der blaue reiter Ausgabe 30 |
Editorial
Philosophie & Wirtschaft
Philosophen sind Spezialisten für alle Bereiche des menschlichen In-der-Welt-Seins. Aber was kann eine philosophische Kritik der ökonomischen Vernunft im großen Spiel namens globale Wirtschaft leisten?
Zu glauben, dass Fachökonomen über die ganze Vernunft des kollektiv-arbeitsteiligen Wirtschaftens verfügen, empfindet der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich als Anmaßung. Tatsächlich vergessen Fachleute leicht, dass sie immer auch in das Ganze greifen, dessen Teil sie für ihre Disziplin beanspruchen; die Diskrepanz zwischen dem realen Ganzen und der „Theorie für den Teil“ zeigt sich regelmäßig an den unerwarteten, nicht als Kosten einplanbaren Nebenfolgen. Unter dem Titel Zivilisierte Marktwirtschaft analysiert Ulrich treffend, dass unsere Probleme im unzureichenden Umgang mit den gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen einer hochproduktiven Volkswirtschaft gründen. Gerade weil der Glaube an den Markt die Akteure der Wirtschaft von den Zumutungen der Moral entlaste, müssten sich die Bürger einmischen: Je härter der Wettbewerb wird, „umso wichtiger werden zeitgemäß entwickelte Bürgerrechte auch in Bezug auf unser ‚Wirtschaftsleben‘“, so Ulrich, denn „die Rechte der Bürger sind jene unbedingten Anrechte, welche die Kräfte des Marktes zugleich überschreiten und in ihre Schranken verweisen“.
Otto-Peter Obermeier hingegen ist der Überzeugung, dass alle Versuche, den Kapitalismus mit ethischem Räsonnement oder gesteigerter Vernunft zu zähmen, kläglich scheitern werden. Denn das omnipräsente Phänomen der grenzenlosen Selbstbereicherung, die Freude und die Lust am Wagnis des finanziell rücksichtslosen und gierigen Abenteurertums begleite den Kapitalismus seit seiner Geburt. Triebfeder „kapitalistischer Umtriebe“ seien weniger religiöse Erlösungsfantasien, wie Max Weber lehrt, als vielmehr „Profit- und Machtgier, exzessiver Egoismus, Faszination am Risiko und an der Spekulation, der thrill am hohen Einsatz des ‚Spiels‘“. Übersehen habe Weber vor allem, dass der reale Kapitalismus ein Mischling völlig unterschiedlicher „Geister“ vorstellt: Auf der einen Seite die Räuber- und Abenteurernaturen, die Heuschrecken und legalen Finanzschwindler, auf der anderen der ehrliche Kapitalismus des biederen und fleißigen Bürgertums, genannt Mittelstand. In Zeiten systembedingter Krisen bezahle letzterer zusammen mit dem „dummen Steuervieh“ die Rechnung für die mehr oder weniger „schöpferischen Zerstörungen“. Obermeiers Fazit: „Sozialismus für die Reichen und Kapitalismus für den Rest.“
Auch Alexander Honold sieht im Kapitalismus kein religiös bedingtes Gebilde. Der Umschlag von der Notwendigkeit, Geld zu verdienen, um zu leben, in den Wahn, zu leben, um Geld zu verdienen, liege vielmehr darin begründet, dass der Kapitalismus selbst eine Religion sei. Mit seiner „Verklärung der Warenwelt“ und der „kultischen Funktionsweise der Geldherrschaft“ (Walter Benjamin) diene der Kapitalismus der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen und Unruhen, auf die ehemals die Religionen Antwort gaben. Sein permanenter Kult sei nicht entsühnend wie die vormaligen, sondern verschuldend: „Die Welt ist voller gläubiger Gläubiger und schuldiger Schuldner. Was eine auf Kredit sich gründende Ordnung allein zusammenhält, liegt in der Allmacht und Allgegenwärtigkeit zuverlässig wachsender Schulden“, so Honold im Beitrag Die Schuld der Schulden.
