Eckart Hahn: Bomb, 2018;
Acryl auf Leinwand, 70 x 60 cm



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der blaue reiter Ausgabe 50

 



Gefühle als Selbst- und Weltzugang

Warum Fühlen (auch) vernünftig ist

Als in der 85. Spielminute des Finales der Fußballweltmeisterschaft 1990 der deutschen Nationalmannschaft ein Elfmeter zugesprochen wurde, war eigentlich klar, wer in dieser psychischen Extremsituation den Strafstoß ausführen würde – der Kapitän und Star Lothar Matthäus. Gerade für solche Momente lebt ein Profisportler wie er, Momente, in denen es um alles geht und in denen gleichsam „Helden“ geboren werden. Doch zur Überraschung vieler verzichtete Matthäus – er „fühlte sich nicht sicher“. Im Rückblick hat er diesen unerwarteten Verzicht aufgrund eines Gefühls als beste Entscheidung seines Sportler-Lebens bezeichnet – immerhin ist er (vermutlich) dank ihr Weltmeister geworden.

Betrachtet man diesen Vorgang aus einer gewissen Distanz, so lässt sich festhalten, dass ein Mensch hier aufgrund eines emotionalen Eindrucks von sich selbst in einer spezifischen Situation auf etwas verzichtet hat, das er unter den allermeisten anderen Umständen nicht hätte aufgeben wollen. Ein Gefühl wird zum legitimen begründenden Motiv für eine vernünftige Entscheidung. In dieser Allgemeinheit allerdings ist der Zusammenhang wiederum keineswegs unwidersprochen hinzunehmen, denn leicht lassen sich etliche Beispiele finden, die zeigen, dass es gerade geboten sein kann, nicht auf die Gefühle zu hören: Unsicherheit beim Besteigen von Flugzeugen als Grund dafür, niemals zu fliegen; das Unbehagen beim Kontakt mit Fremden dafür, diesen grundsätzlich zu misstrauen; Angst vor dem Versagen dafür, eine Herausforderung nicht anzugehen. Es ist zwischen Menschen, Gruppen sowie (Sub-)Kulturen höchst umstritten, was man Gefühlen an erkenntnisrelevantem Gehalt und entsprechender Leistung zutrauen darf. So ist es wenig überraschend, dass es Stimmen gab, die Matthäus’ Verzicht als Schwäche interpretiert haben, indem sie die Forderung erhoben, man müsse sich als Kapitän in einer solchen Situation über die eigenen Gefühle hinwegsetzen – willentlich gesteuerter vernünftiger Handlungsvorsatz schlägt den irrationalen und letztlich irrelevanten Impuls des individuellen Gefühls.

 

   Denken ohne Gefühle ist leer,
   Gefühle ohne Denken sind blind.

 

