Markus Rapp: Wilde Träume, 1996
Handabrieb auf 300 g Bütten, 104 x 50 cm



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der blaue reiter Ausgabe 4 > zurück zur Themenliste

 



Wahnsinn. Die Grenze der Vernunft


Für gewöhnlich wähnt die Philosophie, sie sei den Anfeindungen des Wahnsinns gegenüber gesichert. Ich denke, also bin ich. Bleibe ich mir dessen bewusst, wie könnte ich da der Unvernunft anheim fallen? So spricht die philosophische Vernunft seit Descartes. Doch das ist bloß Gerede. In Wahrheit ist der Wahnsinn überall, er siedelt nicht einfach jenseits der Vernunft und ihren Aktivitäten, stellt mehr als bloß eine krankhafte Abweichung von den geregelten Verfahren dar, die der Philosophie als Garanten geistiger Gesundheit gelten. Machen wir uns nichts vor:

 

Der Wahnsinn wohnt dem Denken selbst inne,

 

ist ihm nicht äußerlich, sondern seiner Logik inhärent. Nicht nur, dass er als eine Art Hintergrundrauschen stets dort noch zu vernehmen ist, wo die Vernunft ihre Urteile fällt; als Inbegriff all dessen, was nicht auf den Begriff zu bringen ist, stellt der Wahnsinn zugleich so etwas dar wie einen Wieder- oder Doppelgänger der Vernunft, ist mithin das, was diese in ihrem Innersten zusammenhält, was sie anstachelt und umtreibt, und auf was sie, wie ihre Kritiker munkeln, am Ende immer wieder hinausläuft. Keine Chance, dem zu entrinnen, oder wie es bei Carl Einstein trocken heißt: „Immer ist der Wahnsinn das einzig vermutbare Resultat.“

Im Nachlaß Ludwig Wittgensteins hat sich der Satz gefunden: „Wenn wir im Leben vom Tod umgeben sind, so auch in der Gesundheit des Verstands vom Wahnsinn.“ Damit ist einer Einsicht Tribut gezollt, die sich weniger der Philosophie selbst oder der Wissenschaft verdankt als vielmehr der modernen Kunst und Literatur. Von jeher im Verdacht, dem Irrsinn und Schlimmerem Vorschub zu leisten, sind es deren Werke – die kapriziös-bizarre Malerei eines Francisco Goya etwa oder die morbide Poesie Charles Baudelaires –, in denen das kulturökonomisch auf strikte Unterordnung eingespielte Verhältnis der Vernunft zum Wahnsinn unterlaufen wurde und sich die Erkenntnis herausschälte, dass der Wahnsinn mindestens ebenso befremdend und unheimlich ist wie der Tod. Markiert letzterer das Ende individuellen Lebens, so der Wahnsinn die Grenze der Vernunft.
Grenzen aber sind peinlich, bedrohlich und beschämend zugleich, vor allem für eine Instanz, die wie die klassische Vernunft glaubt, von göttlicher Abkunft zu sein, kaum weniger absolut und grenzenlos wie der Schöpfer selbst, allwissend und allmächtig wie dieser. Deshalb ist ihr vornehmstes Organ, die Philosophie, seit ihren Anfängen darum bemüht, die ihr durch den Wahnsinn und den Tod auferlegten Grenzen sorgsam zu kaschieren, oder aber sie in kritischer Absicht als transzendentale, sprich unhintergehbare Schranke zu rechtfertigen. Von Platon über die Scholastik bis hin zu Descartes und Kant: jedes Mal ein neuer Versuch, das Unvernünftige in seinen diversen Erscheinungsformen für null und nichtig zu erklären. Zwar gilt es, wachsam zu bleiben und die Auswüchse der Unvernunft zu beobachten, doch nur, um sie effektiver kontrollieren zu können. An und für sich zählt der Wahnsinn kaum. Mit dem, was er an fixen Ideen und Gedankenfluchten transportiert, gehört er ins Reich der Träume. Ähnlich dem Tod stellt der Wahnsinn in den Augen der Philosophie wenig mehr dar als eine Chimäre.
Das ist in Kunst und Literatur, wie sie die Moderne kennt, anders. In ihnen erweist sich die als undurchlässig vorgestellte Schranke zwischen Vernunft und Wahnsinn als Ort, an dem der Geist seine waghalsigsten Kapriolen aufführt. Vernunft schlägt in Unvernunft um, die Unvernunft entpuppt sich  nicht selten als höhere Vernunft. So in Carl Einsteins „Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders“. 1912 erstmals erschienen, und zwar in der expressionistischen Zeitschrift „Die Aktion“, gibt sich der Roman unverhohlen als ein Experiment in Sachen Wahnsinn zu erkennen, das dem gesunden Menschenverstand keinerlei Konzessionen einräumt. Schräge Figuren und ziemlich absonderliche Lokalitäten, ein Handlungsverlauf, der so unmotiviert und sprunghaft ist, dass man kaum noch von einer Handlung zu sprechen wagt, Dialoge und Reden schließlich, die vor Irr- und Aberwitz sprühen, kurz: ein Stück literarischen Wahnsinns, mit dem Einstein zu einem Generalangriff auf den Positivismus (Geisteshaltung, die nur Tatsachen anerkennt) wissenschaftlicher Vernunft ansetzt:

