Siegfried Reusch
Chefredakteur
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der blaue reiter Ausgabe 50

 



Zwischen Rationalität und Irrationalität


Die Frage nach der Rationalität und der Irrationalität prägte schon die Anfänge der Philosophie. Nicht von ungefähr malte Raffael auf seinem berühmten Fresko Die Schule von Athen die diskutierenden Denker Platon und Aristoteles symbolisch als Antipoden ins Zentrum: In der linken Hand seine Abhandlung über die Ethik und mit der rechten gestisch in die Welt weisend, steht Aristoteles für ein dem Menschen und der Welt zugewandtes Denken. Nicht minder symbolisch, seinen Dialog Timaios unter dem linken Arm, zeigt Raffaels Platon mit dem rechten Zeigefinger gen Himmel und verweist derart auf die seiner Meinung nach alles fundierenden Prinzipien, die sogenannten Ideen. Mit seiner Darstellung hat Raffael die beiden sich grundlegend widerstreitenden Denkansätze zur Erklärung des Menschen und der Welt mustergültig ins Bild gesetzt: den innerweltlich rationalen, auf sinnlichen Beobachtungen von Mensch und Natur gestützten und den letztlich auf Mutmaßungen über eine jenseitige Ideen- respektive Götterwelt fußenden.
Die Frage, welches Wissen als rational begründet und welches nur als Meinung (altgriechisch doxa) respektive Glauben gelten kann, das heißt das Problem der „Wahrheit“, ist nach wie vor virulent. Viele Naturwissenschaftler beharren auf der objektiven Mathematisierbarkeit selbst der menschlichen Natur. Denker wie Sören Kierkegaard hingegen glauben gerade deshalb an die Bestimmung unserer Welt durch eine jenseitige Macht, weil dies unvernünftig erscheint, lateinisch: credo quia absurdum est.
Trotz der großartigen Erfolge, die Wissenschaftler dank der Verbindung mathematischer mit instrumenteller Vernunft bei der Entschlüsselung der Natur feiern, beruht deren Methode doch auf der Vernachlässigung wesentlicher Aspekte der Natur und des Menschen. Mit Theodor W. Adorno gesprochen wäre es an den Philosophen, zum Beispiel anstelle der Betonung des Gegensatzes von Verstand und nicht rational begründbarem Gefühl „deren Einheit aufzusuchen: eben die moralische“. Denn bei Entscheidungen in der alltäglichen Lebenswirklichkeit spielen weder die naturwissenschaftliche noch die philosophische Vernunft eine herausragende Rolle. Schon Aristoteles beschreibt den Menschen als zoon logon echon, das heißt als Vernunft besitzendes Tier. Trotz seiner Vernunft, die ihn aus der Masse der bekannten Lebewesen heraushebt, ist und bleibt der Mensch auch ein Tier, das allzu oft eher seinen animalischen Instinkten und Leidenschaften folgt als den Gesetzen der Wissenschaft vom richtigen Denken und Schließen. Denn offensichtlich gibt es Grenzen der argumentativen Auseinandersetzung: Wenn alles ausdiskutiert ist, zählt in der konkreten Lebenswelt selten die Rationalität eines Arguments. Den Sieg im Wettstreit der Meinungen trägt dementsprechend zumeist nicht der Vernünftigste und Einsichtigste davon, sondern der Mächtigste, im Extremfall unter Einsatz von Waffengewalt. Das heißt: Um grundlegende Werte wird nicht argumentiert, sondern gekämpft. Sind uns unsere eigenen Ideale doch ebenso heilig wie den Anderen die ihrigen – zahllose Religionskriege geben hierfür beredtes Zeugnis.
