Hans Beck: ohne Titel, 2007



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der blaue reiter Ausgabe 24

 



Lob der Entfremdung


Ich will doch nur mein Herz öffnen und mich zeigen, wie ich bin – was ist denn so schlimm daran? So ließe sich das Denken des Klassikers der Offenheit und Aufrichtigkeit, Jean-Jacques Rousseau, zusammenfassen. Rousseau vergisst jedoch völlig, so Helmuth Plessner, dass dem Menschen neben solch einer „Zeige- und Offenbarungstendenz“ auch die entgegengesetzten Tendenzen der Scham und der Verhüllung eigen sind. Gegen Rousseaus „Ethos der absoluten Rückhaltlosigkeit“ empfiehlt Plessner die „Kunst des Nichtzunahetretens“, die darauf aus ist, den anderen zu schonen, ihn mit der eigenen Befindlichkeit nicht zu behelligen.

Ein Bahnsteig auf dem Hauptbahnhof einer deutschen Großstadt: Der Zug, auf den alle ungeduldig Herumstehenden warten, hätte schon vor zehn Minuten eintreffen sollen. Endlich ein Räuspern in der Lautsprecheranlage, eine Stimme, die wie all die anderen Ansagestimmen klingt, meldet: „Der Intercity 2134, nein 2132, verzögert sich in der Ankunft um 15 Minuten und wird heute auf Gleis 5 … ich korrigiere: Gleis 6 einfahren … nein, doch: Gleis 5 … Verflixt, das ist einfach nicht mein Tag heute!“ Die Wartenden blicken erstaunt auf, der Unmut über die Verspätung ist verschwunden. Wildfremde Menschen auf dem Bahnsteig lächeln sich zu, beeindruckt durch die gemeinsame Erfahrung: Hinter der mechanischen, ausdruckslosen Stimme war ein Mensch aufgetaucht, jemand, der wie wir alle mit seinen täglich wechselnden Befindlichkeiten zu kämpfen hatte, dem auch einmal etwas misslang, der sogar dazu stehen konnte, der sich nicht mehr hinter seiner automatenhaften Ansager-Rolle versteckte. Kurz, endlich einmal war ein echter Mensch sichtbar an einer Stelle, wo man ihn gar nicht mehr erwartet hätte.
Man könnte versucht sein, an dieses harmlose Beispiel aus dem Alltag ausgedehnte Reflexionen über die wohltuende Wirkung der Authentizität anzuschließen, aber die konsequente Besinnung führt in eine andere Richtung: Das Vergnügen über diese überraschende Begegnung mit der Befindlichkeit eines Menschen hinter der Stimme – war es nicht, genau besehen, nur deshalb ein Vergnügen, weil es sich um eine große Ausnahme handelte? Noch deutlicher gefragt: Ist es wirklich so angenehm, wenn jemand aus der Rolle fällt und „echt“ wird? Wollen wir tatsächlich im Ernst mit den Befindlichkeiten uns unbekannter Ansagepersonen behelligt werden? Haben wir nicht vielmehr ein genuines Interesse daran, von den „inneren Regungen“ der meisten Mitmenschen verschont zu bleiben?
Solche Überlegungen klingen hart und unmenschlich, denn letztlich begreifen sich die meisten von uns heute wohl als Echtheitssucher. Dass die Existenz in einer sozialen Rolle den Menschen unecht macht und sich selbst entfremdet, darin stimmen alle aufgeklärten Zeitgenossen überein. Wir folgen darin, in der Regel ohne es zu wissen, dem Klassiker der Offenheit und Aufrichtigkeit im sozialen Umgang, Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). In seinen Schriften finden sich all jene Bedenken gegen das Spielen einer Rolle, das Tragen einer Maske, die auch heute noch im Umlauf sind. Man muss, wenn man ein „Lob der Entfremdung“ formulieren will, zunächst diese Skepsis gegenüber der Entfremdung zu Wort kommen lassen, um das Verhältnis beider Ansätze besser zu verstehen.

 

Wie viel Echtheit erträgt der Mensch?

 

