Siegfried Reusch
Chefredakteur
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der blaue reiter Ausgabe 35

 



Warum wir Geheimnisse brauchen


Ob das Öffentliche zum Privaten und das Private öffentlich zu machen seien, wie Ende der 1960er-Jahre noch vehement gefordert wurde, ist infolge des technischen Fortschritts längst keine Frage mehr. Die Grenzen zwischen Marktplatz und Intimität scheinen dank Internet und Smartphones vollkommen verschwunden. Fotos ausgelassener Partys werden in trunkener Echtzeit auf Facebook gepostet, die banalsten Lebensvollzüge in einer Peepshow des Alltäglichen per Twitter in die Weltöffentlichkeit „gezwitschert“. Alles wird nach außen gekehrt, enthüllt, entblößt, entkleidet und exponiert. Nicht nur Geheimdienste, sondern auch Kaufhauskonzerne und mitunter gar der pubertierende Computerfreak von nebenan kennen und speichern legal wie illegal sämtliche Einzelheiten unserer Lebensgewohnheiten. Doch während die einen schon das Heraufziehen eines neuen Überwachungsstaats der Internetkonzerne befürchten, basteln andere mit Lust und Freude an ihrer öffentlichen Selbstentblößung oder entziehen sich der totalen Erfassung durch bewusste Maskeraden. Meist ist das eine kaum vom anderen zu unterscheiden. Selbstdarstellung ist in den seltensten Fällen ehrliche Darstellung des Selbst. Zumeist ist sie die Aufführung eines Dramas: das Wunschkonzert dessen, was man gerne wäre. Camouflage als Spiel sowie bewusste Selbstverhüllung aus Selbstschutz gehen dabei Hand in Hand mit der unbewussten Sehnsucht nach zwischenmenschlicher Nähe. Noch nie wurde deswegen so viel kommuniziert wie in unserem Kommunikationszeitalter genannten Jahrhundert und noch nie saß man sich in den Zügen der Deutschen Bahn so sprachlos gegenüber, starrte mehr auf die Rückseiten dauerkommunizierender Smartphones denn in offene Gesichter.
Unter dem Banner der aufklärerischen Vernunft galten geschlossene Gesellschaften, Geheimbünde und vor allem das Geheimnis selbst als der Gemeinschaft abträglich. Heute zerstört die Ekstase der Kommunikation mit ihrem vermeintlichen Zwang zu medialer Dauerpräsenz jegliche Intimität. Werden das Geheimnis und die Diskretion jedoch aufgekündigt, verlieren wir Thomas Jung zufolge den wichtigsten Teil unseres Selbst: die Unbestimmbarkeit und Unverfügbarkeit der Sphäre des inneren Daseins. Unsere Eigenweltlichkeit, die der sozialen Einebnung der Ununterscheidbarkeit entgegenwirkt, wird preisgegeben. Das Selbst, so schreibt Jung in seinem Beitrag, muss sein Geheimnis insoweit bewahren, dass der Reiz der Nichtpreisgabe jene Attraktion bewirkt, die uns die Beziehung zu anderen ermöglicht. Das Wissen darum, wann uns etwas angeht und wann nicht, wann wir wegschauen und weghören müssen, die Tugend der Diskretion, ist dort ethische Kategorie, wo sie als Grenzziehung seelisches Privateigentum gegen alle gesellschaftlichen Entbergungsmechanismen sichert und derart den Individuen hilft, als Selbst einzigartige und zugleich soziale Wesen zu sein, denn: Geheimnisvolles Verhalten ist anziehend und mithin gemeinschaftsstiftend.
