Pepa Salas Vilar: Desiderius Erasmus Roterodamus, 2022;
Acryl auf Leinwand, 30 x 24 cm



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der blaue reiter Ausgabe 50

 



Irrationalität ist menschlich!

Erasmus von Rotterdam im Porträt

„Der Torheit galt mein Hymnus, aber ganz töricht ist er nicht“, schreibt Erasmus von Rotterdam über sein Lob der Torheit an seinen Freund und Gönner Thomas Morus. Mit ironischer Distanz verspottet der Wegbereiter der Reformation in seinem bekanntesten Werk intellektuelle Begriffsspielerei, Mönche und Professoren, kritisiert Adel, Klerus sowie Kaufleute und schreibt doch ein Hoheslied der Menschlichkeit. Ratio und Emotion, so ist der Gelehrte überzeugt, müssen Hand in Hand gehen.

1509 ritt Erasmus von Rotterdam auf dem Heimweg von Italien über die Alpen. Auf dem Weg flog ihm die Idee zu seinem Lob der Torheit zu. Darin tritt die personifizierte Torheit als Rednerin auf. Die „Irrationalität“ als Person auftreten zu lassen war beliebt in seiner Zeit nicht enden wollender Kriege mit schweren Wirtschaftskrisen, tödlichen Seuchen, grassierendem Teufelsglauben und Hexenwahn. Narren mit ihren Narrenkappen bevölkerten Literatur und Kunst. Lebensvolle Narrenmütter führten Fastnachtszüge an, ihr Bild schmückte Wohnstuben und zierte Brunnen. Gleichzeitig sahen Theologen in der personifizierten Torheit eine verführerische, unbelehrbare Häretikerin und bekämpften sie als Bedrohung des Glaubens (siehe Erläuterung). Alle diese Rollen verschmilzt Erasmus in seiner schillernden Närrin und verbindet sie mit biblischen Texten. Wie im alttestamentlichen Buch der Sprüche sieht bei Erasmus die personifizierte Torheit der personifizierten Weisheit zum Verwechseln ähnlich, ja die beiden werden im Anschluss an den Apostel Paulus sogar ununterscheidbar. Hatte doch Paulus geschrieben: „Gott hat erwählt, was töricht ist vor der Welt und hat beschlossen, durch die Torheit die Welt zu retten.“ Die Menschen sind alle Toren, folgert Erasmus kühn, und Christus wurde, um der Torheit der Menschen abzuhelfen, gleichsam selbst zum Toren. So kann seine Frau Torheit dreist behaupten, sie sei es, die die Welt regiere. Die Figur der Torheit lag in der Luft, als Erasmus sie aufgriff. Was aber befähigte den schmächtigen, kränklichen Priesterbastard dazu, aus dieser Figur ein Werk der Weltliteratur zu schaffen?

Bahnbrechende Pädagogik

Schon in frühester Kindheit von seinem Vater, einem Priester, auf die hochmodernen humanistischen Studien gewiesen und mit einem außerordentlichen Sprachtalent begabt, warf sich der vermutlich am 28.10.1466 in Rotterdam geborene schüchterne junge Mann auf alle antiken Schriftsteller, deren er habhaft werden konnte. Verwaist und mittellos geworden, war er nach dem frühen Pesttod der Eltern mit etwa 14 Jahren notgedrungen in das Kloster der Augustiner Chorherren in Stein gegeben worden. Durch seinen glänzenden lateinischen Stil fiel er seinem Bischof auf. Der verschaffte dem begabten Mönchspriester einen Stipendiatenplatz im asketisch geführten Collège Montaigu, um ihm ein Theologiestudium in Paris zu ermöglichen. Das Studium der scholastischen Theologie (siehe Erläuterung) behagte Erasmus nicht, er hat seine Professoren bald lustvoll verspottet. Aber anders als später der etwa zwanzig Jahre jüngere Reformator Martin Luther hat er die scholastische Methodik mit ihrem Streben nach festen dogmatischen Aussagen nicht als falsch, sondern als veraltet gesehen. Er wollte sie noch gelten lassen, bis eine bessere Logik gefunden sei. Er selbst war alles andere als ein systematischer Denker oder gar Dogmatiker. Er nannte seine Theologie zwar eine philosophia Christi, wollte aber keine neue philosophische Schule gründen, sondern zu einer neuen Christusnachfolge in der Welt aufrufen. Die Nachfolge Christi sei einem weltabgewandten Leben im Kloster weit überlegen.
Dass er sich von mönchischer Askese lossagte, war ein Glücksfall für die abendländische Pädagogik. Erasmus verließ das ihn einengende Kollegium. Er nahm, um sich selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen, vornehme Privatschüler an und entwickelte für sie seine bahnbrechende Pädagogik, mit der er die Rute aus den Schulzimmern zu verbannen suchte und die Schüler zwanglos durch altersgemäße, ansprechende und lustvolle Lektüre klassischer Texte bilden wollte. Im Laufe seines Lebens verfasste Erasmus zahlreiche Schulgespräche, seine Colloquien, in denen er den Schülern unmerklich ein geschliffenes Latein und christlich-humanistische Werte vermittelte (siehe Erläuterung). Über zweihundert Jahre lang wurden sie an den höheren Schulen Europas gelesen. Heute ist der erasmische Lehrplan mit der Betonung auf Klassikerlektüre überholt, anders Erasmus’ Forderung, die Mädchen ebenso auszubilden wie die Knaben. Nicht nur ewig Gestrige, sondern auch gefeierte Humanisten und Reformatoren hielten im 16. Jahrhundert Frauen für kaum zu einer höheren Schulung fähig, ihr Denkvermögen, wie ihre Frömmigkeit seien so schwach, dass man sogar „einen Rest von Aberglauben an ihnen dulden müsse“. Ganz anders Erasmus. Er lässt in einem Colloquium eine junge hochgebildete Frau auf einen rüden, ungebildeten Abt stoßen. Sie droht prophetisch: „Viele Frauen können sich mit jedem Mann messen … Wenn ihr nicht auf der Hut seid, wird es noch so weit kommen, dass wir in den theologischen Schulen den Vorsitz führen und in den Kirchen predigen.“ Freilich gelang das erst Jahrhunderte später.

