt sind und dessen Philosophie und Politik nur noch Bildungshistoriker kennen.

Wilhelm von Humboldts Werk ist vor allem deshalb unbekannt, weil es im 20. Jahrhundert wiederholt für verschiedene Zwecke instrumentalisiert wurde. Als um etwa 1900 die Vorstellung einer besonderen deutschen Universitätsidee an Geltung gewonnen hatte, wurden Humboldts Schriften zur Begründung für deren Weltgeltung herangezogen. Vor allem Wissenschafts- und Bildungspolitiker wie der Theologe Adolf Harnack und der Kulturpädagoge Eduard Spranger popularisierten die Schriften Humboldts. Neu aufgefundene Manuskripte wie Humboldts Denkschrift über die äußere und innere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin oder der bis dahin unbekannte Litauische Schulplan wurden zu „Grundschriften“ für die überzeitliche Idee der deutschen Universität stilisiert. Dazu wurden Humboldts Schriften umgedeutet und auf wenige Formeln verkürzt. Bis heute viel zitiert wurden und werden Humboldts Formulierung über die Wissenschaft „als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes“ und seine Bemerkung, dass sich Wissenschaft in „Einsamkeit und Freiheit“ vollziehe. Doch begründet wurde damit schon vor hundert Jahren nur die Fassade einer deutschen Wissenschaft, hinter der dann ausgerechnet die auf die hochspezialisierte Forschung ausgerichteten Kaiser-Wilhelm-Institute etabliert wurden. Nach dem I. Weltkrieg wurde eine reine, von keinem Nützlichkeitsdenken geprägte deutsche Universität mit dem Bezug auf Humboldt noch stärker idealisiert, der weder die inzwischen zu Massenuniversitäten angewachsenen Institutionen entsprachen noch deren unrühmliche Rolle während des Krieges. Nach dem II. Weltkrieg wurde Humboldts Humanismus in restaurativer Absicht gerne in West und Ost zitiert als der Garant einer Bildung, die nichts von der modernen Spezialisierung weiß und dem kruden Materialismus der Gegenwart das Humane des Menschen entgegensetze. So verkürzt ging fast alles verloren, was Humboldts Leben und Werk ausmacht.

Biografie einer gelingenden Bildung

Das bürgerliche Elternhaus und die Pädagogik der Aufklärung sind die ersten Prägungen der Vorstellung Humboldts darüber, was Bildung des Menschen bedeutet und Freiheit ausmacht. Seine Eltern Alexander Georg von Humboldt und Marie-Elisabeth Colomb gehörten der Elite preußischer Beamtenfamilien an, die im aufgeklärten Absolutismus die Länder verwalteten. Die Eltern Humboldt dachten nicht nur in Vorurteilen ihres Standes, sondern auch in Vorstellungen der Aufklärung (siehe Erläuterung). Und so engagierten sie bedeutende Aufklärer als Lehrer für ihre beiden Söhne. Gelehrt wurde das ganze Wissen ihrer Zeit: Botanik, Physik und Geografie, die Sprachen Griechisch, Latein und Französisch, dann auch Mathematik, Philosophie und Theologie, Ökonomie, Technologie und Naturrecht, und auch das Zeichnen. So ausgebildet und so gebildet wurden die Brüder Humboldt bald schon Teil der aufgeklärten Kreise in Berlin, studierten die schottischen Aufklärer, lernten den Weltweisen Moses Mendelssohn kennen und diskutierten die ersten Schriften Immanuel Kants.
Das alles entsprach Bilderbuch-Karrieren der Aufklärung, das heißt der Idee, dass der Mensch durch Erziehung verbessert werden könne. Der Enthusiasmus für Bildung in diesem so umfassenden Sinn begann hier und gehört historisch der Vorstellungswelt des Wolffianismus zu. Gemeint ist damit eine vor allem auf Gottfried Wilhelm Leibniz zurückgehende Philosophie, die dem Menschen fast alles Gute und eine schier grenzenlose Erkenntnis zutraut. Christian Wolff hatte als Schüler Leibniz’ dessen Philosophie systematisiert und gezeigt, dass die Selbstaufklärung des Menschen gelingen kann, weil Gott in seiner Gnade den Menschen dazu befähigt hat, sich über sich selbst auszusprechen, das prinzipiell unerkennbar Individuelle in der dem Menschen möglichen Klarheit auszusagen und die Ganzheit des Universums näherungsweise zu erkennen.

 

   Bilden kann sich nur der Mensch,
   der nicht von den Zwängen
   des Brot­erwerbs eingeengt ist.

