der blaue reiter, Ausgabe 27
ISBN: 978-3-933722-26-3
€ 15,90 (D, unverb. Preisempf.)

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Zu „Glaubenssache“ (Franz-Peter Burkard)

13. 8. 2011

Generell möchte ich vorbemerken, dass mir sowohl Ihr Artikel wie die ganze Form der schriftlichen Beiträge im „Blauen Reiter“ bestens zusagen, weil komplexe Themen trotzdem auf den Punkt gebracht sind. (Ebenso im Heft „Philosophie und Wirtschaft“.)

Das Thema Religionsphilosophie beschreiben sie im ersten Teil sehr treffend; erlauben Sie, dass ich nur auf den letzten Teil eingehe, „Religion als kulturelles System“. Darin scheint mir die ganze Crux der heutigen Philosophie und teilweise auch der Religion zu liegen – unabhängig jetzt von einer speziellen Theorie wie „Religionsphilosophie“ als Teilbereich einer kulturellen Theorie.
Sie schlagen sehr versöhnliche Töne an: Generell braucht es keinen Streit mehr zu geben zwischen verschiedenen Erklärungsebenen, denn jedes symbolische System ist relativ zur Generierung der dort gegebenen religiösen, künstlerischen oder naturwissenschaftlichen Bedeutungen. Warum sollte Religion neben einer naturwissenschaftlichen Welterklärung nicht bestehen können, oder neben Kunst…? Sie sagen auch klar, dass „für ein naiv-natürliches Weltverständnis“ das nicht leicht zu verdauen ist, wenn die jeweiligen Deutungssysteme die Gegenstände erst erzeugen (mit Hinweis auch auf KANT, dass die Dinge uns ja nur erscheinen!) und man sich an diese relative Sicht so quasi gewöhnen müsse. Die kulturellen Teilsysteme führen zwar Kämpfe um die Deutungshoheit, aber dahinter stehen eben Machtinteressen. Das Sinnsystem der Religion verträgt sich in friedlicher Nachbarschaft mit der Naturwissenschaft, mit Kunst etc. Man wohnt sozusagen nebeneinander, gibt sich Komplimente, spielt dem anderen einen Posten zu etc.

Aber ist das noch erkenntniskritisch zu rechtfertigen? Hängt wirklich alles bloß von den relativen Deutungsmustern und symbolischen Formen des Weltverstehens ab? 
Gerade, so scheint mir, weil Sie, Herr Prof. Burkhard, einen mainstream heutiger Anschauung widerspiegeln und auf den Begriff bringen, provoziert mich das derartig – von der Sache her! – dass ich Sie fragen möchte: ob das nicht die Abdankung jeder Erkenntnistheorie und jeder Letzterklärung von Weltverstehen ist? Gerade das verwirrt einerseits die Menschen psychologisch, doch auch philosophisch ist das eine, so scheint mir, brennende Frage: 
a) Inwiefern es noch eine Erkenntnistheorie geben kann, worin Denken und Sein, Anschauung und Begriff eins sind – und nicht alles in einen Skeptizismus ausartet, dass wir nur hoffen können, dass die Dinge so erscheinen, wie sie sind und so sind, wie sie erscheinen?
b) Besonders das kulturelle Sinnsystem der Religion (und Religionen) scheint mir damit von jedem Wahrheitsanspruch losgebunden zu sein, alles ist nur mehr historisch bedingt, je nachdem psychologisch nützlich, kulturell schön…
c) Praktische Fragen des Lebens wie die Betrachtung z. B. des Leibes, der Geburt, des Todes, die Umweltsituation, der Werte wie Gerechtigkeit, Frieden, Liebe etc. – sind diese auch abhängig vom bloßen Deutungssystem, das wir haben, oder gibt es einen für alle zu allen Zeiten noch gültigen Wertekanon?