Bibelkritik und emotionale Aneignung des Glaubenszeugnisses

Auf Einladung eines vornehmen Schülers konnte Erasmus nach England reisen. Hier fand er bedeutende Förderer, die überzeugend eine biblische Theologie mit platonischer Philosophie verbanden. Eine frühe Erbauungsschrift von 1503 zeigt Erasmus als Vertreter dieser neuplatonischen Schule (siehe Erläuterung). Aber dabei blieb es nicht. Erasmus erkannte, dass ein für die Neuzeit tragfähiges Christentum auf einem gründlichen Quellenstudium des Neuen Testaments in der Originalsprache beruhen müsse. Dazu lernte er Griechisch und eignete sich historische Kenntnisse an, um die Texte richtig in die Zeit, in der sie spielten und in der sie verfasst worden waren, einzuordnen. Kurz: Er las das Neue Testament kritisch schon in einer Vorform der modernen historisch-kritischen Hermeneutik (siehe Erläuterung) und erstellte 1516 als erster eine kritische Edition der griechischen neutestamentlichen Schriften mit gelehrten Anmerkungen und einer neuen Übersetzung ins Lateinische. Sein Leben lang wird er „sein“ Neues Testament überarbeiten und die erklärenden Anmerkungen vervielfachen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein blieb seine Ausgabe der maßgebliche Text. Für seine Editionsgrundsätze verschrieb er sich keiner bestimmten philosophischen oder theologischen Schule, sondern suchte bei allen möglichen Denkern aus alter und neuer Zeit eklektisch das, was ihm dienlich schien, um das Neue Testament zunächst rational zu verstehen und dann emotional zu erfassen. Denn nach der analytischen kritischen Vorarbeit sollten die Geschichten und Parabeln Jesu auf Herz und Gemüt wirken: Das, mahnte er später, sei bei der Bibellektüre „dein einziges Ziel, darum bitte, das allein betreibe, dass du verändert wirst, dass du hingerissen wirst, dass du entflammt wirst, damit du verwandelt wirst in das, was du lernst“. Vernunft und irrationale Emotion sollten Hand in Hand gehen.

 

   Die personifizierte Torheit kann
   man nicht von der personifizierten
   Weisheit unterscheiden.

 

Von England aus ergab sich endlich die ersehnte Gelegenheit, als Tutor vornehmer Jünglinge nach Italien zu reisen, in das Land, in dem die humanistischen Studien schon lange blühten und in das Byzantiner viele griechische Handschriften gebracht hatten. Erasmus konnte hier seine Kenntnisse der griechischen Antike vertiefen. Seine Adagia, eine Sammlung kommentierter antiker Sprichwörter, die zu einem Bildungsbuch Europas wurde, vervierfachte sich von 818 Redensarten in der Ausgabe von 1500 auf 3260 im Jahre 1508. Am Ende seines Lebens sollten es 4151 werden, darunter ganze Essays, so eine seiner berühmtesten Friedensschriften: Dulce bellum inexpertis (lateinisch für „Süß ist der Krieg (nur) für die Unerfahrenen“). Nicht genug, dass Erasmus die zeitgenössischen Kriege um die Vorherrschaft in Europa und die grausame Kriegsführung des 16. Jahrhunderts anprangerte, er lehnte die allgemein anerkannte Lehre vom gerechten Krieg ab. Ihren Vertretern, die sie mit den von Gott zugelassenen Kriegen im Alten Testament begründeten, hielt er entgegen: David durfte den Tempel in Jerusalem nicht bauen, weil seine Hände von blutigen Kriegen befleckt waren – und das war lange bevor Christus dem Krieg widersprochen und nichts als Nächstenliebe gelehrt hat. Christen könnten überhaupt keine gerechten Kriegsgründe mehr geltend machen, einzig die Verteidigung gegenüber barbarischen Überfällen hielt Erasmus für erlaubt. Darum lehnte er 1515 die allseits geplanten Kriege gegen die vordringenden Osmanen ab: Er schrieb: „Hältst du es etwa für eine christliche Tat, wenn du Menschen, meinetwegen gottlose … mordest, aber doch immerhin Menschen, für die Christus, um sie zu erlösen, gestorben ist? So bringst du dem Teufel ein Opfer und zwar ein doppeltes, es wird ein Mensch getötet und es ist ein Christ, der tötet.“ Aber als die Osmanen Ungarn erobert hatten und 1529 vor Wien standen, rief Erasmus das christliche Europa zur Verteidigung auf: „Den Türken nicht zu widerstehen“, erklärt er da, „würde nichts anderes bedeuten, als die Sache Christi den schrecklichsten Feinden auszuliefern und somit unsere Brüder, die in eine unwürdige Sklaverei gepresst sind, im Stiche zu lassen.“ Bedrohte Menschen dürfen nach Erasmus in größter Not nicht im Stich gelassen werden. Muss aber Gewalt aus Notwehr in Betracht gezogen werden, dann nur so schonungsvoll wie möglich. Nie darf der Krieger vergessen, dass sein Feind ein Mensch ist, dem Gottes Liebe genauso gilt wie ihm. Erste Vorüberlegungen zum Völker- und Menschenrecht scheinen hier auf. …

Autorin: Christine Christ-von Wedel