Pepa Salas Vilar:
Boethius, senador romano, 2019
Acryl auf Leinwand, 40 x 50 cm



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der blaue reiter Ausgabe 44

 



Mit Mathematik zum Seelenheil

Boethius im Porträt

Anicius Manlius Severinus Boe­thius gilt als der große „Lehrmeister des Mittelalters“. Mit seinen Texten zur Musiktheorie, zur Mathematik und zur Logik prägte Boe­thius nicht nur die Lehrpläne der Klosterschulen und ersten Universitäten, sondern auch die Sprache und einige der großen Debatten der westlichen Philosophiegeschichte. Dabei hatte Boe­thius noch viel mehr vor. Doch sein Todesurteil bereitete allen Plänen ein abruptes und vorzeitiges Ende. Gleichzeitig bescherte dieses schreckliche Schicksal der Nachwelt das letzte große Meisterwerk der Antike und wirkmächtigste Buch des Mittelalters: den Trost der Philosophie.

Boe­thius erblickt um 480 genau in jener Zeit das Licht der Welt, in der das weströmische Kaisertum seinem Ende entgegengeht. Mit Odoaker übernehmen 476 germanische Truppen die Herrschaft über Italien. Fortan gibt es nur noch einen Kaiser im römischen Reich, und zwar denjenigen in Konstantinopel, der formal ab 480 dem gesamten Imperium Romanum vorsteht. 493 verliert Odoaker die Herrschaft an die vorrückenden Ostgoten, deren Anführer Theoderich nun mit der Unterstützung des Kaisers zum Rex Italiae (König Italiens) wird. Theoderichs Herrschaft wird Westrom durch seine Politik des Ausgleichs noch einmal eine längere Zeit des Friedens, relativen Wohlstands und kultureller Blüte bescheren, bevor Rom ab den dreißiger Jahren des 6. Jahrhunderts Jahrzehnte der Belagerungen und Zerstörungen über sich ergehen lassen muss. Theoderich trennt während seiner Herrschaft die kulturellen und konfessionellen Identitäten der Goten und Römer, um sie jedoch beide in ihrer Unterschiedlichkeit zu akzeptieren und zu stärken. Er überlässt den Goten vor allem die militärischen Aufgaben, während die Zivilverwaltung bei den Römern verbleibt. So akzeptiert er auch den Fortbestand des römischen Senats und das Fortwirken der damit verbundenen sozialen und politischen Traditionen und Karrieremöglichkeiten des römischen Adels. In dieses Umfeld wird Boe­thius hineingeboren, der aus einer der bedeutendsten Adelsfamilien Roms, dem Geschlecht der Anicier, stammt. Sein Vater verstirbt jedoch früh und so kommt Boe­thius unter die Obhut des Symmachus, der als angesehener Politiker, Historiker und Philosoph zu den großen Persönlichkeiten Roms gehört. Ihm verdankt Boe­thius auch die Verbindung mit den zwei großen Leidenschaften seines Lebens: zum einen wird er Symmachus’ Tochter Rusticiana zur Frau nehmen, zum anderen macht Symmachus ihn mit den Texten und der Sprache der griechischen Philosophie vertraut. Griechisch ist im spätantiken Rom längst nicht mehr die Sprache der höheren Bildung, innerhalb derer die Philosophie auch eine nur noch untergeordnete Rolle spielt. Dreh- und Angelpunkt der institutionell geforderten und geförderten Bildung ist die Rhetorik. Boe­thius erkennt darin einen Mangel. Denn während er selbst angeregt durch die intellektuelle Fürsorge des Symmachus die Inhalte der griechischen Philosophie aufsaugt, werden ihm die blinden Flecken des auf Sprache und Redekunst fokussierten römischen Bildungsprogramms immer deutlicher. Er fürchtet durch die Vernachlässigung den Untergang derjenigen Disziplinen, die den Namen der freien Künste aufgrund ihres unverzichtbaren Beitrags zur Seelenbildung wahrhaft verdienen und zu denen vor allem die Mathematik und Logik zählen.

Boe­thius und die Mathematik

So beginnt Boe­thius selbst mit einer Zusammenstellung von Texten zur mathematischen Bildung, die spätestens seit Platons Staat (altgriechisch Politeia) eine zentrale Stellung in den Bildungsentwürfen der antiken Philosophie innehat. Hierzu gehören in der Antike neben der Arithmetik und der Geometrie auch die Musik und die Astronomie. Boe­thius prägt für diese Fächer den Begriff des Vierwegs (lateinisch quadrivium), der von jedem beschritten werden müsse, der zur Weisheit (lateinisch sapientia), also zur Erkenntnis des unveränderlichen Seins, gelangen wolle. Die mathematischen Disziplinen beziehen ihren größten Wert demnach nicht aus ihrem Anwendungspotenzial, sondern daraus, dass sie diejenigen, die sich mit ihnen befassen, darin schulen, die verschiedenen Weisen, wie sich Seiendes zu erkennen gibt, zu unterscheiden: entweder als diskret geeinte Vielheit (lateinisch multitudo) oder als kontinuierlich geeinte Größe (lateinisch magnitudo), und beides entweder für sich oder in Relation. Daraus ergeben sich die vier grundlegenden mathematischen Disziplinen. In der Arithmetik werden die Vielheiten für sich – also Zahlen – unterschieden, in der Musik steht das Verhältnis einer Vielheit zu einer anderen – also Zahlenverhältnisse in Rhythmik und Harmonik – im Mittelpunkt. In der Geometrie werden die unbewegten Größen für sich – also Flächen und Körper – untersucht, in der Astronomie die bewegten Größen. Boe­thius hält die Ausbildung in allen vier Fächern für grundlegend: „Ich verkünde demjenigen, der diese Wege zur Weisheit verschmäht, dass er nicht in der Lage sein wird, angemessen Philosophie zu betreiben. Denn dies ist der Vierweg, den diejenigen gehen müssen, deren Seele von den uns angeborenen Sinneswahrnehmungen zu den zuverlässigeren Erkenntnissen des Intellekts geführt wird.“

