der blaue reiter Ausgabe 36 |
Leseprobe
Die Vorzüge eines ländlichen Lebens
Jean-Jacques Rousseaus Kampf gegen das luxuriöse Stadtleben
Jean-Jacques Rousseau fristete ein recht kärgliches Dasein. Von seinen philosophischen Schriften konnte er nicht existieren und die materiellen Lorbeeren seiner belletristischen Arbeiten wollte er nicht einheimsen. Oft verdingte er sich als Notenkopist, um seine bescheidenen Einkünfte aufzubessern. Von den so erworbenen Mitteln brachte er sich, seine langjährige Lebensgefährtin Thérèse und deren Mutter durch. Für ihre Kinder reichten die zur Verfügung stehenden Mittel nach Rousseaus eigenem Bekunden nicht aus. Sie wurden daher unmittelbar nach der Geburt in ein Waisenheim gegeben. Die Ärmlichkeit des rousseauschen Lebens wäre vermutlich noch größer gewesen, wenn er nicht immer wieder adlige Unterstützer gefunden hätte, die ihm Unterkunft und Schutz gewährten. Eine seiner Gönnerinnen, Madame d’Épinay, stellte ihm jahrelang ein Gartenhaus auf ihrem Gut in Montmorency zur Verfügung und noch in den letzten Monaten seines Lebens fand er ein komfortables Heim auf dem Anwesen des Marquis de Girardin in Ermenonville im Norden von Paris.
Die Unterstützer und Bewunderer des Denkers und Autors Rousseau waren sich durchaus bewusst, dass sie einen recht eigenwilligen Menschen und Geist alimentierten. Sie förderten einen Mann, der sich als Autodidakt, aus bescheidensten Verhältnissen in Genf stammend, durch seine intellektuelle Originalität in den Fokus der ersten Pariser Gesellschaft geschrieben hatte. Sie unterstützten einen Denker, der an vielen Stellen seines Werks sehr ausdrücklich ihre im Reichtum schwelgende Lebensführung ablehnte – und sie gewährten einem Autor Zutritt zu ihren Kreisen, dessen erste umfangreichere theoretische Schriften sowohl in Genf als auch in Paris in den Sechzigerjahren des 18. Jahrhunderts verboten wurden. Es spricht für den Geist des vorrevolutionären 18. Jahrhunderts, dass diejenigen, die die Lehren des Schriftstellers Rousseau am meisten zu fürchten hatten, zu seinen innigsten Unterstützern zählten. Bemerkenswert ist überdies, dass viele jener Adligen, die zu den Förderern Rousseaus gehörten, selbst in den kritischen Salons des intellektuellen Paris zuhause waren und kritische Geister der Aufklärung wie Denis Diderot oder Jean Baptiste le Rond d’Alembert durch ihren Zuspruch ermutigten. Anders jedoch als diese Letztgenannten mochte sich Rousseau nicht mit den gesellschaftlichen Gepflogenheiten und dem großstädtisch-eleganten Treiben anfreunden. Er blieb in diesen Kreisen ein Außenseiter und überwarf sich später mit einem Großteil seiner ehemaligen Weggefährten.
Selbstgenügsamkeit ist die Grundlage
für ein gemeinsames Leben der Menschen
in Zufriedenheit und Einigkeit.
Als Rousseau, gerade dreißigjährig, nach Paris übersiedelte, hatte er schon einige Stationen auf seinem Lebensweg hinter sich gebracht. Neben Lyon, Turin und Venedig hatte er bereits an zahlreichen illustren Orten jener Zeit gelebt, beschreibt aber rückblickend stets die Jahre als seine glücklichsten, welche er auf dem Land und in der Natur verbracht hatte. Immer wieder lobt er in seinen Bekenntnissen oder dem Spätwerk Träumereien eines einsamen Spaziergängers die einfache und ehrliche Lebensweise auf dem Lande, die er erfahren durfte. Seine Eloge auf eine naturnahe und schlichte Existenz auch in seinen autobiografischen Texten wirft ein helles Licht auf die eigentümlichen Schwierigkeiten der gesellschaftlichen Erfahrungen, die er in Paris machen sollte. Fast scheint es so, als seien die ersten kulturkritischen Schriften Rousseaus intellektuelle Auseinandersetzungen mit einem großstädtischen Leben, dessen bürgerlicher Verhaltenskodex und zwischenmenschliche Maskeraden ihn vor kaum überwindbare Hindernisse stellten. Rousseau waren der elegante Lebensstil, die rhetorische Brillanz und die intrigante Streitkultur der Pariser Salons fremd. Es ist überliefert, dass er in dieser Umgebung auch ebenso deplatziert wirkte. Die elaborierten städtischen Umgangs- und Diskursformen schienen ihm Synonym einer inhaltsleeren, im Verfall begriffenen Zivilisation zu sein.