Privatheit ist jedoch kein Wert an sich. Sandra Seubert erinnert daran, dass das Private immer auch repressive Seiten hat. Unter dem Titel Offenbarung und Kontrolle. Die soziale Dynamik des Privaten kommt sie zu dem Schluss, dass Menschen, ohne etwas voneinander zu wissen, ebenso wenig soziale Beziehungen eingehen können, wie ohne etwas voreinander zu verbergen. Was Individuen in sozialen Kontexten jeweils über sich mitteilen, hänge von der Art der Beziehung und sozialen Rollenerwartungen ab. In der Tat ist es etwas anderes, ob wir uns in einem Arzt/Patienten-, einem Arbeits- oder Freundschaftsverhältnis befinden; und vor allem: „Bei Freundschaftsbeziehungen ist nicht nur ein Teil der Person von Bedeutung, sondern die (wertgeschätzte) Person als Ganze.“
Entsprechend bedarf die Balance zwischen Privatheit und Öffentlichkeit einer Neujustierung. Sind völlig transparente Beziehungen Byung-Chul Han zufolge doch Relationen, denen jede Anziehung, jede Lebendigkeit fehlt: „Ganz transparent ist nur das Tote.“ Der Zwang zur Transparenz verneine den Respekt vor der Andersheit des Anderen und nivelliere die Menschen zu nur mehr funktionellen Elementen eines Systems: Das Andere, das Fremde wird eliminiert. Eine Gesellschaft, die alles ausstelle, sei pornografisch, der Exzess der Ausstellung mache aus allem eine Ware, die ohne jedes Geheimnis dem unmittelbaren Verzehr ausgeliefert sei. Im Beitrag Der Terror der Transparenz kommt Han zu dem Schluss, dass die Forderung nach Transparenz immer dann laut wird, wenn es kein Vertrauen mehr gibt.
Doch der Missbrauch von Vertrauen ist keine Erfindung unserer Zeit: Der Grieche Ephialtes verriet in der Schlacht bei den Thermopylen sein Volk an die Perser, Judas Ischariot brachte durch einen Kuss den vermeintlichen Gottessohn ans Kreuz und der Cherusker Arminius bescherte mit seinem Verrat den Römern in der Varusschlacht eine vernichtende Niederlage. Das von Claus Schenk Graf von Stauffenberg mit geplante misslungene Attentat auf Adolf Hitler war ganz klar ein Hochverrat, konstatiert Jutta Heinz in ihrem Lexikonbeitrag; für die Nachgeborenen ist der Wehrmachtsoffizier jedoch ein Held. Aus Sicht der amerikanischen Geheimdienste ist auch der Whistleblower Edward Snowden zweifellos ein Hochverräter – für den Rest der Welt aber ein Heros der neueren Aufklärung. Die Reduktion auf nur eine Perspektive raubt den Dingen nicht nur ihr Geheimnis, sondern auch einen Teil ihrer Wirklichkeit!
Nicht von ungefähr fordert uns der Verpackungskünstler Christo mit seinen temporären Verhüllungen dazu auf, das alltäglich Scheinende immer wieder neu in den Blick zu nehmen. Auch das japanische Denken kommt dem Versuch gleich, das Sehen des Sichtbaren zu lehren. Entsprechend macht Ryosuke Ohashi in seinem Beitrag darauf aufmerksam, dass, so hoch der Berg und so weit der Blick auf die Berge in der Ferne auch sein mögen, der Betrachter auf dem Gipfel eines nicht sehen kann: die Spitze des Berges, auf dem er steht. Das Wesen des Berges entberge sich nur dem, der über die steinernen und steilen Bergpfade am Ende des mühsamen Aufstiegs den Gipfel tatsächlich erreicht habe, denn der „Berg“, der bestiegen werde, „ist der Berg eines jeden selbst“.
Die Dinge zur Aussprache ihres eigenen Seins zu bewegen, die Wahrnehmung dessen, was sich von sich her zeigt, ist auch ein zentrales Anliegen der Kunst. Die Überschüsse des Sichtbaren eröffnen der Erkenntnis einen Ausblick, ohne den Dingen und dem Leben ihr Geheimnis zu nehmen. Phänomene wie zum Beispiel Schönheit und Liebe sollen sich nicht abgreifen oder zum bloßen Spektakel verflachen, sondern ihre Kraft und Bezauberung behalten, so Antje Kapust unter dem Titel Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Zur Erkenntniskraft der Kunst bei Maurice Merleau-Ponty.
Techniken des Umgangs mit dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren sind für das gesellschaftliche Leben unerlässlich. Auch wenn Sigmund Freud als der Entlarvungspsychologe par excellence davon überzeugt war, dass Geheimnisse krank machen, mithin schonungsloses Aufdecken unerlässlich sei, versuchte er doch, bestimmte Aspekte seines persönlichen Lebens zu verbergen, wie Günter Gödde aufzeigt. Er weist darauf hin, dass Freud sich sehr wohl darüber bewusst gewesen sei, dass es zur feineren Menschlichkeit gehöre, Ehrfurcht vor der Maske zu haben und nicht an falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu betreiben.
