Leseprobe im Journal-Layout herunterladen

der blaue reiter Ausgabe 9

 



Akrobatik in der Mitte. Über die Vermischung von Natur und Kultur im modernen Sportklettern


Hoch über dem Erdboden bewegt sich ein Mensch an winzigen Vorsprüngen eine glatte Felswand empor. Wer ist dieser Mensch, und wie läßt sich sein eigenartiges Spiel dort draußen in der Natur begreifen? Der Kletterakrobat symbolisiert die moderne Vermischung von Natur und Kultur. Er findet sich in einer Mitte wieder, die weder als bloßes Verschmelzen bislang getrennter Bereiche noch als exakter Mittelwert der Welt, sondern als ein durch die Gleichzeitigkeit von Natur und Kultur hindurch schillernder Möglichkeitsraum für seine Existenz verstanden wird.

Betrachtet man das Verhältnis, das zwischen Natur und Kultur heute besteht, läßt sich nicht mehr leugnen, daß beide miteinander intim geworden sind. Immer stärker werden wir, die wir von Natur aus alle Rahmen überschreiten (H. Plessner), gewahr, daß sich Natur, indem wir sie durch unsere Gesellschaften, Wissenschaften und Techniken hindurch erzeugen, nicht mehr von Kultur trennen läßt. Zeigt sich mit dieser Erfahrung einerseits, wie vorläufig, instabil und veränderbar die Phänomene sind, die wir zu einer bestimmten Zeit jeweils als eigene oder äußere Natur verstehen, häufen sich andererseits die Stimmen derjenigen, die, den Blick auf die rasant zunehmenden Eingriffspotentiale der modernen Wissenschaften gerichtet, eine ganz neue Qualität der Vermischung von Natur und Kultur heraufziehen sehen. Folgt man dem französischen Philosophen Bruno Latour, dann sind wir freilich schon einige Zeit nicht mehr unter uns. Während wir Natur und Kultur im Licht der Moderne sauber getrennt zu halten glaubten, betreiben wir in deren Schatten schon lange ihre Vermischung. Glaubt man Latour, so sind die dabei nicht nur in den Tempeln der Wissenschaft, sondern gerade auch in den Niederungen unserer Lebenswelt entstandenen Hybridwesen (hybrid: gemischt, gleichzeitig, zusammengesetzt) aus Natur und Kultur für moderne Gesellschaften mittlerweile grundlegend geworden. Dies wiederum führt der Philosoph vor allem auf die zunehmende Bedeutung der Technik als vermittelnde Kraft zurück. Die Technik, so schreibt er, ermöglicht weder einen unvermittelten, direkten Zugriff auf Dinge, Materiales und Natur, noch vermittelt sie lediglich unsere Handlungen und sozialen Beziehungen. Sie stellt kein Zwischenglied zwischen zwei bereits vorher existierenden, einander gegenüberstehenden Größen dar. Sie ist vielmehr der notwendige Durchgangspunkt, durch den hindurch uns Natur und Kultur heute gleichzeitig und als vermischte Sachverhalte begegnen.
Was aber bedeutet solch eine Diagnose für uns Menschen, die wir uns nicht nur in der Arbeitswelt, sondern sogar in unserer Freizeit immer mehr in durchtechnisierten Leistungs- und Erlebniswelten einrichten? Am Beispiel des modernen Sportkletterns soll geprüft werden, wie und mit welchen Folgen sich Menschen, Dinge, Natur und Kultur in einer Natursportart vermischen.