Das Wirksamste zur Milderung des menschlichen Elends ist Arthur Schopenhauer zufolge die Aufhebung des Luxus, denn: „Ein großer Teil der Kräfte des Menschengeschlechts wird der Hervorbringung des allen Notwendigen entzogen, um das ganz Überflüssige und Entbehrliche für wenige herbeizuschaffen.“ Allerdings gibt er auch klug zu bedenken, dass Künste und Wissenschaften selbst Kinder des Luxus sind, die seine Schuld abtragen. Unter dem Titel Philosophie der Wirtschaft, Wirtschaft der Philosophie weist Friedrich Dieckmann darauf hin, dass sich Johann Gottlieb Fichte mit seiner Schrift Der geschlossene Handelsstaat an den Entwurf eines idealen Staats gewagt hatte, während weder von Karl Marx noch von Friedrich Engels konkrete Entwürfe für ein postkapitalistisches Wirtschafts- und Staatswesen bekannt sind. Weil Freiheit nur durch wirtschaftliche Rückbindung erreicht und gesichert werden kann, wie Fichte jeder idealistischen Schwärmerei abhold weiß, ist seine Kritik der kapitalistischen Vernunft mehr als das Eintreiben moralischer Zinsen. Der von Ernst Bloch als Vordenker des Staatssozialismus Erkannte, plädiert für eine dirigierte Wirtschaft. Denn nach Freiheit des Handels von aller Ordnung und Sitte rufen Fichte zufolge nur diejenigen, „die nichts nach einer Regel, sondern alles durch List und Glück erreichen, durch Ränke, Bevorteilung anderer … Diesen kann der Gedanke einer Einrichtung des öffentlichen Verkehrs, nach welcher keine schwindelnde Spekulation, kein zufälliger Gewinn, keine plötzliche Bereicherung mehr stattfindet, nicht anders als widerlich sein.“ Durch die Aufhebung solcher Anarchie des Handels gebe es im utopischen Deutschland „vielleicht keine Pelze und Seidenkleider mehr, doch dafür auch keine Wirtschafts- und Eroberungskriege“.
Aber spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer und dem damit einhergehenden Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus scheint der Kapitalismus die überlegene Wirtschaftsform zu sein. Während die prosperierenden kapitalistischen Staaten soziale Elemente wie Kündigungsschutz und bezahlte Krankheitstage sowie Vorschriften zum Umweltschutz und zur Nachhaltigkeit des Wirtschaftens (grüner Kapitalismus) in ihre Wirtschaftssysteme aufnahmen, war es sozialistischen Staaten wie der DDR nicht gelungen, marktwirtschaftliche Elemente zu integrieren. Dementsprechend ist Kapitalismus für Hans-Olaf Henkel ein Kampfbegriff der Marxisten, der Sozialisten und der Kommunisten: „Ich rede immer von Marktwirtschaft und verbinde mit der Marktwirtschaft die Überzeugung, dass es sich dabei um das sozialste und effizienteste System des Wirtschaftens handelt, das die Menschheit bisher gefunden hat“, so der ehemalige IBM-Manager und Vorsitzende des Bunds der Industrie im Interview. Weil durch die Organisation eines Wettbewerbs alle mehr leisten würden als sonst, sieht er im Wettbewerb das entscheidende Werkzeug zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele. Darüber hinaus ist er der Überzeugung, dass die Marktwirtschaft auch für die Verlierer das beste System sei: „Das System des Wettbewerbs leistet so viel, dass man denjenigen, die nicht so viel leisten können, ein wesentlich besseres Leben ermöglichen kann als in jedem anderen System, das ich kenne.“
Doch wer im weltweiten Wettbewerb um die größten Gewinne die Spieler gegeneinander auszuspielen sucht, hat das Spiel von vornherein verloren. Die unsichtbare Hand des Markts, die regulierende Kraft, welche dem Moralphilosophen Adam Smith zufolge die Egoismen der Einzelnen zugunsten des Wohlstands der Nationen gegeneinander ausgleicht, scheitert am Machtgefälle zwischen den Staaten des Südens und des Westens. Im Essay zeigt Jean Ziegler auf, dass in der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung der Profit des einen notwendigerweise das Elend des anderen begründet, weil es mit der Fairness in der Weltwirtschaft nicht weit her ist. Mit Blick auf die Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen, derzufolge das Doppelte der heutigen Weltbevölkerung ausreichend ernährt werden könnte, kommt er in seinem Beitrag Der Preis des Kapitalismus zu dem Schluss: „Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.“ In den großen Verbrechen des Westens, dem Sklavenhandel und dem Kolonialismus, die das kollektive Gedächtnis der unterdrückten Völker noch immer zutiefst prägen, sieht er, Max Horkheimer zitierend, eine „Verfinsterung der Vernunft“, die bei weitem noch nicht überwunden ist. Denn die gegenwärtige globalisierte Ordnung des westlichen Finanzkapitals sei das bei weitem mörderischste der Unterdrückungssysteme, die im Lauf der vergangenen fünf Jahrhunderte vom Westen errichtet wurden. „Die Sklavenhalter sind nicht tot. Sie haben sich in Börsenspekulanten verwandelt“, zitiert er Oulai Seine, den Justizminister der Elfenbeinküste.