Die Sehnsucht, verborgene Wirklichkeiten zu entdecken und Geheimnisse zu lüften, gründet unter anderem im antiken Spannungsgefüge von Verborgenheit und Entbergung, das am Ende Unverborgenheit, altgriechisch aletheia, als Wahrheit und Sinn zum Vorschein bringen soll. Seit der Antike haben die Wissenschaften viele vormals als unlösbare Geheimnisse deklarierte Rätsel der Natur gelüftet. Gewitterblitze werden längst nicht mehr von Göttervater Zeus auf die Erde geschleudert und Erdbeben sind nicht mehr Folge von Arbeiten in den Tiefen der Schmiede des Feuergottes Vulcanus. Spätestens seit den Aufbrüchen der Französischen Revolution wird das Leben mit all seinen Widerfahrnissen nicht mehr länger als Erdulden eines unabänderlichen Geschicks wahrgenommen, sondern verstehen sich die Menschen als ihres Lebensglückes eigene Schmiede. Entsprechend staunen wir heute weniger über die Wunder der Natur denn über die der Technik. „Wo im Märchen das Drehen eines schwer errungenen Zauberrings dienende Geister bebend auf den Plan rief, genügt heute ein mehrmaliges Wischen über eine gläsern schimmernde Oberfläche, um die neuen Schuhe oder das neue Fernsehgerät ins Haus zu bringen“, schreibt Friedrich Dieckmann in seiner Kolumne und konstatiert: „Kein Mensch versteht noch, womit er hantiert; es müsste ihm geheimnisvoll erscheinen, wenn er nicht wüsste: es ist konstruiert, also kann kein Geheimnis darin wohnen.“ Auch wenn dessenthalben immer wieder von einer Entzauberung der Welt die Rede ist, will doch kaum einer ernstlich zurück in die dunklen Tiefen der durch mythische Wahrheiten geprägten Zeitalter.
Gleichwohl es die meisten Menschen im Alltag wenig kümmert, dass vorgeblich das menschliche Genom entschlüsselt und der Ursprung der Welt bis auf kleinste Sekundenbruchteile vor deren errechnetem Beginn enträtselt ist, treibt eine unerklärliche Sehnsucht nach der Erkundung verborgener Wirklichkeiten einzelne nach wie vor in die tiefsten Tiefen und die höchsten Höhen. Der Wunsch zu verstehen, die Fragen nach dem Warum, Woher, Wohin und Worumwillen, das Sehnen nach dem Unbekannten scheint Antrieb des menschlichen Lebens selbst. Doch weder die umfassende Berechenbarkeit der Welt noch die totale Transparenz sämtlicher Lebensvollzüge werden den Wesenskern unserer Welt aufscheinen lassen. Je mehr wir über das Funktionieren von Welt zu wissen glauben, desto mehr scheint das Objekt der Begierde sich zu entziehen. Der Künstler Mischa Kuball veranschaulichte dies, indem er in einem mit Papierschnitzeln gefüllten Raum eine Kamera an einen beweglichen Ventilator montierte. Sobald ein Objekt von der Kamera in den Blick genommen wird, bläst der Luftzug des unter der Kamera befestigten Ventilators dieses augenblicklich aus dem Blickwinkel.
Dem Absolutismus der Wirklichkeit entgeht man nicht durch die rasende Wut des Verstehenwollens, nicht durch den anhaltenden Versuch des Enthüllens und Entschleierns von Welt, so Uwe C. Steiner unter dem Titel Die Wiederentdeckung der Nacktheit. Warum die Wahrheit nie ohne Schleier geht. In der Tat können wir uns dem Geheimnis des Seins, mithin dem nackten Wesenskern des Menschen nur durch unausgesetzte, immer neue Einkleidung dessen nähern, was uns begegnet – dem Einkleiden von Wahrgenommenem und Gedachtem in die Bilder der Sprache, der bildenden Kunst und der Philosophie.

Dr. Siegfried Reusch, Chefredakteur