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der blaue reiter Ausgabe 11

 



Provokation aus der Tonne. 
Die Werte des Diogenes von Sinope


Wenn der Mensch seine Kultur immer weiter entwickelt, seine Empfindungen und Bedürfnisse mehr und mehr erweitert und verfeinert, wird er dann nicht immer abhängiger von ihnen und somit unfreier? Bedeutet Freiheit nicht gerade Unabhängigkeit von Äußerem? Diese Fragen stellte sich der Lehrer von Diogenes, der Begründer der kynischen Bewegung, Antisthenes. Ein Sklave ist der, der sich von seinen Lüsten und Meinungen, vor allem aber von seinen materiellen Bedürfnissen beherrschen lässt. Der Mensch unterwirft sich immer umfassender abstrakten Ideen, seinen Gütern oder dem Geld – es wird wichtiger als die Suche nach dem wirklichen Glück.

1. Diogenes aus Sinope, Sohn eines reichen Geldwechslers, musste aus seiner Heimatstadt fliehen, weil er in einen Falschmünzerskandal verwickelt war. Auf dieser Flucht befragte er das Orakel in Delphi, das ihm riet, die gängige Münze umzuwerten, so der Geschichtsschreiber Diogenes Laertius. Dieser lebte in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr. und überlieferte uns den größten Teil der Anekdoten seines Namensvetters.
Mittellos in Athen angekommen, schloss sich Diogenes dem Antisthenes an und bewohnte ein Fass am Metroon, dem Vorhof des Tempels der Demeter, wo auch das Staatsarchiv untergebracht war. Dieses Fass suchte er sich nicht zufällig aus, es stand an diesem Ort, um eine mythische Verbindung herzustellen zwischen der Ernte- und Muttergöttin Demeter und dem Gott des Rausches, Dionysos. Diogenes’ symbolische Einquartierung trat den auf Eintracht zwischen den Göttern beruhenden Staatsglauben mit Füßen. Außerdem soll er häufig auf die Säulenhalle des Zeus oder das Pompeion (Zeughaus) gezeigt und gesagt haben, die Athener hätten ihm ja Wohnstätten genug gebaut. Anfänglich besaß er noch den Sklaven Manes – Relikt aus alten Tagen als Falschmünzer –, doch dieser wollte sich der Bedürfnislosigkeit seines Herren nicht anschließen. Er verschwand, und Diogenes wurde gedrängt, ihn verhaften zu lassen. Der junge Philosoph erregte wiederum Aufsehen, indem er antwortete: „Es wäre doch lächerlich, wenn Diogenes den Manes nicht entbehren könnte, da Manes des Diogenes nicht bedarf“ (Laertius).
Theophrast beschrieb Diogenes folgendermaßen: Er flucht, stinkt, ist schmutzig und meistens betrunken. Er betrügt, wo immer er kann, und verprügelt diejenigen, die den Schwindel entdecken, bevor sie ihn anzeigen können. Keine Tätigkeit widerstrebt ihm; er ist Kneipier, Zuhälter, Steuereintreiber; er ist Stammgast in Polizeirevieren und Gefängnissen. Er schwingt sich als Advokat für die unterschiedlichsten Angelegenheiten auf. Er ist Pfandleiher, den man in den Kneipen und kleinen Geschäften seine Runden drehen sieht, um Zinsen einzutreiben – kurz, ein Edelpenner, bei dem es die seriöse Philosophie mit der Einordnung schwer hat.

2. Aus der ironischen Kritik einer nicht an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichteten Kultur leitete Diogenes – ebenso wie die kynische Bewegung – ein möglichst naturnahes Leben ab, das die Bedürfnislosigkeit als oberste Tugend pries. Diogenes verkündete immer wieder, die Götter hätten den Menschen durchaus alles Nötige gegeben, um ein leichtes Leben zu führen, aber über dem Streben nach Leckereien, duftenden Ölen und dergleichen hätten diese den Blick dafür verloren. Nur die Einschränkung der eigenen Wünsche und Leidenschaften könne vor Enttäuschungen bewahren. Der Bedürfnislose begnüge sich mit gewöhnlicher Nahrung, einem Beutel, um sie aufzubewahren, und einem Mantel, der gleichzeitig als Decke diene. Als Diogenes ein Kind aus den Händen trinken sah, warf er seinen mitgeführten Becher weg: „Ein Kind hat mir gezeigt, was Genügsamkeit ist“ (Laertius). Ebenso entsorgte er seine Schüssel als unnötigen Luxus, als ein Junge seine Linsen aus einem ausgehöhlten Stück Brot aß. Diogenes versuchte konsequenterweise, seine Nahrung roh zu essen; in der antiken Metaphorik ein Protest gegen Prometheus, dem Bringer des Feuers und der Zivilisation. Dieses Benehmen und sein Aufzug hatten etwas Schockierendes, zumal in einer Zeit, in der es in Athen als Schande galt, sich ohne Begleitsklaven auf der Straße zu zeigen. Für Diogenes dagegen bestand die richtige Lebensweise darin, allem Materiellen bewusst zu entsagen. Das Geld nimmt in diesem philosophischen System eine Schlüsselstellung ein. Durch sein abstraktes Wesen tritt eine Ungleichheit in der Bewertung der Güter ein, die mit einem tugendhaften – das hieß für Diogenes nach seinen wirklichen Bedürfnissen ausgerichteten –, naturnahen Leben nichts mehr gemein hatten. So gab Diogenes häufig zu bedenken, dass man die wirklich wertvollen Dinge fast umsonst kaufen könne, während man beinahe Wertloses, das heißt Nutzloses, teuer bezahlen müsse. So koste eine Statue mindestens tausend Drachmen, ein Maß Gerstenmehl dagegen nur zwei Kupferstücke.