Das Spannungsfeld zwischen Gefühl und Vernunft ist historisch alt und sachlich zentral. Schon im antiken Griechenland war das Verhältnis zwischen beiden Optionen menschlichen Sich-Leiten-Lassens umstritten. Während man in homerischen Epen noch Schilderungen finden kann, die die agierenden Helden als von Gefühlen übermannte und ihnen ausgelieferte Wesen zeichnen, findet sich im Hellenismus vor allem bei den Stoikern das gegensätzliche Modell (siehe Erläuterung). Dort ärgert es den Stoiker, wenn er auf einen plötzlichen, unerwarteten Knall hin tatsächlich kurzzeitig erschrocken zusammenzuckt. Das stoische Ideal sieht nämlich vor, alle Affekte unter die Kontrolle der vernünftigen Zustimmung qua Urteil zu bekommen. Alles, was dem Menschen widerfährt, komme vor das Gericht der Vernunft, die dann ihre Zustimmung oder Ablehnung zu den Gefühlen bekunde. Damit wird die Vernunft gleichsam zum Regisseur und Drehbuchautor des menschlichen Lebens, Gefühle werden wirkungs- und bedeutungslos.
Ohne im Detail diese komplexe Geschichte des theoretischen – und phasenweise auch lebenspraktischen – Umgangs mit Gefühlen in der Philosophie nachzeichnen zu wollen, kann man festhalten, dass insgesamt die Entwicklung dahin geht, Gefühle mehr und mehr zugunsten einer rationalen Steuerungsinstanz abzuwerten. Diese Tendenz, die sich prominent auch schon in Platons Wagenlenker-Gleichnis findet, hat Vertreter zum Beispiel in Augustinus oder René Descartes. Auf wirkmächtige Weise hat Immanuel Kant schließlich Gefühle als besonders problematisch herausgestellt. Er meinte, Affekten und Leidenschaften unterworfen zu sein, sei immer eine Krankheit der Seele, weil damit die eigentlich notwendige Herrschaft der Vernunft verhindert wäre. Warum ist das so? Welche Beobachtungen bringen die philosophische Tradition lange Zeit dazu, Gefühle im Vergleich zur Vernunft so zu sehen?
Ein wesentlicher Grund für die antipodische Betrachtung liegt darin, dass überhaupt nicht eindeutig festgestellt werden konnte, was mit „Vernunft“ einerseits, „Gefühl“ andererseits gemeint ist. Die Begriffsdefinitionen, die im Laufe der Zeit erdacht wurden, sind so zahlreich wie divergent. Zuletzt hat zum Beispiel Heiner Hastedt acht verschiedene Formen von Gefühlen unterschieden: Leidenschaften, Emotionen, Stimmungen, Empfindungen, sinnliche Wahrnehmungen, Wünsche, erkennende Gefühle, Gefühlstugenden. Und selbst diese Liste lässt noch vermeintliche Synonyme – etwa Affekte – aus. Im Hinblick auf den Begriff der Vernunft bietet sich ein vergleichbares Bild. Wenn aber gar nicht gesichert ist, worauf die beiden Termini sich spezifisch beziehen, muss ihr Verhältnis letztlich unbestimmt bleiben beziehungsweise bietet es Anlass zu problematischen Fehldeutungen.
Lässt man diese terminologischen und begriffsgeschichtlichen Hindernisse einmal bei Seite, kann man jedoch zumindest anhand der spezifischen Eigenschaften oder Merkmale, die Vernunft und Gefühl zugesprochen werden, einen Einblick in deren Verhältnis gewinnen. Gemeinhin kommen Vernunft und Gefühl deshalb in eine oppositionelle Stellung, weil erstere vermeintlich über gewünschte und als gut bewertete Eigenschaften verfügt, die zweiterem fehlen. Dies kann man Texten von Kant, aber auch der Stoa und Augustinus mustergültig entnehmen. Die Ratio wird als autonom verstanden, weil sie in irgendeiner Weise vom menschlichen Geist selbst – intentional (hier: zweckbestimmt) – hervorgebracht oder in Gang gesetzt wird, während Gefühle dem Menschen heteronom (von außen, fremden Gesetzen unterworfen) widerfahren. Es ist ohne weiteres möglich, so kann man plausibilisieren, gezielt an etwas zu denken – eine bestimmte Person zum Beispiel –, aber eben nicht, gezielt diese Person zu lieben oder zu hassen. Gefühle stehen dem Menschen als „Anderes“, „Fremdes“ gegenüber, so die These, sie entziehen sich seinem direkten Zugriff, sind unverfügbar. Wenn jedoch Autonomie des Menschen das angestrebte Ziel ist, müssen Gefühle entsprechend negativ bewertet oder gar – wie letztlich in der Stoa phasenweise erstrebt – beseitigt werden.
Weiterhin gilt das Vernünftige als objektiv, wohingegen Gefühle nur subjektiv seien, also allein einem einzelnen Subjekt zukommen. In diesem Sinne meinte Kant, Gefühle drückten nur einen Zustand des Subjektes aus, nichts in der Welt. Demnach etwa wäre die Rede von einer „traurigen Landschaft“ bloß ein unsauberer Ausdruck für die Verbindung eines objektiven Bestands mit einem subjektiven Zustand. Da Menschen prinzipiell an objektiv verlässlichen Erkenntnissen Interesse haben sollten, müssen Gefühle erneut negativ eingeordnet werden.
Drittens gelten schon seit Platon die Erkenntnisse, die von objektiven Entitäten (siehe Erläuterung) gewonnen werden, als stabil und verlässlich, diejenigen von niederen, subjektiven Entitäten hingegen als wandelbar und unzuverlässig. Dafür liefert er im Höhlengleichnis (siehe Erläuterung) die entsprechende Illustration, der sich Kant im Grunde anschließen könnte. Gefühle wechseln häufig in Bezug auf dasselbe Objekt – eine Tätigkeit, die bisher immer Spaß gemacht hat, wird plötzlich fade; eine Person, die man liebte, wird zur hassenswerten Belastung. Aus dieser Beobachtung erfolgt dann der verständliche Schluss, dass man den Gefühlen aufgrund ihrer Wandelbarkeit grundsätzlich nicht trauen kann, weshalb sie für Kant folgerichtig nicht zur Grundlegung einer Sittenlehre geeignet sind.
Viertens wird implizit behauptet, Erkenntnis sei anstrengende Arbeit (an Begriffen, Relationen, Modellen), wohingegen Gefühle leicht und anstrengungslos daherkämen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel fordert in diesem Sinne die Anstrengung des Begriffs statt bloßen Fühlens, weil letzteres nur erschleicht, was man mit Einsatz und Nachdenken mühsam erwerben muss. Und tatsächlich wäre es im Rahmen von Diskussionen ein absolut unzulässiger Schritt, gegen komplexe Argumente ein „Ich fühle es aber an- ders“ anzubringen, auch wenn dies in der Gegenwart mitunter durchaus geschieht.