Ist Ihr Standpunkt, den Sie hier vertreten – und gar nicht Ihr persönlicher sein muss – ein empirischer oder ein metaphysischer Standpunkt? Empirisch verstehe ich hier so, dass man diese oder jene historischen Formen, kulturelle Sinngebungsmuster aufzufinden und zu systematisieren etc. vermag, (wie ein Naturwissenschafter die unendliche Teilbarkeit der Natur katalogisiert, erforscht), oder ist ihr Standpunkt von der Relativität der verschiedenen kulturellen Deutungsmuster der Welt und der Wirklichkeit metaphysisch, dass es zwar vielfältige symbolischen Formen des Sinn-Wissens und Welt-Wissens gibt, die wir teilweise selbst erzeugen, teilweise vorfinden, die aber in ihrem Sein nicht mehr erkannt werden können und dann einfach dogmatisch behauptet werden: so ist es eben – ohne transzendental erkennbare Begründung und ohne Einsicht in die Wissbarkeit dieses Seins? Eine transzendentale Fragestellung, wie es zur Bedingungen der Möglichkeit solchen kulturellen Wissens kommen könne, kantisch ausgedrückt, des Wissens der „Gegenstände der Erfahrung“, ist in einem kulturellen Wissen nicht wieder stellbar und begreifbar, weil sich immer schon die symbolischen Formen auf verschiedenen Gegenstände beziehen (auf Natur oder Gott, etc.) – und es nicht eine höhere erkenntniskritische Instanz (z. B. der Vernunft) gibt, warum und wie diese synthetischen Urteile möglich sind. Wer wollte heute noch Richter spielen, welcher Begriff besser sei, z. B. Gott als Schöpfer der Welt oder die Welt aus einem unerklärlichen, zufälligen Anfang heraus? Anything goes. Die Schöpfungsreligion wie die Physik nimmt metaphysische Anleihen, vertragen wir uns! 

Aber wird nicht gerade ein relativer Standpunkt, das je nach symbolischem Deutungsmuster der Wirklichkeit die Interpretation derselben ausfällt, notwendig eine Frage der Hegemonie und des Machtkampfes über die Deutungshoheit – die sie sachlich am Schluss ansprechen – weil es kein Kriterium mehr gibt einer letzten erkenntniskritischen Hoheit? Wenn die Basis einer Letztbegründung von Wissen in und aus Prinzipien der Vernunft wegfällt, dann Gnade uns Gott, dass uns die Werbung, die Meinungsforscher, die manipulierten Mehrheiten, die Dogmatisten und Skeptiker nicht erschlagen.
„Alles ist Deutung“, Thales, keine Erkenntnis mehr?

Nochmals danke für den Artikel. Er scheint mir eine Art Waffenstillstand und das friedliche Nebeneinander der verschiedenen Wissenschaften wiederzugeben; vielleicht können wir nur so miteinander leben. Ich hoffe nur, dass mir und der Menschheit in Krisensituationen die richtige Generierung von symbolischen Formen (noch) einfällt. 

Franz Strasser, Altheim, Oberösterreich


Zu „Kein Gott, keine Welt, kein Ich“ (Frank Augustin)
24. 2. 2010

Ich bin ein wenig in Verzug mit der Lektüre des Heftes 27, und nun bleibe ich auch noch am Artikel „Kein Gott, keine Welt, kein Ich“ von Frank Augustin hängen. Blamiere ich mich, wenn ich ein wenig anzüglich sage: Die Worte les’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube? Von Philosophen erwartet man gemeinhin keine Texte mit praktischen Wert für ein gutes Leben (im Sinne der antiken Diätetik). Es ist daher wohl legitim, dass ein Philosoph seiner Überzeugung Ausdruck gibt, auch wenn das Gesagte den Kontakt zur Alltagswelt und zum allgemeinen Verständnis weitgehend verloren hat und vermutlich nur noch Fachkollegen verständlich ist. Ich neige freilich zu der Ansicht, die Goethe dem Mephisto in den Mund legt (an Faust): «Ich sag’ es dir: ein Kerl, der spekuliert, / Ist wie ein Tier, auf dürrer Heide / von einem bösen Geist im Kreis herum geführt, / Und rings umher liegt schöne grüne Weide.» Und zum Schüler sagt Mephisto kurz darauf boshaft: «Nachher, vor allen anderen Sachen / Müsst ihr euch an die Metaphysik machen! / Da seht dass ihr tiefsinnig fasst; / Was in des Menschen Hirn nicht passt;» Ich bin selbst kein Philosoph, sondern ein philosophisch interessierter Mensch, und werde mich nicht Herrn Augustin auf dessen ureigensten Tummelplatz entgegenstellen. Aber ein paar Bemerkungen müssen schon erlaubt sein.

