Katja Ruscher: Stille, 2021;
Steinzeug, Höhe 110 cm.
Foto: Antje Stumpe



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der blaue reiter Ausgabe 50

 



Solange man das Grau nicht gedacht hat, ist man kein Philosoph


Seiner überhellen Natur gemäß konnte Gott nicht anders, als alle Unterscheidungen, die die Welt erzeugen, innerhalb einer Farbe, der Überfarbe, anzulegen: Gott ist der Künstler, der sich nur Weiß-in-Weiß artikuliert.

Aufklärung will fürs Erste ein Unternehmen zur „Sabotage des Schicksals“ sein. Solche Umwälzungen, Umfaltungen und Kehren machen, sobald sie an der Zeit sind, vor dem Institut der Gottes- und Königsfarbe nicht halt. Es wäre sinnlos, von modernen Zeiten zu sprechen, würde in ihnen nicht auch das Ancien Régime (siehe Erläuterung) der Farben an sein Ende gebracht.
Zum Tableau der seit dem 18. Jahrhundert aufkommenden Unruhen mit langen Folgen gehört der Königsmord im Reich der Farben, durch den das Weiß seiner Eminenz entkleidet wurde. Bevor die Republik der farblichen Gleichberechtigung proklamiert werden konnte und die United Colors of Everything die Auslagen bestimmten, musste es zumindest einmal zum offenen Affront gegen die Königin kommen – so wie die Hinrichtung Ludwigs XVI. im Januar 1793 die Singularität in der politischen Geschichte darstellt.

 

   „Es gibt kein leuchtendes Grau.“
   (Ludwig Wittgenstein)

 

Der locus classicus für die Umwertung des höchsten Farbwerts findet sich im 42. Kapitel von Herman Melvilles 1851 erschienenem Roman Moby-Dick; or: The Whale, in dem das Motiv des weißen Leviathans (siehe Erläuterung) seinen Auftritt feiert: in der Gestalt eines sehr alten, vielmals gejagten, in allen Künsten der Selbsterhaltung und des Gegenangriffs erprobten, listigen, anthropophoben Albino-Meerungeheuers (von altgriechisch anthropos für „Mensch“ und phobos für „Angst“). In der höhnischen Außerordentlichkeit der Albino-Kreatur, die durch die Ozeane kreuzt, leuchtet, wie mit der Gewalt des Zum-letzten-Mal, das Hierarchiegefühl der alteuropäischen Farbenmetaphysik auf, invertiert und auf die Spitze des Bösen gestellt (siehe Erläuterung). Weiß ist nicht mehr die Summe des Schönen; zum Unheimlichen erhöht, ist es des Schrecklichen Anfang, Mitte und Ende. Melvilles Erzähler hat nicht vergessen, wie tief das Weiß von alters her mit erhabenen Vorstellungen verbunden war. Verkörperte sich nicht Zeus in einem weißen Stier? Trugen nicht die katholischen Priester unter dem Messgewand ein der antiken weißen Tunika nachempfundenes Chorhemd, genannt die Albe, die als Taufhemd die Zugehörigkeit der Offizianten zum corpus Christi symbolisierte? Und hieß es nicht von jenem, „der aussah wie ein Mensch“, dem verewigten Sohn mit dem aus dem Mund ragenden Schwert, sein Haupt und sein Haar sei weiß gewesen „wie Wolle, leuchtend weiß wie Schnee“ (Apokalypse I, 49)?

Die Umwertung aller Farbwerte

Würde uns die Frage vorgelegt, worin aus kulturdynamischer Sicht das Hauptereignis des 19. und 20. Jahrhunderts bestand, könnte eine der möglichen Antworten lauten: wohl nicht zuletzt in der Umfärbung aller Farbwerte. Die Veränderung rastete irgendwann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein, vielleicht sogar erst in den sechziger Jahren, sobald mit einem Mal evident schien, dass alle Farben gleich gut sind und wie vergeblich es wäre, immer noch Verhältnisse der Über- und Unterordnung zwischen ihnen geltend machen zu wollen. Die Vereinigten Farben der Gegenwart erweisen sich gegenseitig Respekt und verzichten darauf, die Nachbarfarben dominieren zu wollen. Durch die neue Empfindungs- und Urteilsweise nahm das durchschnittlich unkreative, trendbestimmte Dasein am Epochenvorgang der Enthierarchisierung teil. Es vollzog ihn nach, als hätte es ihn gewollt. Im Fall der Farben war die Aufhebung der Beziehungen zwischen Höherem und Niederem eng an den gleichzeitig sich vollziehenden sinnverwandten Prozess der Desymbolisierung gebunden. Modernes Design und seine postmodernen Nachspiele geben sich daran zu erkennen, dass Farben und Bedeutungen weit auseinandertreten. Niemand besteht mehr darauf, die Hoffnung müsse grün codiert sein, während die Ferne, die Weite, die Umhüllung vom Unendlichen nach Blau verlange; wer immer noch meint, Rot sei die deklarierte Liebe, dem wird zu einem besseren Geschmack kaum noch zu verhelfen sein.
Wo der Zug zur Enthierarchisierung und der zur Desymbolisierung sich trafen, entstand eine strategische Allianz – vielleicht auch nur eine zufällige Wirkungsgemeinschaft – gegen die Sonder- und Spitzenstellung des Weißen. In der Eminenz der Farbe Weiß hatte sich eine im mediterranen und okzidentalen Raum jahrtausendmächtige Überlieferung solarmythologischer, lichtmetaphysischer und farbtheologischer Motive mitsamt ihren Spiegelungen in kirchlichen Liturgiefarben und dynastischen Bildsprachen resümiert; sie reichen vom obligaten Weiß der Tauben, die dem Heiligen Geist die Flugtauglichkeit attestieren, über den Glanz fürstlicher Krönungsmäntel zu den unbeirrbar weißen Lilien des Hauses Bourbon. Weiß galt seit je als älter denn die Geschwisterfarben, und allein mit der Schwärze hätte es eine Vorrangfrage zu klären gehabt.
„Grau“ hingegen gibt mehr zu denken als ein quasi neutraler, zwischen Schwarz und Weiß liegender Farbwert oder ein Hinweis auf Unbuntes und Unentschiedenes. Das Farb- oder Unfarbwort Grau, einmal aus der Latenz geweckt, verfolgt das Denken über Selbst, Gott und Welt bis in die letzten und am meisten entzogenen Dinge. Kein Selbst, das nicht vor der Wahl stünde, sich in der Drift der Verhältnisse aufzulösen – grau durch Demission – oder sich ins tätige Mittlere zurückzuziehen – grau durch Unscheinbarkeit im Dienst am größeren Geschehen. Die polychrome Idylle trügt; die zur Durchmischung einladende Liberalität der Moderne kann die erwünschte Regenbogengesellschaft nicht erzwingen. Zugleich ist es für Entmischung und reinfarbige Identitäten zu spät. Grau ist die Kompromissfarbe a priori. Wo es sichtbar wird, hatte Weiß Zugeständnisse zu machen, und Schwarz musste zugeben, dass es nicht alles für sich haben kann. …

Autor: Peter Sloterdijk