 

   Der glückversprechende Weg
   des Menschen ist die Ausbildung
   der Vernunftvermögen. (Boethius)

 

Boe­thius betont, dass mit den mathematischen Wissenschaften das „Auge der Seele“ ausgebildet werde, da diese die grundlegenden seelischen Unterscheidungskompetenzen fördern und somit das Vernunftvermögen kultivieren. Mit De institutione arithmetica (Einführung in die Zahlenlehre) und De institutione musica (Von der musikalischen Unterweisung) sind uns seine auf griechischen Texten basierenden Einführungsschriften in die Zahlenlehre und in die Musik überliefert. Beide Texte werden zu Grundlagenwerken der Bildungsinstitutionen des Mittelalters. Seine Bücher zur Geometrie und zur Astronomie sind leider verloren.

Boe­thius’ Übersetzungsprojekt

Nachdem Boe­thius seine Arbeit an den mathematischen Texten abgeschlossen hat, ist er Mitte zwanzig. Nun legt er seinen Fokus auf die Disziplin der Logik, der er zugesteht, zugleich sowohl ein eigenständiger Teil der Philosophie zu sein als auch deren unverzichtbares Werkzeug. Unter dem Titel Organon, altgriechisch für Werkzeug, wurden in der Antike die logischen Schriften des Aristoteles zusammengefasst, überliefert und gelehrt. In den griechischsprachigen Philosophenschulen wurde durch diese Texte das Rüstzeug für die philosophische Ausbildung vermittelt. Boe­thius schließt sich dieser Tradition an.
Zum Organon zählt neben Aristoteles’ Lehre über die Bezeichnungsweisen (Kategorien), über den Aussagesatz (De interpretatione) und über die philosophischen und dialektischen Schlussverfahren (Analytika, Topika, Sophistische Widerlegungen) auch eine Einführungsschrift (Isagoge) in die Logik, die Porphyrios im 3. Jahrhundert verfasst hat. Die Übersetzung und Kommentierung dieser Texte werden das restliche schriftstellerische Leben des Boe­thius dominieren. Sein Plan ist ursprünglich jedoch weit umfassender. Denn nicht nur die Logik des Aristoteles, sondern sämtliche philosophische Werke sowohl des Aristoteles als auch des Platon wollte er übersetzen, kommentieren und zueinander ins Verhältnis setzen – „wenn“, so Boe­thius, „es die Gunst Gottes mir zugesteht“. Gemäß diesem Denken hatte Gott, wie Boe­thius noch leidvoll erfahren wird, andere Pläne mit ihm. Doch bis zu seiner Hinrichtung ist es ihm gelungen, das gesamte Organon zu übersetzen, teilweise auch zu kommentieren und mit Handbüchern zu ergänzen. Vor allem durch seine intensiven Kommentierungstätigkeiten und Erarbeitungen weiterer Unterrichtsmaterialien wird deutlich, dass es Boe­thius weniger um die Archivierung einer Philosophiegeschichte als um eine erfolgreiche Vermittlung und Wiederbelebung eines im Rom seiner Zeit vergessenen oder vernachlässigten Denkens geht. Der schriftstellerische Plan des Boe­thius unterliegt dem bildungstheoretischen Vorhaben, das lateinische Publikum von einer Einführung in die Logik über das gründliche Erlernen des logischen Instrumentariums bis hin zu den Einsichten der praktischen und theo­retischen Philosophie der platonisch-aristotelischen Philosophietradition zu führen.
Zweck seines Übersetzungsprojekts ist die Vorbereitung und Durchführung der Ausbildung der seelischen Vernunftvermögen seiner Leser und damit die Hinführung seiner potenziellen Schüler zur Entfaltung ihres besten Könnens, nämlich ihrer Vernunft. Unmittelbar vor der Bekanntgabe seines schriftstellerischen Plans schreibt er: „Wenn die Seelen untätig sind, erstarrt allmählich die Fruchtbarkeit des Geistes. Wir müssen die Kraft des Geistes (lateinisch vis mentis) anspannen. Denn es ist wahr, dass der Geist verloren ist, wenn er vernachlässigt wird.“ Diese „Anspannung des Geistes“ erfolgt über die Beschäftigung mit den mathematischen Wissenschaften und der Logik. Boe­thius’ Übersetzungsvorhaben ist folglich angelegt als ein Bildungsprojekt, das zwar den Erkenntnissen der platonisch-aristotelischen Philosophietradition folgt, dabei jedoch auf die besonderen Ansprüche und Erwartungen seines römischen, mit der griechischen Lehrtradition nicht vertrauten Publikums zugeschnitten ist.
Im Jahr 510, Boe­thius ist mittlerweile zum alleinigen Konsul im römischen Senat aufgestiegen, legt er zudem die politische Dimension seines Vorhabens offen. Trotz seiner administrativen Verpflichtungen halte er es für seine Pflicht, seine Mitbürger „zu lehren und zu erleuchten“. Die Künste der griechischen Weisheit seien bislang noch nicht in Rom eingeführt und Boe­thius höchstpersönlich gedenke, diese wohltätige Aufgabe zu übernehmen. Er reiht sich damit in die römische Tradition und Verpflichtung ein, von allem das Beste in die Stadt zu holen. …

Autor: Christian Vogel