Hinter Rousseaus Plädoyer für Authentizität steckt zunächst ein ausgeprägtes Interesse an Sicherheit, genauer an einer zuverlässigen Verknüpfung von Innerem und Äußerem beim Mitmenschen: „Wie angenehm lebte es sich unter uns, wenn die äußere Haltung stets das Abbild der Herzensneigung wäre…“ (KW 11). Rousseau zufolge vermochten die Menschen früherer Zeiten noch ohne Mühe zu durchschauen, was sie voneinander zu halten haben. Der „gleichaussehende und scheinheilige Schleier der Höflichkeit“ der neueren Zeit dagegen ist in seinen Augen Verfälschung des Charakters, eine Technik der Verstellung, die dazu führe, dass man nie wissen könne, mit wem man es zu tun habe. Höflichkeit als Chance der Tarnung durch äußerliche Nivellierung des Unterschieds von Gut und Böse – vor diesem Hintergrund wünscht sich Rousseau absolute Transparenz, fordert er, das Laster möge sich offen zeigen: „Vertrauen und Achtung würden alsdann unter allen Rechtschaffenen wieder herrschen, man würde sich vor den Lasterhaften in acht nehmen können, und die ganze Gesellschaft würde sicherer dabei sein. Ich will lieber, daß mein Feind mich offen angreift, als daß er mich verräterisch von hinten erschlägt.“ (Sch 1, 86)
Rousseaus Wunsch nach Transparenz anstelle von Höflichkeit soll also ein Urteil darüber erlauben, was hinter einem Verhalten an tatsächlicher Gesinnung steckt. Es ist hier schwierig, Rousseaus in vielen „Bekenntnissen“ bezeugte Persönlichkeit von seiner Philosophie zu trennen. Nach eigenem Verständnis ist er ein gutmütiger, argloser, aufrichtiger Mensch, der keinerlei Fähigkeit oder Bereitschaft besitzt, an seinem ungehemmten Ausdrucksverhalten das Mindeste zu ändern. Ihm fehlt nach eigener Aussage jede Kompetenz, etwas zu verhehlen oder etwas vorzuführen; daher fühlt er sich denjenigen ausgeliefert, „die das, was sie fühlen und was sie sind, zu verbergen wissen und sich bloß so zeigen, wie es ihnen beliebt, daß man sie sehe“. Wenn er sich ihnen mit unverstellter Offenheit näherte, so begegneten sie ihm im Medium des Scheins, seine arglose Unvorsichtigkeit stieß auf die Hinterlist der Anderen (Sch 2, 428f.). Man muss diese Sorge Rousseaus im Umfeld einer Zeit sehen, in der die kultiviertesten Kreise die Kunst der Verstellung und die Technik der Intrige zu höchster Form entwickelt hatten. Das kommt wohl am besten zum Ausdruck in Choderlos de Laclos’ zuerst 1782 anonym erschienenen Briefroman Les liaisons dangereuses (Die gefährlichen Liebschaften). Während also auf der einen Seite die Raffiniertheit des Verbergens und Vortäuschens auf die Spitze getrieben wird, entscheidet sich Rousseau für das andere Extrem. Er will gar nichts an sich ändern, das heißt in Form bringen, zivilisieren. Alles soll echt und „natürlich“ bleiben. Jeder gesellschaftliche Einfluss auf das Ausdrucksverhalten des Menschen ist für ihn ein Verhängnis.

 

Masken und Rollen schützen mich selbst und den anderen.

 

Damit ist ein zweites Problem angesprochen, auf das Rousseau mit seiner Kritik aufmerksam machen will. Wenn im Zeitalter der Höflichkeit das Scheinenwollen zum beherrschenden Impuls geworden ist, dann lässt diese Neigung den „wahren Herzensgefühlen“ wenig Raum, sich auszubreiten (Sch 2, 435). Während Rousseau bisher die kultivierte Form als Täuschungs-möglichkeit thematisiert hat, entdeckt er nun auch das Leiden desjenigen, der sich den gesellschaftlichen Regeln unterwirft. Der Preis, den man für die Entfremdung zu zahlen hat, ist das zweite Motiv seiner Kritik. Wenn man sich der Kunst zu gefallen widmet, wenn man als wohlerzogen imponieren möchte, dann, so Rousseaus Sorge, wird das Ergebnis nicht nur Uniformität aller sein, sondern auch der Einzelne muss zugunsten der Konventionen auf seine eigenen Impulse verzichten lernen: „Man wagt nicht mehr als der zu erscheinen, der man ist.“ (KW 11) Die Menschen werden zu außengesteuerten Wesen, sie fragen stets die anderen, was sie sind, und verlieren den Mut, mit sich selbst darüber zu Rate zu gehen. (DU 269)
An zwei Orten beobachtet Rousseau einen besonders fortgeschrittenen Stand dieser Entwicklung: in der Großstadt und am Hofe. Hier tritt der entfremdete Mensch in seiner reinsten Form auf, die sich weit von der unter Landbewohnern noch verbreiteten „natürlichen“ Einfalt und Unschuld entfernt hat, aber dieser künstliche Mensch verkörpert die Zukunft aller. Rousseau allein erkennt seine Deformation: „Der erste Nachteil in großen Städten ist, daß die Menschen dort zu anderen Geschöpfen werden, als sie eigentlich sind. Die Gesellschaft gibt ihnen gleichsam ein von dem ihrigen verschiednes Wesen.“ (DnH 280f.) „Der Mann von Welt verbirgt sich ganz hinter seiner Maske. Da er fast niemals zu sich kommt, ist er sich immer fremd, und mißmutig, wenn er dazu gezwungen ist. Was er ist, ist nichts; was er scheint, ist ihm alles.“ (E 232)

 

„Man wagt nicht mehr als der zu erscheinen, der man ist.“ (Jean-Jacques Rousseau)

 

Damit ist das Repertoire der Entfremdungskritik komplett. Rousseau wie seine modernen Nachfolger gehen von einem vor aller Sozialisierung intakten und autarken Individuum aus, das durch den Zwang, eine gesellschaftliche Rolle spielen zu müssen, von sich selbst entfremdet, das heißt deformiert wird. Gesellschaftliche Formen werden nur als Weisen der Abhängigkeit aufgefasst; Rousseau beschreibt sie als Ketten, Fesseln, Zwang. Sich selbst stellt er dar als einsamen Verfechter des Gegenprogramms: Ihm geht es darum, alle Tage und jeden Tag er selbst zu sein, sich selbst zu gehören (Sch 2, 469; B 530) und nur die Ketten zu tragen, die er selbst sich geschmiedet hat (B 681). Das klingt wie der geheime Wunschtraum aller modernen Menschen.
So spukt der Geist Rousseaus auch in der deutschen Soziologie der letzten Jahrzehnte herum, etwa in Ralf Dahrendorfs einflussreicher Frühschrift Homo sociologicus aus dem Jahr 1958. „Homo sociologicus“ ist der Mensch in der entfremdeten Gestalt eines Trägers von Positionen und Spielers von Rollen. Dahrendorfs Beispielfigur, Dr. Hans Schmidt, begegnet dem Leser als Studienrat, als Protestant, als lokaler Parteivorsitzender, als Familienvater und Ehemann, als Autofahrer, als Skatspieler …

Autor: Michael Großheim