Antje Seemann: Meister Eckhart, 2014
Linolschnitt, 37 x 31 cm



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der blaue reiter Ausgabe 35

 



Der grundlose Grund

Meister Eckhart: Porträt eines Mystikers

Mystik zielt auf die Vereinigung mit einer absoluten Wirklichkeit, die dem alltäglichen Blick verborgen bleibt. Meister Eckhart, der bedeutendste Vertreter der mittelalterlichen Mystik, suchte die Vereinigung mit dem Göttlichen, das, wie er sagte, im Innersten der Seele immer schon verborgen liege. Eine Orientierungshilfe aber, wie das letzte Geheimnis menschlicher Existenz individuell erfahrbar gemacht werden könne, gab er nicht, sie schien ihm nicht erforderlich. Gängige Wege zu ekstatischen Gotteserfahrungen – Askese, Geißelung, Meditation, Kontemplation – lehnte Eckhart ausdrücklich ab.

Meister Eckhart lebte an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert, also in einer Zeit des religiösen Aufbruchs im abendländischen Christentum. Er selbst setzte in seinem Bekenntnis zu Gott auf Vernunft und intellektuelles Erkennen. Der Mensch bewege sich nicht auf Gott zu, so Eckhart, weil er immer schon bei ihm angekommen sei. Alles Empfinden der Seele sei in die menschliche „vernüfticheit“ eingebettet, die nicht mit analysierender Rationalität verwechselt werden dürfte. Das auf dem Grunde der Seele verborgene Geheimnis menschlicher Existenz (lateinisch: abditum mentis) verlasse unter Vermittlung der Vernunft das schützende Gestrüpp, in dem es sich seit je verberge, und biete sich im vernünftigen Erkennen als offenbare Wahrheit an, die weit, offen und empfänglich genug sei, um sich auf den „grunt âne grunt“ (mittelhochdeutsch für „Grund ohne Grund“) ohne Vorbehalt einzulassen.
Alle Weltreligionen kennen spirituelle Erfahrungen, die objektiven Zugängen verborgen sind. Ein solches Erfahrungswissen ist meist nur für einen ausgewählten Personenkreis bestimmt, wird streng vertraulich gehandelt, geheim gehalten, steckt voller Geheimnisse, gilt als unerklärbar, nicht zu deuten, ist ein Mysterium, so die gängige Bezeichnung. Der Mensch übersteigt unendlich den Menschen (Blaise Pascal), auf das Unbegreifliche hin.
Die Forschung spricht in diesem Zusammenhang von Mystik, ohne jedoch eine einheitliche, klare und deutliche Begriffsbestimmung vorlegen zu können. Meist übt sich der Mensch in einem langen asketischen Weg (lateinisch itinerarium), Schritt für Schritt, in die absolute Wahrheit Gottes ein. Zunächst geht er den Weg der Reinigung (purificatio), dann den der Erleuchtung (illuminatio) und gelangt schließlich in der Einheit mit Gott (unio) zur Vollendung.

 

   Die Wirklichkeit verbirgt
   sich in einem Meer von
   Möglichkeiten.

 

Ein langes Leben lang sucht der Mensch allem, was sich ihm verbirgt, auf den Grund zu gehen, den Dingen, anderen Menschen, sich selbst, womöglich sogar dem Ursprung des Seins. – Kinder können sich meist nur kurz zurückerinnern, nur wenige Tage, an besonders eindrückliche Erlebnisse. Es ist, als säßen sie, von sich selbst überrascht, in einem Kahn, der über einen ruhigen See gleitet. Die Ufer liegen im Nebel verborgen. Die Kinder wissen nicht, wie sie auf das Boot kamen, welchen Weg es nahm und wohin die Reise führt. Sie fühlen sich sicher, weil ihnen die sie umgebenden Menschen vertraut sind, und doch gibt es da etwas Unvertrautes, Unheimliches, dem sie jederzeit, jetzt auf nachher, ausgesetzt werden könnten. Ihr Blick erreicht weder ihre Herkunft noch ihre Zukunft, und doch gibt es die Ahnung von dem Unheimlichen, dem Abenteuer, das unter der Wasseroberfläche und in den aufsteigenden Nebelwänden nur darauf wartet, endlich bemerkt und wahrgenommen zu werden. Gespannt wie ein Flitzebogen ist das Leben der Kinder, wachsam auf alles gerichtet, was es zu entdecken, begreifen und bestehen gibt. Noch ist wenig wirklich, aber unendlich viel möglich. Erstaunt blicken die Kinder über die Wasseroberfläche, als erwarteten sie ein plötzliches Aufbrausen, meterhohe Wellen, Sturm oder tödliche Strudel. Bang erwarten sie, dass sich etwas ereignet, vermuten Unwesen, die aus den Fluten auftauchen oder sich an den Ufern zeigen könnten.
Wenn die Kinder in die Jahre kommen, erwachsen oder gar alt werden, stellen sie überrascht fest, dass noch immer neue Überraschungen auf sie warten, an die sie nie und nimmer gedacht hätten, genauso gefährlich, genauso beglückend, wie bisher. Vieles wurde entdeckt, begriffen, bestanden, doch endgültig geklärt hat sich wenig. Es hat sich zwar eine Menge an Wirklichkeit angesammelt, im Laufe der Jahre, während die Möglichkeiten immer eingeschränkter wurden, doch die Wirklichkeit aller Wirklichkeiten verbirgt sich nach wie vor in einem Meer unendlicher Möglichkeiten.
Man fragt ohne Unterlass nach dem, was man nicht begreifen kann und sucht nach einem begehbaren Weg. Kann es einen solchen Weg überhaupt geben? Es gibt keinen Weg, nur die leichte Spur der Wellen, die der Kahn für kurze Zeit hinter sich herzieht. Wege zu weisen ist eine Quadratur des Kreises, so viel, wie einen eckigen Kreis zu zeichnen. Es fehlen die richtigen Vorstellungen und Worte. Sollte ein Ankommen überhaupt gelingen, dann in einem jähen Sprung in das anfängliche Wesen, das der Mensch schon immer in vollkommener Weise in sich trägt.
Für Meister Eckhart ist die vernünftige Seele der Tempel Gottes. In ihr übersteigt sich der Mensch immer schon auf das Unbegreifliche hin. Der Anfang des Menschen ist der Erinnerung verloren gegangen und mit ihm die sichere Orientierung der Lebensführung. Von sich aus findet der Mensch nie und nimmer den richtigen Weg, das Geheimnis sucht von sich aus den Menschen. Es gibt keinen Weg, der sicher zum Ziel hinführen könnte, vielmehr verhält es sich gerade umgekehrt – das Ziel zeigt sich unmittelbar selbst: Das Ziel ist der Weg! Das Einzige, was der Mensch wahrnehmen kann, ist unbegreifliche Unendlichkeit.