Als eine ganz spezielle Art der „Eroberung des Nutzlosen“ (Reinhold Messner) hat sich das schwierigkeitsorientierte Sport- beziehungsweise Freiklettern in den letzten zwanzig Jahren zu einer eigenständigen Sportart entwickelt, deren komplexes Regelwerk, ausgeprägtes Leistungsprinzip und soziale Struktur mit dem klassischen Bergsteigen nicht mehr viel gemein hat. Der ethische Grundgedanke dieses Sports beinhaltet dabei nicht, wie fälschlicherweise oft angenommen, die seilfreie, das Risiko eines Absturzes bewußt in Kauf nehmende Begehung einer Felswand. Mit Freeclimbing ist vielmehr das durch Seil und Partner gesicherte Überwinden einer schwierigen Felspassage aus eigener Kraft, an den natürlichen Haltepunkten und ohne technische Hilfsmittel zur Fortbewegung gemeint. Die ersten Versuche, auf diese Art „frei“ zu klettern, gab es bereits um die Jahrhundertwende in der Sächsischen Schweiz. Im europäischen Alpenraum lange Zeit im Schatten des traditionellen Alpinismus stehend, entfaltete sich das Freiklettern jedoch erst in den 70er Jahren. Vor allem im kalifornischen Yosemite Valley  enstand in jener Zeit eine Sportkultur, in der bereits die wesentlichen Merkmale eines Hochleistungssportes (Spielidee, Leistungsprinzip und Regelsystem) versammelt waren. Beeinflußt durch die Hippie- und Aussteigerbewegung bildete sich dort ein subkulturelles Milieu, dessen ausgeprägter, sich bürgerlichen Leistungsprinzipien verweigernder Individualismus ironischerweise die Voraussetzung für eine enorme Leistungsexplosion im Klettern schuf. Anfang der 80er Jahre begann die in diesem Milieu stabil gewordene Freikletterethik dann auch in Europa einflußreich zu werden. Seitdem haben sich das Erscheinungsbild und die Sozialstruktur der Freikletterbewegung mehrfach radikal verändert. So gibt es mittlerweile zahlreiche feine Unterschiede (Pierre Bourdieu) innerhalb des Schwierigkeitskletterns. Ob es das sogenannte Bouldern, das spielerische, angst- und seilfreie Klettern an niedrigen Felsblöcken ist, das Wettkampfklettern an einer durch und durch künstlichen Wand oder das Erstbegehen schwierigster Routen an kurzen Mittelgebirgswänden und langen alpinen Wänden – jede einzelne dieser Spielformen hat sich zu einer eigenen Disziplin entwickelt. Beeinflußt durch eine umfassende Kommerzialisierung des Klettersports hat sich die einst mit einem alternativen Sportverständnis angetretene Freikletterbewegung dabei den Leistungs- und Spezialisierungszwängen der modernen Gesellschaft deutlich angepaßt.
Zusammen mit der Verfeinerung und gesellschaftlichen Integration des Klettersports wurden die Schwierigkeiten im Klettern am natürlichen Fels in unglaubliche Höhen getrieben. Durch die Anwendung sportmedizinischer Erkenntnisse und systematischer Trainingsmethoden hat sich dabei sowohl die Grenze dessen, was der menschliche Körper zu leisten vermag, als auch die Verfügbarkeit des Naturgegenstandes Fels drastisch erweitert. Die klettertechnischen Schwierigkeiten, unter denen die Schwerkraft in diesen Bereichen überlistet wird, hat Tilmann Hepp einmal am Beispiel einer schrägen Zimmerdecke visualisiert, in die mit einem Bohrer einige wenige Löcher für die Finger angebracht werden, an denen der Kletterer einarmige Klimmzüge vollzieht.

 

Der Fels ist Natur, während er gleichzeitig
im Akt des Einrichtens und Definierens einer Kletterroute zu Kultur wird.

