Gert Fabritius: Heraklit, 2010



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der blaue reiter Ausgabe 29

 



Fluss der Dinge oder statisches Sein?

Heraklit und Parmenides

In der Philosophiegeschichte steht der Name Heraklits für eine Philosophie der Bewegung und der unablässigen Veränderung. „Panta rhei“, altgriechisch für „Alles fließt“, heißt die Formel, mit der man die wichtigste Botschaft Heraklits auszudrücken meint. Die philosophische Position des Parmenides lässt sich weniger leicht auf einen einzigen Nenner bringen; womit man ihn aber ohne weiteres verbinden kann, ist gerade die Leugnung von Bewegung und Veränderung. Man erhält somit zwei entgegengesetzte Grundsätze: „Alles bewegt und verändert sich“ auf der einen, „Bewegung und Veränderung sind ausgeschlossen“ auf der anderen Seite.

Beide, Heraklit und Parmenides, dürften um 500 v. Chr. gelebt haben, der eine etwas früher, der andere etwas später. Heraklit wirkte im ionischen Ephesus, an der Westküste der heutigen Türkei, Parmenides gewissermaßen auf der gegenüberliegenden Seite Großgriechenlands, im dorischen Elea, südlich der italienischen Stadt Salerno. Die Konstellation ist daher denkwürdig: zwei griechische Philosophen, die fast derselben Generation angehörten; der eine lebte im ionischen Osten, der andere im dorischen Westen; der eine predigte die beständige Bewegung, der andere verschrieb sich offenbar der Leugnung von Bewegung und Veränderung. Was läge näher, als die beiden zu den großen Antipoden der frühen griechischen Philosophie zu stilisieren?
Einer, der zu dieser Stilisierung wesentlich beigetragen hat, war Platon (428/27 bis 348/47 v. Chr.). In seinem Werk, und nicht etwa bei Heraklit, finden wir den ersten Beleg für die „Alles fließt“-Formel zur Charakterisierung des herakliteischen Denkens. Platon war aus systematischen Gründen an einer klaren Gegenüberstellung der beiden Positionen und daher auch an einer gewissen Zuspitzung bei der Darstellung beider Seiten gelegen. Die antipodische Darstellung von Heraklit und Parmenides als Repräsentanten von Bewegung und Ruhe geht daher wesentlich auf Platon zurück. Für Platon war diese Gegenüberstellung ein anschaulicher Weg, um die Art von Überlegung zu motivieren, die wir unter dem Begriff der Platonischen Ideenlehre zusammenfassen: Wenn sich nämlich, so konnte er argumentieren, im Bereich der sinnlich wahrnehmbaren Dinge alles beständig verändert, wie es Heraklit vorgeblich behauptet, und wenn wir annehmen, dass verlässliche Erkenntnis und untrügliches Wissen Gegenstände mit einer gewissen Beständigkeit voraussetzen (weil sonst die Dinge, die wir im einen Moment noch zu erkennen oder zu wissen meinen, sich im nächsten Moment schon wieder anders verhielten), dann kann sich unsere Erkenntnis scheinbar nicht auf die im Fluss befindlichen Gegenstände der Sinneswahrnehmung beziehen. Wenn Erkenntnis dennoch möglich sein soll (wovon Platon auszugehen scheint), muss sie sich auf etwas anderes, nämlich auf etwas Beständiges beziehen. Die von Platon sogenannten Ideen sind genau dies, nämlich unveränderliche und unvergängliche Gegenstände der Erkenntnis – jedoch nicht der sinnlich vermittelten Erkenntnis, die es mit dem Veränderlichen zu tun hat, sondern der intellektuellen Erkenntnis. Und das Vorbild für solche unveränderlichen Gegenstände findet Platon beim vermeintlichen Antipoden Heraklits, bei Parmenides: Für diesen nämlich ist das Seiende beziehungsweise das, was wirklich ist und zu Recht seiend genannt werden kann, weder entstanden noch vergänglich. Würde es nämlich entstehen, vergehen oder sich verändern, dann wäre es etwas, das wird, sprich im Entstehen oder Vergehen begriffen ist, aber nichts, was wirklich und im vollsten Sinn des Wortes ist. Ebenso sagt Platon von seinen Ideen, dass sie im vollkommenen Sinn des Wortes sind und dass sie deshalb weder der Veränderung noch dem Vergehen unterworfen sein können.

 

Veränderung festigt das Bestehende.

 

Weil Heraklit wiederholt von Flüssen spricht und auch sonst ein Interesse an Phänomenen des Wechsels erkennen lässt und Parmenides deutlich die Unveränderlichkeit des Seienden vertritt, boten sich Heraklit und Parmenides gewissermaßen als Gesichter für die konträren Prinzipien an. Doch würde man von echten Gegenspielern erwarten, dass sie aufeinander Bezug nehmen und dass einige ihrer Thesen irgendwie als Reaktion auf die Herausforderungen des jeweils anderen angesehen werden können. Wie sich dies im Falle von Heraklit und Parmenides verhält, ist aber keineswegs endgültig geklärt. Keiner von beiden erwähnt den anderen namentlich in den erhaltenen Fragmenten, obwohl zumindest Heraklit zahlreiche Vorgänger und Zeitgenossen namentlich nennt und kritisiert. Manche Kommentatoren meinen in den überlieferten Fragmenten verdeckte Anspielungen auf den jeweils anderen zu erkennen; jedoch bleibt umstritten, ob es sich dabei um gewollte Anspielungen oder zufällige Ähnlichkeiten handelt. Eine weitere Schwierigkeit hängt mit der Ermittlung der genauen Lebensdaten beider zusammen: Traditionell gilt Heraklit, dessen Geburt auf etwa 544/41 v. Chr. angesetzt wird, als der etwas ältere von beiden, während man Parmenides’ Geburt entweder auf dieselbe Zeit oder sogar auf 520/15 v. Chr. datiert. Für den Fall, dass Parmenides in der Tat jünger ist als Heraklit, wäre es biografisch plausibel, Parmenides’ Lehren als Reaktion auf Heraklit anzusehen und nicht umgekehrt. Keine der genannten Jahreszahlen ist jedoch unumstößlich; daher konnte im frühen 20. Jahrhundert Karl Reinhardt den Versuch unternehmen, Heraklit gegen die traditionelle Auffassung sogar als den jüngeren von beiden zu erweisen und seine Philosophie als Reaktion auf Parmenides darzustellen. Vielleicht aber entstanden ihre Lehren ganz unabhängig voneinander.
Noch wichtiger sind jedoch die Bedenken, die sich gegen die Stilisierung Heraklits zum Philosophen der Veränderung richten. Wie gesagt, findet sich die berühmte Formel „Alles fließt“ erst bei Platon und keineswegs bei Heraklit. Manchmal nun sind es gerade solche späteren Zuspitzungen, die die eigentliche Absicht eines Philosophen genau auf den Punkt bringen. Im Falle Heraklits jedoch wird von verschiedenen Kommentatoren geltend gemacht, dass der Slogan „Alles fließt“ gar nicht Heraklits eigentliche Intention treffe oder mit dieser sogar unvereinbar sei, wenn er denn so gemeint ist, wie Platon es erläutert. ...

Autor: Christof Rapp