Weil nicht nur der Reichtum, sondern auch die Armut beständig zunehme, sieht Bernhard Taureck den Kapitalismus an einem Scheideweg. Unter dem Titel Legale Ungleichheit? gibt er zu bedenken, dass „eine Gesellschaft, in welcher 20 Prozent der Bevölkerung so viel besitzen wie die restlichen 80 Prozent“, das Verbindende verliert. Einzig ein sogenanntes bedingungsloses Grundeinkommen, das jedem Bürger eine Existenz in Würde auch ohne Erwerbsarbeit garantiere, könne trotz Kapitalismus die Forderung der Menschenrechte nach Gleichheit ermöglichen: „Anstatt auf den systembedingten Output von Ungleichheiten nachträglich und ausgleichend zu reagieren, gibt es soziale Gleichheit als Input ein.“
Dem würden die Vertreter des sogenannten self-ownership (wörtlich: Selbsteigentum) vehement widersprechen. Überzeugt davon, dass die Welt ohne staatliche Bevormundung eine bessere wäre, sehen sie in der Umverteilung von Vermögen zugunsten der Armen eine Form der Sklaverei. Ziel der Anarchokapitalisten (auch Libertäre genannt) ist die Verwirklichung einer auf freier Übereinkunft beruhenden Gesellschaft unabhängiger Individuen. „Ein wichtiger Bestandteil des Libertarismus ist die charity, also die Großzügigkeit, Freiwilligkeit und gegenseitige Hilfe ohne staatliche Verordnung“, schreibt der Unternehmer und Individualanarchist Werner Kieser im Beitrag Ist Einkommensteuer Zwangsarbeit?. Ein Mäzenatentum amerikanischer Prägung scheint jedoch eher eine Austreibung des Teufels mit dem Belzebub. Handelt es sich bei den Spenden für wohltätige Zwecke doch um Bruchteile der Gewinne von Geschäftspraktiken, die genau jenes Elend hervorbringen, das mithilfe der Spenden gelindert werden soll.
Solche kapitalistische Indienstnahme von Nächstenliebe und Mitleid, der Versuch, diese mit dem Streben nach Verwertung und Rendite in eins zu denken, lässt sich mit Theodor W. Adorno auch als Beweis für den totalitären Drang des alles verziffernden kapitalistischen Geld- und Warenverkehrs bis in die intimsten Beziehungen der Menschen interpretieren. Im Gegensatz zu Niklas Luhmann, der Wirtschaft, Wissenschaft und Liebe als voneinander unabhängige Bereiche mit je eigenen Begrifflichkeiten und Systemlogiken klassifiziert, sieht Adorno gerade in der Durchdringung aller sozialen Sphären mit kapitalistischen Denk- und Handlungsweisen das besondere Spezifikum des Kapitalismus. Nicht von ungefähr gilt ökonomischer Erfolg heutzutage als das höchste soziale Kapital, erläutert Jan Urbich unter dem Titel Im Westen nichts Neues. Kapitalismuskritik von Adorno bis Habermas. Und in der Tat: Ein Leben muss sich heutzutage rechnen – und abgerechnet wird in Heller und Pfennig!
Dr. Siegfried Reusch, Chefredakteur