 

Daß dieser neue Grenzbereich im Freiklettern möglich wurde, verdankt sich jedoch nicht allein einem gesteigerten technologischen Verhältnis zum Körper, also der planmäßig betriebenen, sportwissenschaftlich angeleiteten Instrumentalisierung und Manipulierung körperlicher Leistungsfähigkeit, sondern einer weitaus umfassenderen Technisierung des Klettersports. Nur indem man diese Technisierung im Hinblick auf ihre vermittelnde Funktion untersucht, die sie für die gesamte Kletterpraxis hat, läßt sich verstehen, wie die Grenze der Verfügbarkeit von Körper und Fels derart verschoben werden kann und wie der kletternde Mensch dabei mit dem Objekt seiner Begierde – dem Naturgegenstand Fels – auf eine besondere Art und Weise verschmilzt.
Gab es zu Beginn der 80er Jahre kaum eine Auswahl an Soft- und Hardware, so hat sich mit der Kommerzialisierung und Verwissenschaftlichung des Klettersports mittlerweile ein äußerst reichhaltiges technisches Arsenal etabliert: Bohr- oder Klebehaken zur Einrichtung, Absicherung und Definition von Kletterrouten, Reibungskletterschuhe mit einer Gummimischung, die dem Haftungsgrad eines Formel-1-Reifens entsprechen; Schuhvariationen für jeden Felstyp, Magnesia zur Erhöhung der Griffigkeit der Hände, Multisturzseile, Klettergurte, die dem Akteur eine maximale Bewegungsfreiheit garantieren, eine Vielzahl unterschiedlicher und ständig verbesserter Sicherungsgeräte, eine enorme Bandbreite an Literatur über erschlossene Klettergebiete, Sicherungstechniken, sportwissenschaftliche Trainingsprogramme, Bewegungs- und Muskelaufbaulehren und vieles mehr.
Diese verschiedenartigen Techniken stehen dem kletternden Menschen jedoch nicht einfach als reine Artefakte oder als anzueignendes Praxiswissen gegenüber. Folgt man Bruno Latour, dann sorgen sie in ihrer Rolle als Vermittler vielmehr für einen gezielten Austausch von menschlichen und nichtmenschlichen Eigenschaften. Anders als bei einer Vermittlung im Sinne eines bloßen Zwischenglieds wird der Akt des Kletterns durch diese Techniken hindurch nicht bloß transportiert, er wird vielmehr verschoben, übersetzt, konstituiert, ja regelrecht neu erfunden. Wie ist dies zu verstehen, und welche Kombinationen von Menschen und Dingen, von Natur und Kultur entstehen in dieser Übersetzung und Neuerfindung konkret?
Betrachten wir uns zunächst einige der notwendigen Durchgangspunkte, ohne deren routinemäßigen Gebrauch das Schwierigkeitsklettern nicht möglich wäre. Einerseits ist da der Partner, der das Seil hält, an dessen Ende ich mich kletternd die Felswand hochbewege, andererseits die restliche Ausrüstung, ohne die Partner und Seil nutzlos wären: Klettergurt, Karabiner, Schlingen und Bohrhaken. Als in Fasern eingewebte Moral, als durch strenge Materialprüfungen und Normierungen gefestigtes Sicherheitsversprechen ist vor allem das Seil der entscheidende, weil lebensverlängernde Trick, der die mühevoll antrainierte Inszenierung des eigenen Körpers im Grenzbereich, den ästhetischen Tanz am Fels überhaupt erst gestattet. Ich kann ein noch so guter Kletterakrobat sein, ohne die stabile Einbindung des Seils in mein Handeln, ohne das Delegieren meiner Angst an dieses Objekt entfalten sich meine körpertechnischen Fähigkeiten kaum. Der Mechanismus des Seils ist dabei eine besonders gelungene Einrichtung. Solange ich mich aus eigener Kraft an der Felswand fortbewege, folgt das Seil meinen Bewegungen und gehorcht. Stürze ich jedoch – und dies kommt gerade in hohen Schwierigkeitsgraden regelmäßig vor –, blockiert das Seil und befiehlt meinem fallenden Körper, den Flug zu beenden. Der für die kreative Lösung eines Kletterproblems entscheidende Zugewinn an Handlungs- und Angstfreiheit ist jedoch nicht allein auf die Integration eines einzigen Verbündeten zurückzuführen. Für Latour gibt es diese Vermittler nie als isolierte Glieder, fangen mit ihnen immer auch die Ketten an. ...

 

Autor: Andreas Steiner