 

Die Armut ist eine unterrichtende Helferin der
Philosophie.

 

Aller Besitz kann dem Menschen wieder genommen werden und kann ihn deshalb, wenn er sein Leben auf den bloßen Erwerb und Genuss von Gütern ausrichtet, unglücklich machen. Materielle Bedürfnisse und Güter rauben dem Reichen die innere und äußere Freiheit. Er muss seinen Besitz verteidigen, bewachen, sich der Vorteilnahme erwehren, viele sehen in seinem Erfolg einen Diebstahl an der Allgemeinheit. Und in seiner Umgebung befinden sich weniger seine Freunde als vielmehr Schmeichler und Schnorrer. Von diesen Problemen ist derjenige verschont, der nichts besitzt und auch keine Bedürfnisse hat – die Armut wird zum Preis der Freiheit. Sie schützt vor Neid und Streit, sie ist eine unterrichtende Helferin der Philosophie, so Diogenes in der Beschreibung des Laertius. „Die Reichen gleichen Obstbäumen und Weinstöcken, welche an steilen unzugänglichen Abhängen stehen; wie deren Früchte nicht den Menschen, sondern den Raben zugute kommen, so der Reichtum jener den Schmarotzern, Schmeichlern und Kurtisanen.“ Immer steht bei Diogenes die Verpflichtung zu sozialem Ausgleich im Vordergrund. Persönlich erlangter Wohlstand soll immer dem Menschen, der gesamten Gemeinschaft zugute kommen.

3. Gegen körperliches wie seelisches Leiden versuchte Diogenes sich abzuhärten. In der Askese erreichte er einen Zustand von Leidunempfindlichkeit, der das Ertragen von Kränkungen oder das Hungern leichter erträglich machte. Doch war es ihm kein Lustgewinn wie bei der späteren christlichen Konkurrenz. Ihm kam es nicht auf die Bestrafung des eigenen verderbten Leibes an. Diogenes war vielmehr nicht bereit, für die Befriedigung sekundärer Bedürfnisse mit seiner persönlichen Freiheit zu bezahlen. War diese nicht in Gefahr, hatte er nichts gegen ein wohlhabendes Leben einzuwenden. „Diogenes lehrt, dass auch der Weise Kuchen isst, wenn er ihn nur genauso gut entbehren kann“ (Sloterdijk). Er lehrte keine dogmatische Armut, vielmehr warf er allen überflüssigen Ballast von sich ab, der seine Bewegungsfreiheit einschränkte.
Diese Bedürfnislosigkeit schafft zudem eine Form von Unabhängigkeit gegenüber anderen Menschen, die Diogenes bis hin zu sexueller Autarkie betrieb. Er onanierte öffentlich auf dem Markt: „Wenn es doch nur so leicht wäre, den Hunger loszuwerden, indem man sich den Bauch reibt.“ Mit der Veröffentlichung des Privaten wollte Diogenes nicht nur ein etabliertes und doch im Umbruch befindliches System provozieren – er gab dem Menschen auf dem Markt seine Rechte auf ein unbeschämtes Erlebnis des Körperlichen zurück, das gut daran tut, sich jeder zivilisatorischen Diskriminierung zu entziehen. Aber es war gleichzeitig bekannt, dass dieser verwahrloste Philosoph exklusive und unbezahlte Gefälligkeiten von stadtbekannten Edelhuren erlangte, von denen die meisten normalen Bürger nur träumten. Zwischen Lais und Phryne, den Stadthetären der attischen Hauptstadt, und dem Diogenes schienen Gesetze zu gelten, die den Bürgern als eine Art Parallelwirtschaft vorgeführt wurden und offensichtlich alle Beteiligten mindestens so zufrieden stellten wie die Geldwirtschaft.

4. Der Ausdruck „Kyniker“ (gr.: kyon) bedeutet „Hund“, doch sind zwei unterschiedliche Geschichten zu dieser Begriffsbestimmung überliefert: Einerseits soll „Kyniker“ sich vom Ort der Schule des Antisthenes herleiten, der nicht wie Platon in der Akademie oder wie Epikur im Garten lehrte, sondern am Kynosarges, einem von Friedhöfen und Ruinen bedeckten Randbezirk, wo bei einem Opfer für Herakles das Opfertier von einem Hund gestohlen worden sein soll. Andererseits schraubte Diogenes seinen Lebensstandard bis auf den eines Hundes herunter, der vor seiner Hütte liegt – eine Haltung, die ihn von der Kette der gesellschaftlichen Zwänge löste. Und er ging mit dem Schimpfnamen auf produktive Weise um, deutete ihn sogar als Gütesiegel: Als die Gäste eines Gelages sich wieder mal über ihn lustig machten, ihn einen Hund nannten und ihm einen Knochen zum Fraß vorwarfen, antwortete er dahingehend, dass er am Gastgeber sein Bein hob und in eindeutiger Weise dieses Revier markierte.

Autor: Thomas Lange