Ein völliges Fehlen von Vernunft, respektive deren Schlaf, kann ebenso verheerende Folgen haben wie die Herrschaft einer alles umfassenden Vernunft. So beriefen sich die Vorkämpfer der Französischen Revolution bei ihren Exekutionsexzessen ebenso auf Vernunft und Wissenschaft wie die Nationalsozialisten in ihrem Rassenwahn während des Holocaust. Hängen doch die Ergebnisse konsequenter Anwendung logischen Schließens davon ab, welche elementaren Glaubenssätze man zugrunde legt. Wird die Vernunft paradoxerweise zu einem quasireligiösen Glaubensgrundsatz erhoben, rechtfertigt sie alle Opfer. Der Aufklärer Denis Diderot fasste dies in die Worte: „Die Vernunft bedeutet für den Philosophen, was die Gnade für den Christen bedeutet. Die Gnade bestimmt den Christen zum Handeln, die Vernunft bestimmt den Philosophen.“
Auch wenn es philosophisch vordergründig seltsam anmutet, sind gerade die Behauptung der Existenz einer reinen oder gar absoluten Vernunft ebenso wie das Postulat einer absoluten (Glaubens-)Wahrheit die irrationalsten und am wenigsten philosophischen Gedanken überhaupt. Denn der Mut, sich seines eigenen Verstands zu bedienen, wie Immanuel Kant ihn einfordert, ist gleichbedeutend mit der Anerkenntnis, dass es keine objektive Wahrheit gibt. Damit einher geht die Einsicht, dass das, was jeweils als vernünftig gilt, eine Frage der handlungsleitenden Werte und Interessen ist. Die alles entscheidende Frage lautet somit: Woher nehmen wir die Kriterien dafür, was jeweils als vernünftig beziehungsweise rational und was mithin als unvernünftig respektive irrational gilt? Erschwerend kommt hinzu, dass sich im alltäglichen Leben wie in den Naturwissenschaften die Prämissen und Regeln ändern können. Drehte sich einst die Sonne wissenschaftlich wie religiös begründet um die Erde und bewegte sich wissenschaftlicher Lehrmeinung zufolge das Licht im Weltraum noch bis zu Albert Einsteins Forschungen durch ein mysteriöses Medium namens Äther, hat zwischenzeitlich selbst der Vatikan offiziell anerkannt, dass die Erde nicht der Mittelpunkt seines göttlichen Kosmos darstellt und die Physiker haben akzeptiert, dass das Licht zu seiner Ausbreitung keines Mediums bedarf. Will man in einem Krieg wie dem zwischen der Ukraine und Russland möglichst viele Menschenleben retten, ist es vernünftig, in Verhandlungen selbst unter schmerzhaften Zugeständnissen auf ein schnelles Ende des Krieges hinzuarbeiten. Sind hingegen die Erhaltung der staatlichen Integrität der Ukraine und die Abschreckung Russlands vor weiteren Aggressionen das oberste Ziel, ist es nicht minder vernünftig, um den Preis vieler ukrainischer und russischer Leben weiterzukämpfen. Definitiv irrational hingegen ist die Forderung, in der Hoffnung auf weniger Tote immer mehr und auch schwere Waffen zu liefern, wie es manche Politiker fordern.
Der Zwiespalt bei solchen Entscheidungen ist beispielhaft für die Frage nach der Rationalität und der Irrationalität von Handlungen. Denn ob man Menschenleben gegen staatliche Integrität beziehungsweise die Vergrößerung eines Staats aufrechnet oder nicht, ist letztlich nicht rational entscheidbar. Ob jeder Bürger mit seinem Leben für den Staat einzustehen hat, in dem er geboren wurde, sei es für dessen Verteidigung oder für einen Angriff, ist ein Glaubenssatz, ebenso wie es eine Frage des Glaubens ist, ob der Mensch das Maß aller Dinge darstellt und jedes Leben mithin um jeden Preis geschützt beziehungsweise verlängert werden muss. Solche Fragen sind allein im Denken nicht zu entscheiden. Denn vernünftig oder gar logisch lässt sich nur dann handeln, wenn die gewählten Glaubenssätze feststehen, sprich innerhalb einer sogenannten Systemlogik. Aufgabe der Philosophen ist es, die Prämissen unterschiedlicher Denksysteme und die diesen eignenden Logiken aufzuzeigen. Dafür gilt es anzuerkennen, dass sich mit Vernunft alleine keine handlungsleitenden Werte generieren lassen. Vernunft, die nicht auf emotionalen Gegenhalt trifft, bleibt fruchtlos. Werthafte Orientierung ermöglichen nur Gefühle; was wirklich wichtig ist, können wir nur fühlend erspüren. Eine wirkliche Präzisierung der Welt (Wolfgang Jahnke) kann nur gelingen, wenn dabei auch die welterschließende Kraft der Gefühle Berücksichtigung findet.