Zunächst scheint mir hier das Zitat von Wittgenstein sehr passend: «Die Methode des Philosophierens ist es, sich wahnsinnig zu machen, und den Wahnsinn wieder zu heilen.» Ich habe jedoch den Eindruck, dass etliche der modernen Philosophen den Weg zur Heilung nicht gefunden haben. Vielmehr gilt für sie der Satz Feyerabends: «Anything goes.» Nun ja: Im Wellenschlag der Philosophie ist einmal die Theorie, einmal der Philosoph oben. Amüsiert habe ich mich inzwischen bei meiner weiteren Lektüre des B.R. über den Beitrag von Stefan Reusch: „Is’ mir zu hoch!“.

Es geht ja um Metaphysik. Heft 27 hat mir den einigermaßen als verstanden geglaubten Begriff wieder zum schillern gebracht. Metaphysik hat jedenfalls mit Transzendenz zu tun, so dass ich alltagsverständlich davon ausgehe, dass alles, was über die sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten hinaus geht, metaphysisch ist. Am liebsten greife ich das von Kant dazu unvergleichlich gezeichnete Bild auf, in dem er die menschliche Erkenntnis mit einer Insel im Ozean vergleicht: «Es ist das Land der Wahrheit, umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank und manches wegschmelzende Eis neue Länder lügt und indem es den auf Entdeckungen herum schwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann. Ehe wir uns aber auf dieses Meer wagen, um es nach allen Breiten zu durchsuchen und gewiss zu werden, ob etwas in ihnen zu hoffen sei, so wird es nützlich sein, zuvor noch einen Blick auf die Karte des Landes zu werfen, das wir eben verlassen wollen, und zu fragen, ob wir mit dem, was es in sich enthält, nicht allenfalls zufrieden sein könnten oder auch aus Not zufrieden sein müssten, wenn es sonst überall keinen Boden gibt, auf dem wir uns anbauen könnten.» (Könnte man natürlich auch problematisieren.)

Augustin beginnt recht bodenständig und bezeichnet den modernen, durch die Wirtschaft als Konsument instrumentalisierten Menschen und dessen Stellung in der Welt als modernen Sisyphos (wenn auch die Generation, für die der Mythos von Sisyphos noch zum Bildungsgut gehört, langsam dahinschwindet). Das alles ist überzeugend. Wäre es aber nicht angezeigt gewesen, auf die Verwendung des Mythos von Sisyphos durch Camus und seinen Versuch über das Absurde hinzuweisen? Seine generelle Bezeichnung der Menschen als Konsumenten-Ichs ist freilich unschön. Eine Menge Leute ist dieser Instrumentalisierung nicht erlegen oder hat sich davon frei gemacht. Diese Menschen sind bloß nicht in den Medien präsent – aus nahe liegenden Gründen. Es bleibt eine betrübliche Einsicht: Es gibt wohl immer die „Vielen“ in einer Gesellschaft, die es vorziehen, sich den Verlockungen des „Jahrmarktes der Eitelkeiten“ (Thackerey) anheim zu geben – und die Konsumindustrie macht sich das zunutze. Masse ist Macht; die Banalität regiert. Wenn man diese „Vielen“ nicht wieder in den weitgehend entrechtenden „Dritten Stand“ hinunter drücken will, sind weitere Bemühungen in Sachen Aufklärung die Alternative. Sloterdijk hat ja aufgezeigt, wie diese Entrechtung angegangen werden könnte und angeregt, den solidarischen Sozialstaat zu liquidieren und die Arbeitslosen, die Armen und Ärmsten der Barmherzigkeit der Reichen zu überantworten. Guido Westerwelle wird dies zu goutieren wissen. Im Übrigen ist Aufklärung aber Augustins Sache offensichtlich nicht, denn sonst hätte er das Thema Bildung und Erziehung nicht ausgeklammert und die Möglichkeiten zumindest angerissen, wie dem geklagten ökonomischen Kalkül entgegen zu wirken sei.

