Siegfried Reusch
Chefredakteur
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der blaue reiter Ausgabe 9

 



Naturlos


Woher kommen wir, wenn wir in die Natur gehen?

 

Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Natur und Mensch sowie einer zunehmenden Naturlosigkeit des Menschen muß die Frage nach der Natur neu gestellt werden.
Ursprünglich bezeichnete Natur alles Seiende, einschließlich der Menschen und der Götter. Natur war das, was wesensgemäß von selbst da ist, und den Grund seines Vorhandenseins in sich selbst trägt. Seit der Antike – etwa bei Platon – erhält der Begriff Natur seine Bestimmung durch Entgegensetzungen wie Natur und Geist, Natur und Technik, oder Natur und Kultur.
Natur wird dabei zunehmend als etwas verstanden, das in gewissem Sinne im Gegensatz zum menschlichen Bereich steht, dem Menschen gar bedrohlich gegenübertritt. Das Bedrohliche, Fremde an der Natur gilt es zu enträtseln, verstehbar zu machen und zu beherrschen. Noch heute setzt Naturwissenschaft der Natur im Experiment die „Daumenschrauben" an, um die Gesetzmäßigkeiten natürlicher Vorgänge zu erforschen, deren Kenntnis es Technikern ermöglicht, einer als äußerlich empfundenen Natur ein „menschliches Gesicht" zu geben.

Kant charakterisiert die unter Heranziehung des Experiments gewonnene Einsicht in die Natur indirekt als die Selbsteinsicht der Vernunft. Erkennen können wir an der Natur nur das, was wir selbst in sie hineintragen: die Natur an sich bleibt unerkannt. Während Natur nach Kant als die Welt sinnlicher Erscheinungen den Gesetzen von Ursache und Wirkung unterworfen ist, verfügt der Mensch – obgleich Naturwesen – als Angehöriger der geistigen Welt über die Möglichkeit der Freiheit.
Die Romantik versuchte den Gegensatz zwischen Natur und Geist zu versöhnen. Natur wurde nicht mehr als bloß toter, mechanischer Ursache-Wirkungs-Zusammenhang betrachtet – die Natur, so Schelling, kommt im menschlichen Geist zu sich selbst. Für die spekulative Physik Schellings ist Natur ein dynamischer Prozeß, und in ihrer Strukturiertheit ein Werden. Die Natur als ganze, so Thomas Bach im Beitrag Naturphilosophie als spekulative Physik, „kann dabei nur gedacht, nicht aber in der Erfahrung gegeben werden.“
In der Entgegensetzung von Natur und Kultur sieht Christian Bermes zwei Seiten eines einzigen Phänomens. Naturwissenschaftliche Sätze, wie zum Beispiel der Satz des Thales, sind für ihn keine überzeitlich gültigen Gesetze, sondern Kulturgegenstände. Was den Menschen definiert, so zitiert er Merleau-Ponty in seinem Beitrag Der Ort der Inszenierung, „ist nicht die Fähigkeit, eine zweite – ökonomische, soziale, kulturelle – Natur zu schaffen über die biologische Natur hinaus, sondern vielmehr die Fähigkeit, die geschaffenen Strukturen zu übersteigen, um daraus andere zu machen.“
Für Klaus Erlach vollzieht sich das menschliche Dasein in der Weise technischen Existierens, wobei das technische Handeln als zentrales Vermögen des Menschen ein Naturgegebenes ist. Allerdings, so Erlach unter dem Titel Der Mensch im Technotop, ist das technisch handelnde Naturwesen Mensch nicht einfach auf der Welt, sondern muß sich seine Existenz erst noch erwerben, sich quasi selbst erschaffen: „Der Mensch ist, was er aus sich macht.“
Das Umweltproblem verdeutlicht dem durch den technischen Fortschritt zunehmend „naturlos“ gewordenen, modernen Menschen erneut seine Eingebundenheit in die Kreisläufe der Natur. Das, was durch das Umweltproblem ins Bewußtsein gerückt wird, so Gernot Böhme im Interview, „ist die Frage nach der Natur für uns, das heißt relativ zum Menschen.“ Genau diese Frage wird von der Naturwissenschaft nicht beantwortet, „weil sie unter dem Ziel der Objektivität steht und insofern, soweit es nur irgendwie geht, die Natur behandelt in Absehung vom Menschen.“ Damit versucht die Naturwissenschaft, „die menschliche Sinnlichkeit, die mensch-
liche Leiblichkeit, vor allem das Biographische aus dem Erkenntnisprozeß soweit wie möglich herauszuhalten. Natur im Sinne der Naturwissenschaft ist im Grunde das, was sich vor dem Apparat zeigt, also nicht vor dem Menschen, der etwas sieht, hört, fühlt und so weiter. Demgegenüber hat das Umweltproblem uns deutlich gemacht, daß wir ein besonderes Interesse an der Natur haben, insofern wir selbst Natur sind…“.
Etwas gänzlich anderes als unsere Beschäftigung mit der Umwelt meint Augustinus, wenn er vom Buch der Natur spricht, in dem es zu lesen gilt. Die Natur ist nach Augustinus primär ein Mittel, durch das dem Menschen Gottes Wort zugänglich wird, so Stefan Gammel im Beitrag Das Buch der Natur; sie „ist ein Werkzeug der Offenbarung … Die Erforschung der Natur dient lediglich dazu, Sachverhalte und Erscheinungen aus dem Tier- und Pflanzenreich zu finden, die als Illustrationen der heiligen Schrift dienen.“ Daraus ergibt sich, so Gammel, daß in der Natur, deren Schöpfer und Hersteller Gott ist, kein Übel als solches, das heißt als eigene Qualität, besteht, sondern nur als Mangel an Gutem.