Kant war davon überzeugt, dass die Unterwerfung unter Affekte und Leidenschaften eine Krankheit der Seele ist und nur der Gerichtshof der Vernunft objektiv Gültiges hervorbringen kann. Das dem entsprechende, viel verwendete Bild von der Seele als Pferdegespann mit der Vernunft als Lenker, welche die wild voranstürmenden Gefühle in die richtige Richtung dirigiert, könnte falscher nicht sein. Die schwer zu fassende, mitunter eruptiv sich nach vorne drängende Summe aus Grundtönung einer Persönlichkeit, Lebenserfahrung und intuitivem Wissen, die wir gemeinhin mit dem Begriff Gefühle umschreiben, ist mindestens genauso handlungsleitend wie das rationale Schließen. Die Vernunft alleine wäre viel zu langsam, um in komplexen Situationen wohlbegründete Entscheidungen herbeiführen zu können. Wir können uns nicht bei jeder Handlung vollumfänglich überlegen, was wir warum um welcher erhofften Folgen willen tun oder lassen sollen oder ob die Maximen unseres jeweiligen Handelns als allgemeine Gesetze dienen könnten. Bei den Begründungen für einen Großteil unserer vorgeblich gut überlegten, als vernünftig apostrophierten Entscheidungen handelt es sich lediglich um im Nachhinein rationalisierte Gefühle: Die Entscheidung stand schon fest, bevor die Vernunft eine Begründung dafür fand. In diesem Sinne lassen sich vorgeblich irrationale Gefühle auch als eine Form präreflexiver Vernunft verstehen. Denn nicht alles, was wirklich ist, ist vernünftig, wie noch Georg Wilhelm Friedrich Hegel glaubte, und nicht alles, was vernünftig scheint, darf Wirklichkeit werden. Schon zu Lebzeiten Kants betonte Johann Georg Hamann den Welt erschließenden Wert poetischer und religiöser Erfahrungen und gelangte zu der Einsicht: „Das Herz schlägt früher, als unser Kopf denkt.“
Doch die Überhöhung der Gefühle und des Glaubens ist ebenso falsch wie die Verabsolutierung der Vernunft. Statt diese grundsätzlichen Vermögen des Menschen als Antagonisten gegeneinander auszuspielen, forderte schon Friedrich Schiller „Licht“ im „Verstande“ und „wohltätige Begeisterung“ in den „Herzen“. Wie schwierig dies seiner Zeit zu vermitteln war und auch noch heute ist, zeigen die folgenden Verse Friedrich Hölderlins: „Hast du Verstand und ein Herz, so zeige nur eines von beiden, / Beides verdammen sie dir, zeigest du beides zugleich.“
Wichtiger noch als die Überzeugungen und Weltanschauungen, zu denen man im Denken und im Fühlen gelangt, ist die Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Gedeihliches Zusammenleben und Weiterentwicklung können nur da gelingen, wo die Existenz gegensätzlicher Meinungen und Begründungsfiguren toleriert wird. Die Akzeptanz parallel existierender, widerstreitender „Wahrheiten“ führt dazu, dass man im Gespräch bleibt. Wer der Andere ist und was ihn warum bewegt, erfährt man nur im Dialog. Entsprechend ist die Aufforderung „Anders denken!“ ein Appell, immer „im Gespräch zu bleiben“. Statt das eigene Denken zu verabsolutieren, müssen scheinbare Glaubensgewissheiten beständig unvoreingenommen an denen anderer gemessen und mitunter auch korrigiert werden. Die Wahrheit ist in der Lebenswirklichkeit eben nicht schwarz und nicht weiß. Je näher man ihr zu kommen glaubt, desto mehr entzieht sie sich. Eine Schärfung der moralischen Urteilskraft sowie die Fähigkeit, die unvermeidlichen Widersprüche des menschlichen Lebens in Gemeinschaft auszuhalten, kann man nur lernen, wenn man sich im Denken wie in der Welt des Alltags auf die Zwischentöne des Lebens einlässt. Peter Sloterdijk fasste diese lebenspraktische Einsicht in den Satz: „Solange man das Grau nicht gedacht hat, ist man kein Philosoph.“

Dr. Siegfried Reusch, Chefredakteur