Siegfried Reusch
Chefredakteur
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der blaue reiter Ausgabe 14

 



Glück


Seit der Antike sind die Fragen nach dem Glück und dem gelingenden Leben Thema der Philosophie. Schon Aristoteles schreibt: „Das Glück wollen alle, die Gebildeten und die Vielen.“ Glück ist jedoch nicht etwas, das wir auf direktem Weg erreichen können, gibt Rüdiger Safranski unter dem Titel Jenseits des Glücks – Lebenskunst im Anschluss an Nietzsche zu bedenken: „Schmerz und das Unglück werden nie fehlen – sie sollen auch nicht fehlen.“ Es kommt bei der Lebenskunst gerade nicht darauf an, geschickt durchs Leben zu manövrieren, sondern darauf, Schmerzen zu überwinden und das eigene Leben selbst zu gestalten. Im Gegensatz zu Schopenhauer, der den Menschen rät, auf Vermeidung von Schmerzen statt auf Gewinnung von Genüssen aus zu sein, orientiert sich Nietzsches Lebenskunst „an Intensität, nicht an Schmerzvermeidung. Lebenskunst bedeutet nicht, Leid und Unglück partout vermeiden zu wollen, sondern auf intensive Erfahrungen, auf Intensität, erpicht zu sein.“
Wenn der Pfad zum Glück durch die Wollust der eigenen Hölle führt, ist der „Wille zum Leiden“ die Bedingung, nicht in den niederen Gefilden der Sinneslust stecken zu bleiben. Wer also wahrhaftes Glück durch ein Maximum an Leiden und Unglück sucht, dem gibt Stefan Gammel unter dem Titel Unglück für Anfänger, Fortgeschrittene und Profis folgenden Ratschlag mit auf den Weg:

 

„Eine grundsätzliche Übung für alle, die ihr
Unglück suchen, ist eine intensive
Beschäftigung mit dem Glück.“

 

Die antiken Glückstheorien vertrauten auf die Kraft der Menschen, durch Bildung und Selbstbildung jene Einstellungen zu erwerben, die sie zu einem glücklichen Leben befähigen. Der Mensch, so Maximilian Forschner in seinem Beitrag Glückstheorien der Antike, „hebt sich selbst durch meditative Verinnerlichung über die Begrenztheit seines Lebens in die Dimension des Göttlichen“. Allerdings setzen diese Theorien eine menschliche Bildungsfähigkeit und eine Leistungsbereitschaft voraus, die, Forschner zufolge, wenn überhaupt, nur selten gegeben sind.
Unter den Bedingungen der modernen Welt, so Pascal Bruckner, sind die Vorstellungen vom Glück als flüchtiger Fortuna und paradiesischer Glückseligkeit verkommen „zum unerbittlichen Schergen, der uns mit goldener Peitsche über die Rennbahn des Lebens zu immer neuen Höchstleistungen treibt“. Verdammt zum Glück, so auch der Titel seines Beitrags, können wir es uns gar nicht mehr leisten, unglücklich zu sein, sind wir der Pflicht zum Glück unterworfen, die unsere heutige Zeit kennzeichnet: „Anstatt zuzugeben, dass Glück die Kunst des Indirekten ist, … bietet man es uns an wie eine Instant-Tütensuppe, die Gebrauchsanweisung gleich mit dabei.“ Damit es sich aber einstellt, muss es, so Bruckner, als für alle offene Chance betrachtet werden, „bei welcher der Zufall den größten Anteil hat“.
Immer „happy“ zu sein ist Günther Bien zufolge „eine Überforderung, die sich nur mehr in der Gesichtsmuskulatur niederschlägt“. Mit Blick auf die allgegenwärtigen Sehnsüchte nach Ruhm und Reichtum merkt er im Interview an, dass es schon ein großes Glück ist, kein Unglück zu haben, und:

 

„Glück ist nicht das Ziel, sondern der Lohn.“

 

Aus den Märchen lernen wir, so Bien, dass, stellt man den Menschen mehrere Wünsche frei, sie stets einen letzten Wunsch brauchen, um von den verheerenden Folgen der Erfüllung der vorangegangenen Wünsche freizukommen. Die Philosophie hat für ihn insofern noch eine Aufgabe, als sie den Menschen helfen kann, das zu finden, was sie wirklich wollen. Bezug nehmend auf Aristoteles definiert er Glück als Nebenprodukt sinnvollen Tuns, denn: „Beglückend sind immer die Tätigkeiten, die den Zweck in sich selbst tragen.“
In der Praxis jedoch liegt menschlichem Handeln nur allzu oft die Vorstellung zu Grunde, Ziele erreichen zu müssen, die den Sinn eines Lebens ausmachen. „In diesem Sinn liegt das Glück eines Individuums beschlossen“, heißt es in Annemarie Piepers Aufsatz Das Glück des Sisyphos. Da ein solches lineares Weltverständnis das bittere Gift in sich birgt, immer neue Ziele setzen zu müssen, vermag der Mensch dem Unglück nur zu entgehen, indem er, wie Camus, die Absurdität der Welt, das heißt die Abwesenheit eines dem Lauf der Dinge innewohnenden Sinns akzeptiert. Wie Sisyphos, der auf alle Ewigkeit von den Göttern dazu verurteilt worden war, einen Fels immer wieder auf einen Berg zu wuchten, muss der Mensch, um sein Schicksal als ein glückliches begreifen zu können, sich nicht den Gipfel, sondern das Beschreiten des Wegs zum Ziel setzen. Glück ist somit weniger eine Frage des Schicksals als vielmehr eine Frage der Einstellung zum persönlichen Lebensweg.
Ob die Beschäftigung mit der Philosophie den Blick auf das eigene Leben solchermaßen beeinflussen, Trost oder gar Heilmittel für die Seele sein kann, ist Thema des Beitrags Noch ganz bei Trost?! von Björn Reich. Am Beispiel von Shakespeares Leonato, der zur Tröstung über den Tod seiner Tochter Hero zur Geduld aufgefordert, klagt: „Bis jetzt gab‘s keinen Philosophen, … der mit Geduld das Zahnweh konnt‘ ertragen“, führt Reich aus: „Das Zahnweh kann die Philosophie sicher nicht heilen, aber wer sich mit ihr beschäftigt, wird wenigstens nicht völlig unvorbereitet davon überrascht.“