Dann geht Augustin zur Sache. Er nennt die Begriffe «Ich», «Gott», «Welt», «Seele», «Bewusstsein», «Geist», «Natur», «Wirklichkeit», «Materie», «Universum», «Kosmos», «Sein», «Zeit», «Denken» metaphysisch. Ein heterogenes Konglomerat von Begriffen. Sind sie tatsächlich uneingeschränkt metaphysisch? Bei «Gott» will ich nicht widersprechen. Beim «Ich» stelle ich fest, dass es mir wie Augustinus mit der Zeit geht: «Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären, weiß ich’s nicht.» Aber solange es mir nicht ergeht wie Gregor Samsa und ich mich bei der Morgentoilette im Spiegelbild als den, der ich gestern war, identifizieren kann, sehe ich keinen Anlass dafür, die Frage nach dem «Ich» in das metaphysische Niemandsland zu verbannen. «Wir» haben die Namen/Begriffe/Metaphern vergeben, um uns gegenseitig verständlich zu machen, um uns das Unvertraute mitteilbar zu machen und wohl auch, das Unheimliche zu bannen, die Welt zu begreifen. Das geschieht gewissermaßen noch jeden Tag; man denke etwa an die Kranken, die sehr erleichtert sind, wenn das, was sie plagt einen Namen bekommt (da gibt es ja die schöne Anekdote über den Patienten, bei dem die Ärzteschaft einfach nicht herausfindet, was ihm denn nun fehle, bis zuletzt der Chefarzt, mehr an seine Gefolgschaft gerichtet, murmelt: moribundus; das hört der Patient, der kein Latein versteht, und meldet seinen Angehörigen glücklich, dass seine Krankheit nun einen Namen habe – und er wurde gesund). Und Shakespeare lässt Prospero sagen (zu Caliban): «Da du nicht im Stande warst, du Wilder, deine eigene Meinung zu entdecken, sondern gleich einem unvernünftigen Vieh nur unförmliche Töne von dir gabst, begabte ich deine Gedanken mit Worten, damit du sie anderen verständlich machen könntest.» Ich meine: Wenn einem der so genannten metaphysischen Begriffe etwas zugeordnet werden kann, das sich in der alltäglichen Erfahrung zur Verständigung mit anderen Menschen eignet, und man hat keine überzeugenden Hinweise darauf, dass man sich tatsächlich nicht verständlich macht, dann erfüllt dieser Begriff eine soziale/kommunikative Aufgabe und trägt damit zu unserer Lebenswirklichkeit bei. Der Stellenwert des «Ich» im sozialen Erleben und im Fortschreiten der gesellschaftlichen Entwicklung mag sich immerhin verändern. Natürlich sind wir alle in unserem Welt- bzw. Realitätsverständnis gefangen, was Nietzsche so ausdrückt: «Was sind schon unsere Erlebnisse? Viel mehr Das, was wir hineinlegen, als Das, was darin liegt.» Mephistos hämische Worte an Faust in der Hexenküche: «Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Wörter hört, / Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.» lassen sogar Raum für die Ansicht, dass mit Begriffen «Irrtum statt Wahrheit» verbreitet werden kann und wird. Aber was ist schon Wahrheit? (Hier könnte man Nietzsches Aufsatz «Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn» heranziehen – aber das führte zu weit.)