Die Dekadenz der Wissenschaften und Künste
In seiner ersten theoretischen Schrift, die ein nicht unerhebliches Aufsehen erlangte – und zuvor von der Akademie in Dijon mit einem Preis gewürdigt worden war –, macht Rousseau die Zivilisation und die Wissenschaften im Allgemeinen für die Entartung der Gesellschaft verantwortlich. Die von ihm vertretene, wenngleich nicht in jeder Hinsicht originelle These lautet, dass die Wissenschaften und die Künste allerlei Überflüssiges und Unnützes in die Welt gebracht haben und dadurch Abhängigkeiten und neue „Ketten“ geschaffen wurden. Durch sie wird die Tugendhaftigkeit und Klarheit des einfachen Lebens verstellt, das durch die verschachtelten Denk- und Darstellungsformen auf immer unzugänglich erscheint. Waren die Menschen früher einander in stiller Beredsamkeit zugetan, war es ihnen damals ein Leichtes sich wechselseitig zu durchschauen. Es gab so keine Geheimnisse und vom Wissen verschleierte Ausdrucksformen. Die Menschen konnten sich vertrauen und entsprechend gab es aufrichtige Freundschaftsbeziehungen unter den Menschen.
Allzu deutlich scheint in diesen Überlegungen die biblische Schöpfungsgeschichte durch, in der das Wissen um Gut und Böse mit dem verbotenen Apfel gereicht wird. Mit der Ursünde und der ihr eigenen unwiederbringlichen Überschreitung ist der Auszug aus dem Paradies besiegelt. Immer mehr Wissen und immer bessere Erkenntnisformen führen die Menschheit nicht zurück zur unschuldigen und glücklichen Existenz in der Natur. Ganz im Gegenteil: Wissen und Künste legen mit ihrem Fortschreiten immer wieder neue Schichten und Schleier über das einstmals so reine Leben in würdiger Einfalt.
Mit jeder neuen zivilisatorischen Errungenschaft wächst die Abhängigkeit des Menschen von den künstlich erzeugten Bedürfnissen. Dies gilt auf der einen Seite für die durch Wissen und Technik geschaffenen alltäglichen Annehmlichkeiten und auf der anderen Seite für die durch Literatur und Künste gestifteten Zerstreuungen. In diesen Abhängigkeiten gewahrt Rousseau die Grundlagen einer fortschreitenden Versklavung, deren grellste Ausleuchtung der materielle Luxus ist: „Hier sehen wir also, wie Luxus, Ausschweifungen und Sklaverei allezeit die Strafen der stolzen Bemühungen gewesen sind, durch welche wir uns aus der glücklichen Unwissenheit, in die uns die ewige Weisheit versetzt hatte, herauszureißen suchten.“ Dabei ist der Luxus nicht nur Resultat einer fortgeschrittenen wissenschaftlichen und kunstbeflissenen Kultur, sondern er ist auch ihre Bedingung. Der Luxus verschafft, einmal in der Welt etabliert, der Wissenschaft und den Künsten neue Spannkraft und Dynamik: Wissen schafft Luxus und Luxus schafft Wissen. Der Überfluss, der sich im Luxus einstellt, wird gestaltet und entwickelt durch die immer wieder neuen Errungenschaften des Wissens.
Wissen schafft Luxus
und Luxus schafft Wissen.
Mit der zivilisatorischen Gabe des Luxus tauchen nach Rousseau nun auch die Laster und die Verderbtheiten der menschlichen Zivilisation auf. Müßiggang und Heuchelei, allerlei Laster und die Auslöschung der Aufrichtigkeit sowie Eitelkeit und die Verschwendung der Zeit werden zu den Emblemen einer unumkehrbaren décadence. Und Rousseau führt historische Belege für seine Thesen an. So ist der Untergang Griechenlands ein gutes Beispiel für seine Behauptungen. In den Zeiten mannhafter und tapferer Ausbildung der Jungen – ganz nach dem Vorbild Spartas – ist die Wehrhaftigkeit des Landes herausragend gewesen. Mit der Einführung des Wissens und der Künste kam es zu einer Verweichlichung und zu einem Verlust der Tugenden. Als glaubwürdigen Warner vor den Dichtern, Künstlern und Sophisten bemüht Rousseau Platons Sokrates. Dieser hat bereits angesichts des grassierenden Hochmuts seiner Zeit die Unwissenheit gerühmt. Einen ähnlichen Zustand sieht Rousseau auch im Niedergang Roms und seiner Herrschaft anheben. Hier erklärt er den älteren Cato zum Mahner, der die Zunahme an Rednern und Philosophen in Rom geißelte und die Vernachlässigung des Ackerbaus und der Kriegszucht beklagte. …
Autor: Alfred Hirsch