 

Wilhelm von Humboldt konnte seine Studien 1787 zunächst in der nahegelegenen Brandenburgischen Universität Frankfurt fortsetzen, wechselte aber nach einem Semester zum Frühjahr 1788 an die neben Halle damals führende Universität Göttingen. Auch in Göttingen waren es die Aufklärer wie der Physiker und Philosoph Georg Christoph Lichtenberg, der Altphilologe und Begründer der modernen wissenschaftlichen Bibliothek Christian Gottlob Heyne und der für seine Zeit überragende Naturkundler Johann Friedrich Blumenbach, später auch der Naturforscher und Reiseschriftsteller Georg Forster, die alle für Wilhelm und seinen Bruder Alexander von prägender Bedeutung waren. Von ihnen war zu lernen, wie die Welt erforscht, das gewonnene Wissen formuliert und die Erkenntnisse angewendet werden konnten. Von Blumenbach übernahm Humboldt die Idee eines dem Menschen angeborenen Bildungstriebs. Wie alles in der Natur danach strebt, sich seiner gegebenen Form nach zu entwickeln, so tue es auch der Mensch. 1789 beendete Humboldt sein Universitätsstudium nach den damals üblichen vier Semestern und brach mit seinem Lehrer Joachim Heinrich Campe zu einer Reise in das revolutionäre Paris auf. Humboldt war ebenso fasziniert wie schockiert von den Ereignissen. Überwiegend distanziert kehrte er noch im August 1789 über das Rheinland und die Schweiz zurück, 1790 trat er in den preußischen Staatsdienst. Das entsprach seinem Stand und erlaubte ihm, seine Verlobte Caroline von Dacheröden heiraten zu können, auch sie eine im Geist der Aufklärung erzogene Tochter aus dem Beamtenadel. Doch schon im Mai 1791 und damit noch vor der Hochzeit in Erfurt am 29. Juni 1791 ersuchte Humboldt um seine Entlassung nach. Caroline und Wilhelm von Humboldt lebten die ersten Jahre auf den Dacherödenschen Gütern bei Erfurt, dann ab 1794 in Jena, nicht weit von Friedrich Schiller entfernt. Damit ist neben der Aufklärung ein zweiter für Humboldt so prägender Einfluss benannt, der Idealismus der Weimarer Klassik.
Die Kündigung und der Umzug nach Jena waren die Folge einer leidenschaftlichen Anhänglichkeit an Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller. Beide hatten Caroline und Wilhelm von Humboldt schon 1789 in Weimar kennengelernt. Während ihrer Zeit auf dem Familiengut bei Erfurt studierte das Paar die griechischen Klassiker und teilte mit Goethe und Schiller die Begeisterung für die Antike. Das griechische Altertum war ein Ideal und damit eine Richtschnur dafür, was der Mensch im idealen Sinne sein kann und zu was er sich auszubilden habe. Humboldts Schrift Über das Studium des Altertums und des Griechischen insbesondere von 1793 ist ein erstes Zeugnis für diesen Enthusiasmus für die verlorene und wiederzugewinnende Antike. Pathetisch schreibt Humboldt im 33. Abschnitt: „Es zeigt sich daher in dem Griechischen Charakter meistentheils der ursprüngliche Charakter der Menschheit überhaupt.“ Die ursprüngliche Idealität des Menschen als Maßstab für die eigene Bildung war ein Anspruch, der über den der Aufklärung hinausging. In Erfurt und Weimar wurde aus der Bildung der Aufklärung ein idealistisches Projekt. Wer den Briefwechsel zwischen Caroline und Wilhelm von Humboldt heute wieder liest, gewinnt eine Vorstellung davon, wie ernst es den Humboldts war, dieses Ideal auch zu leben. Die Porträtbüste Humboldts, die der Bildhauer Bertel Thorvaldsen 1808 in Rom geschaffen hat und heute im Thorvaldsen-Museum in Kopenhagen zu finden ist, stellt die in diesen Kreisen gängige idealische Antikisierung des eigenen Lebens sinnfällig vor Augen.
Nach dem Tod ihrer Mutter Elisabeth von Humboldt 1796 waren die Söhne finanziell unabhängig. Während Alexander das Kapital zur Finanzierung seiner Forschungsreisen nutzte, versuchte das Ehepaar Humboldt wie so viele deutsche Künstler dieser Zeit nach Rom zu gelangen. Napoleons Italien-Feldzug 1796/97 hatte freilich diese Pläne durchkreuzt und so zog die junge Familie nicht auf das elterliche Schloss, sondern in das revolutionäre Paris. Napoleon war die zentrale Figur dieser Welt und sollte sie für Humboldt und seine Generation auch bleiben. Hier verkehrte er mit den intellektuellen Größen der Zeit, mit Emmanuel Joseph Sieyès, Destutt de Tracy, Pierre-Louis Roederer, Dominique Joseph Garat, Pierre-Jean-Georges Cabanis, Joseph Marie Degérando, Pierre Laromiguière, Pierre Samuel du Pont de Nemours oder Benjamin Constant. Er studierte die Theaterwelt der Hauptstadt, las die französischen Philosophen wie Jean-Jacques Rousseau und Denis Diderot, kommentierte Étienne Bonnot de Condillacs Denken, schrieb für Goethes Programmzeitschrift des Klassizismus Die Propyläen oder traf sich mit dem Maler Jacques-Louis David oder der Schriftstellerin Madame de Staël. …

Autor: Gerhard Lauer