 

„Auch der vernünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heißt seiner unlogischen Grundstellung zu allen Dingen.“
(Friedrich Nietzsche)

 

In den Sportkletterern, den Bergsteigern der Moderne, sieht Andreas Steiner in seinem Beitrag Akrobatik in der Mitte ein Symbol für die Vermischung von Natur und Kultur. Im Akt des Einrichtens und Definierens einer Kletterroute wird der zu bezwingende, natürliche Fels zu Kultur. Bezugnehmend auf Bruno Latour führt Steiner aus, daß Technik weder einen unvermittelten Zugriff auf Dinge, Materielles oder Natur ermöglicht, noch unsere Handlungen und sozialen Beziehungen vermittelt. Technik „stellt kein Zwischenglied zwischen zwei bereits vorher existierenden, einander gegenüberstehenden Größen dar. Sie ist vielmehr der notwendige Durchgangspunkt, durch den hindurch uns Natur und Kultur heute gleichzeitig und als vermischte Sachverhalte begegnen.“

Dass das „Mitsein mit Anderen und Anderem“ zur menschlichen Identität  gehört, mithin die Menschheit nur Menschheit sein kann „in der Gemeinschaft der Natur“, ist die These von Klaus Meyer-Abich unter dem Titel: Kultur ist unser Beitrag zur Naturgeschichte. Da wir immer nur das Nehmen im Sinn haben und gar nicht darauf kommen, dafür etwas schuldig zu sein, so Meyer-Abich, kommt er zu dem Schluß: „Kultur ist das, was wir dafür schuldig sind, daß wir von anderm Leben leben.“
Demgegenüber ist es für Wolfgang Ullrich ein Zeichen der Entfremdung von Natur, diese nicht auch als fremd, als widrig und verderblich wahrnehmen zu können. Den modernen Verlust der Natur sieht er darin, daß diese mittlerweile von allem Negativen freigesprochen wird. Im Zeitalter ökologischen Bewußtseins, schreibt er in seinem Beitrag Naturpazifismus und Selbstverachtung, „preist man Natur pauschal als gut und schön; wo sie sich dennoch widrig zeigt, beschuldigt man den Menschen.“ Dabei gilt, so Ullrich: „Als Entfremdung von der Natur wird bedauert, was sich nur wegen der Entfremdung bedauern läßt … Je mehr die menschliche Gattung sich mit der Natur versöhnt, um so weniger versöhnt sie sich anscheinend mit sich selbst“.
Auch Reinhard Falter plädiert angesichts der zunehmenden Entfremdung des Menschen von einer natürlichen Natur für Eine Philosophie des Natur-Natur-sein-Lassens. Die Aufgabe des Menschen als eines der Organe der Natur sieht er nicht darin, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nachzukonstruieren und funktional zu interpretieren. Natur, so Falter, „kann, wie Sinn, nicht gesucht und nicht hergestellt, sondern nur erfahren werden.“