Der religiöse Aufbruch im frühen 14. Jahrhundert

Meister Eckhart wurde um 1260 als Sohn eines Vogtes als „Eckhart von Hochheim“ in Tambach bei Gotha geboren. Schon in jungen Jahren trat er in den Erfurter Dominikaner-Konvent ein. Der Orden, 1216 von Dominikus als Prediger- und Beichtorden gegründet, eta­blierte sich, neben dem Franziskanerorden, als einer der großen Bettelorden. Er stellte schon bald nach seiner Bestätigung durch den Papst eine der stärksten spirituellen Kräfte des hohen Mittelalters dar: Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Dietrich von Freiberg und nicht zuletzt Meister Eckhart selbst legen dafür Zeugnis ab. Doch schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts erhielten mehrere Dominikanerkonvente den Auftrag, den kirchlichen Glauben bedrohende Häresien aufzuspüren und die Ketzer zu verfolgen, weshalb die Dominikaner auch als domini canes (lateinisch für „Hunde des Herrn“) bezeichnet wurden.
Während sich die alten Orden der Benediktiner, Zisterzienser und Augustiner in abgeschiedene Klöster zurückzogen, fernab der Umtriebigkeit der Städte, und sich durch wirtschaftliche Autarkie absicherten, lebten die Dominikaner, der Armut verpflichtet, als Bettelbrüder in den Städten, mitten unter den Menschen, um die sie sich kümmern wollten.
Eckhart studierte zunächst in Erfurt, dann in Köln und Paris Theologie, aristotelische Naturphilosophie und die Sieben Freien Künste (lateinisch: septem artes liberales), die sich in besonderer Weise um die Kunst und den Umgang mit Sprache (Rhetorik) bemühten. In den Jahren 1302/03 und ein weiteres Mal 1311/12 erhielt Eckhart einen Ruf an die Sorbonne in Paris, der damals angesehensten Universität des Abendlands, und übte dort das Amt eines Professors aus (lateinisch: magister actu regens). Während dieser Zeit entstanden Eckharts bedeutende lateinische Werke, insbesondere das dreiteilige Werk (opus tripartitum), das theologisch-philosophische Thesen, Fragen und Problemstellungen, mehrere Schriftauslegungen und lateinische Predigten enthält. Dieses Werk ist nur noch in Teilen erhalten. In den Jahren vor und zwischen den Lehrtätigkeiten bekleidete Eckhart hohe Ämter und wurde schließlich selbst Provinzial der Ordensprovinz Saxonia, als der er drei neue Konvente gründete; und war zeitweilig auch Provinzialvikar für die Provinz Böhmen.
Bereits im Jahre 1295, als Eckhart Prior von Erfurt und Provinzialvikar von Thüringen war, verfasste er eine erste programmatische Schrift in deutscher Sprache, die Reden der Unterweisung. Ab 1313 dann, nach seiner Lehrtätigkeit in Paris, hielt sich Eckhart vor allem am Oberrhein und in Köln auf. Aus dieser Zeit stammen einige Traktate, unter anderem das Buch der göttlichen Tröstung, und vor allem Predigten, die er in deutscher Sprache hielt. Die Predigten wurden aufgezeichnet und zum Teil überliefert. Die über 700 Jahre lange Rezeptionsgeschichte Eckharts beschäftigte sich in erster Linie mit seinen deutschen Werken. …

Autor: Rolf Siller