Hermann Burkhardt: Cicero, 2012;
Holzschnitt



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der blaue reiter Ausgabe 32

 



Das „andere Selbst“

Freundschaftslehren in der antiken Philosophie

Der Stellenwert der Freundschaft in der antiken Philosophie kann kaum überschätzt werden: „Denn niemand würde wählen, ohne Freunde zu leben, auch wenn er alle übrigen Güter hätte.“ Aristoteles referiert hier nicht nur die allgemeine Überzeugung seiner Zeitgenossen, sondern bringt einen notwendigen Zusammenhang zwischen der Freundschaft als Gut und dem gelingenden Leben (eudaimonia) zum Ausdruck, den nahezu alle antiken Philosophenschulen in Theorie und Praxis anerkennen. Ihre Freundschaftslehren sind eng verknüpft mit ihrem Selbstverständnis als glücksverheißende Lebensformen, wodurch sich auch das intensive philosophische Interesse an dieser Thematik in der Antike erklären lässt.

Die altsprachlichen Begriffe, die mit „Freundschaft“ wiedergegeben werden (griechisch: philia; lateinisch: amicitia), sind viel weiter gefasst als unser heutiges Verständnis des Konzepts: Mit ihnen können unter anderem diverse verwandtschaftliche, gesellschaftliche, geschäftliche und sogar politische Beziehungen zum Ausdruck gebracht werden. Dies hat Anlass zu der irrigen Vermutung gegeben, dass der antike Diskurs über Freundschaft letztlich das verfehlt, wofür der Terminus spätestens seit der Neuzeit in Anspruch genommen worden ist: eine spezifische Formel für die gegenseitige emotionale Wertschätzung zu sein, die sich Menschen abseits aller Blutsbande und sozialen wie wirtschaftlichen Interessen zukommen lassen.

Was ist ein Freund?

In Platons Frühdialog Lysis (Untertitel: Peri philias, altgriechisch für Über die Freundschaft) problematisiert Sokrates die Frage, wie man jemandes Freund wird. Der Dialog endet allerdings aporetisch, das heißt ohne eindeutig ausmünzbares Resultat, insofern es nicht gelingt, die für die Klärung dieses Unterfangens notwendige Wesensdefinition von „Freund“ (philos) zu etablieren. Sokrates arbeitet sich dabei unter anderem an früheren Bestimmungen ab, die teils der physiologisch-kosmologischen Spekulation der Vorsokratiker, teils der Dichtung (vor allem Homers und Hesiods) entstammen:
1. „Gleiches (beziehungsweise Ähnliches) ist einander freund“ (zum Beispiel Empedokles): Das verletzt zum einen den tief in der griechischen Vorstellung verwurzelten Grundsatz, dass unter schlechten Menschen nie wirkliche Freundschaft entstehen kann. Zudem bestimmt Platon Freundschaft wesentlich über das Streben nach dem Guten beziehungsweise dem Nutzen; das einander Ähnliche oder Gleiche kann sich aber eigentlich nicht nutzen, weil jeder der Freunde ja schon das besitzt, was der andere hat. Deshalb bietet sich die entgegengesetzte Alternative an:
2. „Entgegengesetztes ist einander freund“ (zum Beispiel Heraklit): Dass Gegensätze einander anziehen, klingt zwar psychologisch plausibel, wirft aber auch konzeptuelle Probleme auf. Denn das Entgegengesetzte ist immer auch das einander „Fremde“ beziehungsweise „Feindliche“, sodass paradoxerweise die Freundschaft als eine Beziehung der persönlichen Vertrautheit miteinander auf Fremdheit beziehungsweise Feindschaft beruhen würde.
Die vorsokratischen Spekulationen bleiben also widersprüchlich und führen hinsichtlich der Definition des Freundes in die Sackgasse. Diese und andere Paradoxien verdanken sich vor allem der im Dialog nicht hinreichend vollzogenen Differenzierung von philos als Substantiv („Freund“) und als Adjektiv, als das es sowohl „lieb und teuer“ als auch „begierig (nach)“ bedeuten kann. Als Adjektiv ist philos aber gerade nicht auf Beziehungen zwischen Menschen beschränkt, sondern kann auch auf andere Objekte übertragen werden, indem man zum Beispiel vom „Wachtelfreund“ oder vom „Weisheitsfreund“ (philo-sophos) spricht. Platon fasst somit als Ursache der Freundschaft im Kern das Streben und Begehren (epithymia) nach etwas auf, womit unübersehbar eine Brücke zu seinen späteren Eros-Dialogen (Symposion und Phaidros) hergestellt wird: Erotische Liebe ist Ausdruck einer als defizitär empfundenen Bedürftigkeit, deren Stillung man sich vom Objekt der Begierde, dem Geliebten, verspricht. Für Platon ist letztlich Liebe (erôs) die höchste Form von Freundschaft und ersetzt diese zunehmend in seinem Dialogwerk.
Doch damit geht der Freundschaft, sofern man sie als Beziehung zwischen Menschen versteht, zugleich etwas Fundamentales verloren, nämlich das notwendige Moment der Wechselseitig-keit: Man kann durchaus liebend begehren, ohne wiedergeliebt zu werden – dies trifft ja auch gerade auf das Verlangen nach unbelebten Objekten zu –, während Freundschaft keine einseitige Angelegenheit sein kann. Auch wenn Platon den Freundschaftsbegriff gegenüber vorherigen philosophischen Diskussionen aus der Sphäre der prinzipientheoretischen Spekulation über die Strukturen der Welt auf den Boden der Psychologie und Ethik herabgeholt hat, bleibt seine Behandlung der Freundschaft im engeren Sinne des Wortes im Lysis deshalb unvollständig.