In Anlehnung an Hans Blumenberg kann Franz Josef Wetz in der Kultur lediglich ein Armutszeugnis erkennen. Als Inbegriff menschlicher Selbstbehauptung gegen den Absolutismus der Wirklichkeit ist „der unermeßliche Reichtum der Kultur auch weniger ein Zeichen der schöpferischen Vielfalt des Menschen; vielmehr gibt er ein Zeugnis von der Armut seines notvollen Daseins, dessen Sorgen, der Ungewißheit und Schutzbedürftigkeit seiner Existenz angesichts der Übermacht der eigenen inneren und fremden äußeren Natur, gegen welche sich der Einzelne zeitlebens behaupten muß.“
In der neuen Rubrik Pro & Contra, in der aktuelle Probleme von philosophisch konträren Standpunkten aus diskutiert werden, setzen sich Udo Schüklenk und Thomas Zoglauer über das Thema Klonen auseinander. „Was bitteschön wäre denn so problematisch an einer Welt mit ein paar tausend weiteren Genies oder Traumfrauen?“ fragt Udo Schüklenk provokant in seinem Beitrag Klonen – gegen das schlechte Image einer guten Sache und kommt zu dem Schluß, daß die entsprechenden Technologien weiter entwickelt und legitimiert werden müssen, da durch das Klonen keine anderen Menschen in ihren Interessen geschädigt werden. Einem solchen Denken hält Thomas Zoglauer den kategorischen Imperativ Kants entgegen, demzufolge der Mensch, auch der geklonte, nicht als Mittel gebraucht, sondern jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden soll. Die Freiheit des Menschen, so Zoglauer in seinem Beitrag Der Mensch als Gebrauchsgegenstand, beinhaltet auch dessen Unverfügbarkeit.

Die zehnte Ausgabe des blauen reiters mit dem Titel

Götter

beschäftigt sich mit der Frage nach der Religion als menschlicher Weise des Seins. Welche philosophischen Bedingungen des menschlichen Weltbezuges sind es, die dazu führen, daß alle Kulturen Religionen ausbilden? Ist es, wie bei Thales und Anaximander, das Bedürfnis nach einem (philosophischen) Ursprung alles Seienden? Schafft Religion als Verhältnis des Menschen zu einer ihn übersteigenden Macht die Grundbedingungen für das menschliche Dasein? Kann Religion als Rückbindung an eine übersinnliche Wirklichkeit dem menschlichen Dasein Sinn vermitteln? Was sind die Götter der Moderne? Kann es einen Gott der Philosophen geben? Gilt für das philosophische Denken über Religion, was Hölderlin im Roman Hyperion schreibt?

 

„O, ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt.“

 

Oder sollen sich die Philosophen eher das Motto Kants zu eigen machen, der schreibt: „Eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten“?


Zum Thema Götter lesen Sie im folgenden blauen reiter unter anderem

–  Klaus Giel: Wie kommt die reine Vernunft zu Gott?
–  Peter Welsen: Gott und die Übel der Welt
–  Friedrich Kümmel: Die Frage nach der Esoterik
–  Ulrich Horstmann: Allmacht und Selbstverwüstung
–  Hartmut Böhme: Himmel und Hölle
–  ein Interview mit dem Theologen Eugen Drewermann

sowie Pro & Contra: Sterbehilfe

Die darauf folgenden Ausgaben des blauen reiters beschäftigen sich mit den Themen Geld, Ästhetik und Tod.

Siegfried Reusch, Chefredakteur