 

Auch wenn es schon Glück ist, nicht das Pech
der anderen zu haben, ist Glück jedoch nicht
die Kunst, kein Pech zu haben!

 

Beim Pech handelt es sich um eine nicht umkehrbare Asymmetrie, schreibt Rüdiger Vaas unter dem Titel Pech gehabt! und zitiert zur Erklärung Schopenhauers Erkenntnis: „‚Wenn man einen Teelöffel Wein in ein Fass Jauche gießt, ist das Resultat Jauche. Wenn man einen Löffel Jauche in ein Fass Wein gießt, ist das Resultat ebenfalls Jauche‘ – Pech gehabt!“
Während der Verlust der Arbeit heute weit gehend als Pech beziehungsweise als Unglück empfunden wird, war für Paul Lafargue die Erfüllung der „Pflicht zur Faulheit“ Voraussetzung für Glück. Trotz umfassender Automatisierung der industriellen Produktion verhindert jedoch die Moral unserer modernen Arbeitsgesellschaft, dass Freizeit zur „Faulzeit“ wird. „Aber Stress, Herzinfarkt, ‚Burning-out‘-Syndrom und andere Körperstrafen der rasenden Jetztzeit unterminieren die Arbeitsmoral, die menschliche Rhythmen dem Tempo der Maschinen anpassen will“, schreibt Goedart Palm unter dem Titel Glück und Faulheit und zitiert die „medi-zynische Faulheitslogik“ des Medizinstudenten Georg Büchner: „Wer arbeitet ist ein subtiler Selbstmörder, und ein Selbstmörder ist ein Verbrecher und ein Verbrecher ist ein Schuft, also, wer arbeitet ist ein Schuft.“
Dass wer genießen und glücklich sein will, sich vom Joch entfremdeter Arbeit befreien muss, ist auch eine Einsicht von Herbert Marcuse. Die meisten Menschen jedoch werden Marcuse zufolge von falschen Bedürfnissen geknechtet und sind süchtig nach falschem Glück. Das wahre Glück wird in die Welt der Seele, des Geistes und des Jenseits verlagert. „Da ist es auch wahrlich gut weggeschlossen“, schreibt Otto-Peter Obermeier im Portrait Herbert Marcuses Vision von der Befreiung des Glücks. Marcuse war zutiefst davon überzeugt, dass Begriffe wie Vernunft, Selbstbestimmung, Freiheit und Glück deshalb so revolutionär sind, weil das, was sie an Hoffnung wecken, noch lange nicht Wirklichkeit geworden ist. Mit Bezug auf Freud sieht er das Entstehen von Kultur dort, „wo auf das primäre Ziel – nämlich die vollständige Befriedigung von Bedürfnissen – mit Erfolg verzichtet wird“. Auf den Begriff des Glücks bezogen, kann dies aber nur heißen:

 

„Wo Kultur beginnt, wird das Glück in Ketten gelegt.“

 

Auch Regina Ammicht Quinn weist darauf hin, dass wir in einer Tradition der Abschiebung des Glücks stehen. Die dieser Tradition zu Grunde liegende Überzeugung, dass der Tugendhafte immer glücklich sei und der Schlechte immer unglücklich, setzt voraus, dass das Glück eine unerreichbare, „leiblose“ Idee ist. Moralische Konflikthaftigkeit gehört für Ammicht jedoch zur Grundstruktur des Glücks: „Glück und Moral existieren nicht in einer ausgehaltenen Spannung nebeneinander, sondern ineinander – ein Ineinander ohne Identität, zwei verschiedenfarbige Fäden im selben Stoff“ heißt es unter dem Titel Glück als Ernst des Lebens. Glück ist für Ammicht nicht etwas, das, wenn der Ernst des Lebens, das Nötige und Lästige, erledigt ist, als Zugabe dazukommt: „Es ist nicht der Mantel und nicht das Schmuckstück; es ist der Ernst des Lebens selbst: das gefährdete, bedrohte, manchmal auch bedrohliche menschliche Gedeihen.“ (…)

Siegfried Reusch, Chefredakteur