Augustin sagt, unser Glaube an eine «Welt» und ein «Ich» seien Fiktion. Wer also in der uns vertrauten Welt lebe, müsse den Beweis antreten, dass diese Welt existiert (was im übrigen die Sache auf den Kopf stellt: seit wann müssen die anderen Verkehrsteilnehmer beweisen, dass ein Geisterfahrer in die falsche Richtung fährt). Und da er auch sagt, wer glaubt, etwas nicht materiellem wie dem Denken eine materielle Basis geben zu können (wie das Gehirn), sei im Wortsinne verrückt, dann sage ich: lieber mit Lukrez verrückt als mit Augustin „normal“. Abgesehen davon ist es auch unfein, generell alle anders als er Denkenden als Phantasten zu bezeichnen.

Aus der nach ihm nur halluzinierten Seinsordnung, die von den so genannten metaphysischen Begriffen gebildet werde, heiße es herauszutreten, verlangt Augustin. Abgesehen von dem Umstand, dass das Heraustreten ja bedeutet, in einen anderen wie auch immer gearteten sprachlichen (begrifflichen) Raum einzutreten (hier lässt uns Augustin allein), bedeutet es eben keine Freiheit, wenn man einen (begrifflichen) Ordnungsrahmen verlässt, sondern vielmehr Sprachlosigkeit. Natürlich ist es eine Herausforderung für jeden (oder sollte es jedenfalls sein), seine Seinsordnung ständig zu überprüfen, schon allein, da sich zeigt, dass gängige Begriffe einer Inflationierung unterliegen und bis zur Bedeutungslosigkeit abgeschliffen werden. Letztlich entwickeln sie unter Umständen eine von der Funktion eines sprachlichen Verständigungsmittels losgelöste Quasi-Realität, und das ist dann wohl die metaphysische Dimension, der Bereich, von dem Kant sagt, die Metaphysik sei ein Kampfplatz endloser Streitigkeiten. Meint Augustin das, wenn er diese Begriffe metaphysisch nennt? Indem Augustin uns einzureden versucht, ein «Ich» gäbe es nicht, spricht er als ein Ich, das auch offensichtlich in einem geistigen Raum zuhause ist. Und schreibt Augustin seinen Aufsatz nicht auch sich selbst zu (= Ich = Subjekt als Träger des Selbstverständnisses)? Seltsamer Weise hat Augustin die überaus bedeutsamen Faktoren Macht und Gewalt außer Acht gelassen, die einen ganz schnell auf den Boden der sozialen Wirklichkeit zurück holen können.

Augustin vergiftet den Brunnen, aus dem der „normale“ Mensch das Wasser zum Verständnis seiner Lebenswelt und zur Bewältigung der alltäglichen Anforderungen schöpft. Mit Verständnis meine ich ganz allgemein das Weltbild der Menschen, die ihre Kräfte für die Bewältigung des täglichen Lebens brauchen und deren Verhaltensmöglichkeiten und -kompetenz zu einem erheblichen Teil auf den ihnen verfügbaren Begriffen basieren, die wiederum ihre Bedeutung vor dem Hintergrund der diesen Menschen zugänglichen Kultur erlangen. Diese Begriffswelt ist für ihn „wirklich“ und diese „Wirklichkeit“ ist keine Illusion; sie spiegelt vielmehr alle sinnlichen und geistigen Erfahrungen wieder, die ein Mensch macht, einschließlich der potenziellen Inhalte etwa der Popper’schen 3. Welt, auf die er zuzugreifen imstande ist. Welchen Namen diese Erfahrungen haben ist nebensächlich, solange ein kommunikativer Konsens besteht. Wirklich ist, was wirkt! Wer versteht sich schon als einen argumentativen Bestandteil einer intersubjektiven Beziehung und erkennt das, was er will, nur im Begehren des Anderen? Oder nehmen Sie den hochproblematisierten Begriff des «Selbst». Dem Alltagsverstand erschließt er sich aus der Tatsache, dass die Haut unser einziges selbstreflektierendes Sinnesorgan ist und wir alle im frühkindlichen Alter einen schmerzlichen Ablöseprozess durchmachen, der zur Erkenntnis von einem Selbst und einem Anderen (bzw. einem Objekt) führt, kurz gesagt: zur (im Laufe des Lebens immer mehr angereicherten) Erkenntnis, dass jeder von uns in seiner eigenen Haut steckt. Darüber hinaus gibt es natürlich die theoretischen Zänkereien auf der philosophischen Spielwiese; sie werden schon ihre akademische Berechtigung haben. Philosophie beginnt mit der sinnlichen Erfahrung, und Erfahrung ist letztlich der Probierstein philosophischer Theorien. Die Frage ist doch, ob der interessierte Mensch aus den in dünner Höhenluft ausgetüftelten Theorien der Philosophen (und Psychologen und Psychiater und Soziologen und Neurobiologen) für das gelebte Leben Erkenntnisse (Einsichten, Wissen, Weisheit) ziehen kann? Ansonsten kann man die Philosophie der modernen Kunst zurechnen: L’Art pour l’Art.