Die drei Formen der Freundschaft

Aristoteles löst die Paradoxien des platonischen Lysis auf, indem er als zentrales Merkmal der Freundschaft deren Wechselseitigkeit betont: „Ein Freund ist einer, der liebt und dafür selbst geliebt wird“, wobei „Freund zu sein heißt, jemandem das zu wünschen, was man für gut hält, um seinetwillen, nicht im eigenen Interesse“. Freundschaft beruht auf einem wechselseitigen Wohlwollen (eunoia), das sich auf den jeweils anderen richtet. Bloßes Wohlwollen allein reicht allerdings noch nicht zur Freundschaft aus, weil man dies auch einseitig gegenüber Menschen haben kann, die den Wohlwollenden selbst vielleicht gar nicht kennen. Außerdem mündet Wohlwollen nicht notwendigerweise in entsprechenden Handlungen. Aristoteles setzt vor allem auf den tätigen Charakter von Freundschaft: Freunde wünschen sich einander nicht nur Gutes, sondern sie tun es auch. Dies steht in Verbindung damit, dass Freunde eine Gemeinschaft (koinônia) teilen, in der ihnen „alles gemeinsam ist“. Nur wer zu einem gemeinschaftlichen Zusammenleben (syzên) in Worten und Taten bereit ist, kann ein wirklicher Freund sein – zu den rein virtuellen Freundschaften unseres Zeitalters (Facebook-Freunde) hätte Aristoteles wohl eher ein reserviertes Verhältnis. Erst in der tätigen Erprobung des realen Zusammenlebens kristallisiert sich nämlich auch heraus, ob wirklich eine Basis echter Freundschaft vorhanden ist: eine Eintracht (homonoia) in den praktischen Überzeugungen, Entscheidungen und Handlungen, aus denen sich der individuelle Charakter des einzelnen Freundes ebenso wie die wechselseitige Wohltätigkeit speist. Gerade hierin gründet auch das unbedingte Vertrauen, das Freunde nach Aristoteles ineinander haben und das die eigene Einschätzung des Freundes über jede Art von übler Nachrede durch andere wie auch über jede Form des innerlich gehegten Misstrauens gegen ihn erhaben sein lässt.
Echte Freunde sind nach Aristoteles also letztlich „eine Seele“. Mit dieser Formel ist zugleich eine gefühlsbetonte Verbundenheit gemeint, die ihren Ausdruck darin findet, dass man in guten wie in schlechten Zeiten Anteil am Leben des Freundes nimmt: Man teilt seine Freude wie auch sein Leid. In diesem emotionalen Surplus liegt der Unterschied zu einer als sozialen Tugend verstandenen Freundlichkeit, die man unterschiedslos gegenüber jedem Mitbürger praktizieren sollte: Bei dieser gesellschaftlichen Umgangsform „fehlen das Gefühl und die Liebe zu denen, mit denen man zusammen ist“ im Vergleich zur personalen und auf konkrete Individuen gerichteten Freundschaft.

 

Offenheit unterscheidet den Freund
         vom Schmeichler. (Cicero)

 

Die Vorstellung von Freundschaft als einer Beziehung aktiv gelebten gegenseitigen Wohlwollens beruht bei Aristoteles auf einer zentralen Voraussetzung, nämlich einer elementaren Gleichheit (oder zumindest einer hinreichenden Ähnlichkeit) der Freunde. Im Gegensatz zu späteren christlichen Denkern hält Aristoteles deshalb eine Freundschaft zwischen Mensch und Gott für undenkbar. Bei strukturell „ungleichen“ Freundschaftsbeziehungen wie zum Beispiel zwischen einem Armen und einem Reichen muss deshalb die fehlende quantitative Symmetrie über eine Art proportionaler Gleichheit hergestellt werden: So wird dann etwa der Begüterte von seinem unbemittelten Freund in dem Maße mehr geliebt, in dem er ihm gegenüber als finanzieller Wohltäter agiert. Hierin liegt nach Aristoteles die Analogie der Freundschaft mit der Gerechtigkeit als einer Regelung der fairen (und das heißt: auf den jeweiligen Verdienst der Beteiligten achtenden) Verteilung von Gütern.
Freundschaft beruht somit wesentlich auf einer schon vorhandenen oder aktiv herzustellenden Gleichheit der beteiligten Personen. Diese Symmetrie bezieht sich auch auf das, was die Freunde jeweils zusammenführt und -hält, also auf das in der Freundschaft erstrebte Objekt beziehungsweise Ziel. Je nach Gestaltung der Beziehungen unterscheidet Aristoteles hierbei drei Formen von Freundschaft:
1. Die Lustfreundschaft, die wesentlich auf der Annehmlichkeit des wechselseitigen Umgangs beruht. Aristoteles hält etwa die von Platon als Inbegriff der Freundschaft gepriesene erotische Liebe für eine solche Beziehung, die man wesentlich zwecks gegenseitiger Lusterzeugung sucht.
2. Die Nutzenfreundschaft, die auf den kooperativ erreichten Vorteil abzielt, etwa bei sogenannten Geschäftsfreunden.
3. Die Charakterfreundschaft, die auf einer Wertschätzung der Persönlichkeit des Freundes beruht, sich also auf die Gesamtheit seines Fühlens und Wollens bezieht, wie sie sich auch in seinem Handeln niederschlägt. …

Autor: Jörn Müller