 

   Das Vernünftige gilt als objektiv,
   Gefühle als nur subjektiv.

 

Schließlich wird immer wieder zugunsten der Vernunft auf die Fehlerhaftigkeit gefühlsmäßiger Weltzugriffe verwiesen. Jedem Menschen ist es schon geschehen – und sicher mehr als ein Mal –, dass das Gefühl getäuscht hat. Man fühlte, eine Person sei unfreundlich, aber längerer Kontakt erwies das Gegenteil; man fühlte, man sei gut drauf, war es aber nicht.
Alle fünf Merkmale haben dazu beigetragen, dass die Vernunft den Gefühlen im Hinblick auf ihren Erkenntnis- und Orientierungswert übergeordnet wurde. Wer gäbe denn schon zu, fremdbestimmt und bloß subjektiv einem fehleranfälligen und zudem durch Faulheit erschlichenen Weg in seinem Leben zu folgen? Im Umkehrschluss wird Vernunft – wäre in grober Zusammenfassung zu sagen – konzipiert als urteilendes Unterscheidungsvermögen, das (methodisch wie zielgerichtet) konstruierte, aber stabile Einsichten in beständige Entitäten vermittelt. Damit scheint alles Notwendige gesagt, denn das Zutreffen der fünf Merkmale lässt sich mit Beispielen leicht weiter untermauern. Jedoch einmal angenommen, Vernunft besitze oder gewährleiste die genannten fünf Eigenschaften, stehen die Gefühle wirklich so viel schlechter da?
Phänomenologen (siehe Erläuterung) – namentlich vor allem Hermann Schmitz – haben der These von der „bloßen“ Subjektivität der Gefühle mit guten Gründen entschieden widersprochen. Vielmehr müsse man Gefühle als mindestens intersubjektive, wenn nicht gar objektive Vorkommnisse verstehen. Sie können stimmungshaften und atmosphärischen Charakter haben, der zahlreiche Menschen einbinden kann. Wer auf einem Konzert von der dort herrschenden Stimmung ergriffen ist, kann ganz unmittelbar wahrnehmen, dass es nicht er alleine ist, sondern dass viele „in“ diesem Zustand stecken, der keineswegs in einem einzelnen Subjekt zu verorten ist, sondern jenseits von diesem. Das wird auch dann auffällig, wenn man als Mensch gerade im Kontrast zu anderen die Objektivität der Gefühle bemerkt. Wer einen Raum betritt und schlagartig wahrnimmt, dass darin „dicke Luft“ herrscht, dem schlägt die spezifische Gefühlslage dort direkt entgegen, ohne dass es sinnvoll wäre, diese in Einzelpersonen zu verlegen. Keineswegs also muss man der These, Gefühle seien deshalb irrational, weil sie streng subjektiv, also individueller Natur sind, akzeptieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Versuch Arthur Schopenhauers verstehen, Ethik auf der Grundlage eines Gefühls – in seinem Fall des Mitleids – aufzubauen, weil es nämlich gerade nicht der Fall ist, dass Gefühle per se von Mensch zu Mensch variieren. Was sich unterscheidet, ist das spezifische Fühlen des Gefühls, es selbst aber steht gleichsam jenseits der Individuen. …

Autor: Steffen Kluck