Wenn also Frank Augustin das „Ich“ und das dazu gehörige „Bewusstsein“ für Illusionen, die „Natur“, den „bewussten Menschen“, das „denkendes Ich“ zu puren Fantasien und die „Existenz“ der „Welt“ zur Fiktion und einer materiellen Basis für verlustig erklärt (ich gehe mal davon aus, dass Augustin nicht nur die simple Tatsache vermitteln wollte, ein Begriff an sich ist kein Ding), dann macht er sich selbst zu einem Gespenst im einem metaphysischen Raum. Dieses Schattenreich ist das Paradies der Phantasten (Kant).

Da bekommt doch ein altes Lied gleich eine neue Bedeutung (textlich verknappt und angepasst):

Ach, du lieber Augustin,
Alles ist hin.
Geld ist weg, Geist ist weg,
Welt ist weg, Ich ist weg,
Sein ist weg, Sinn ist weg,
Ach, du lieber Augustin,
Alles ist hin.

Aber vielleicht habe ich ja bloß nichts verstanden. Das spricht dann freilich auch nicht für den Artikel, der die m. E. nicht zu vernachlässigende Anforderung an schreibende Philosophen verletzt, nämlich klar und verständlich zu sein und zu erkennen, dass sie, sobald sie sich öffentlich äußern, eine Verantwortung gegenüber den Menschen haben; oder wie Wittgenstein sagte: «Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung der Gedanken.» (Wenn er es allerdings wohl nicht unbedingt in diesem Zusammenhang hatte sagen wollen.) Das gilt nicht zuletzt für den Umstand, dass Augustin im letzten Absatz von demjenigen, der ihm folgend alle Begriffe und das, für das sie stehen, für nichtexistent erklärt hat, sagt, die Dinge in seiner Umgebung seien doch noch da – ja wo sollen sie denn sein sonst sein? – aber sie würden ihm neu erscheinen: als was denn, wenn der arme Sisyphos sprachlos geworden ist und, da er denn den Glauben an die Götter einfach abgelegt hat und den Felsen Felsen sein lässt – vom Felsen der Realität schlichtweg überrollt wird? – das ist wirklich ärgerlich. Amüsant dagegen fände ich es, wenn sich Augustin von Sokrates fragen lassen müsste: «Ti Estin?» – Was meinst du, wenn du sagst…?

NB: Ich kritisiere nicht den Umstand, dass der Artikel im Blauen Reiter abgedruckt wurde – im Gegenteil, ich habe ganz schön viele geistige Enterhaken auswerfen müssen, um auch nur einigermaßen zu begreifen – oder auch nicht; man kann an ihm die Krallen schärfen.

„Ich“ grüße Sie aus Weinstadt (einer Stadt, die in der Tat etwas virtuell ist, da sie künstlich aus so wundervollen Orten wie Strümpfelbach, Beutelsbach und weiteren zusammengeschustert wurde)

Georg Girresch