„Bebuquin fuhr Euphemia an die Nase und umarmte sie zugleich leidenschaftlich.
Ein Sturmregen pointilliert die großen Scheibenfenster.
‚Wir bedürfen einer Sündflut.
Man hat bis jetzt die Vernunft benutzt, die Sinne zu vergröbern, die Wahrnehmung zu reduzieren, zu vereinfachen. Im ganzen, die Vernunft verarmte; die Vernunft verarmte Gott bis zur Indifferenz; töten wir die Vernunft; die Vernunft hat den gestaltlosen Tod produziert, wo es nichts mehr zu sehen gibt. Noch für Dante war der Tod ein Vorwand für Glanz, Farbe, Reichtum und Lust. Nehmen wir unsere Sinne, entreißen wir sie der Ruhe der Stupidität platonischer Ideen, beobachten wir den Moment, der viel eigenartiger ist als die Ruhe, weil er differenziert und charakteristisch ist, gar keine Einheit hat, sondern sich zwischen vorn und hinten restlos aufteilt.’ Der tote Böhm tanzte dankend auf Euphemias Hut und versank im Büfett; er legte sich wieder in eine seltsame Kognaksorte, die er von jeher geliebt.“ (22)

 

Immanuel Kant erkannte bereits,
daß der Wahnsinn keineswegs
aller Logik bar ist.

 

Vielmehr besitze er, so Kant in seiner „Anthropologie“ (Lehre vom Menschen), eine eigene, freilich höchst private Logik. Insbesondere in Gestalt der Manie demonstriere der Wahnsinn, dass er sich durchaus gewisser Methoden zu bedienen weiß. Vordergründig gebärde er sich in diesem Fall zwar als „ein willkürlicher Lauf“ des Gedankens. Aber dieser besitze erkennbar „seine eigene (subjektive) Regel“. Wahnsinn mit Methode also, jedoch mit einer, die, wie Kant sich beeilte hinzuzufügen, „den (objektiven), mit Erfahrungsgesetzen zusammenstimmenden, zuwider läuft“. In Einsteins „Bebuquin“  und anderen Werken der Moderne findet sich diese Einsicht ein ums andere Mal ironisch bestätigt. Zum Kalkül erhoben, entpuppt sich der literarische Wahnsinn als Sprengsatz, mit dem die auf dem Common sense beruhende Logik konventionellen Denkens außer Kraft gesetzt wird. Bei Carl Einstein ist der Wahnsinn – ohne viel metaphysischen Federlesens – dem Absoluten gleichgesetzt; er wird regelrecht mit Gott identifiziert, wohingegen die sich als göttlich aufspreizende Vernunft umgekehrt zu einem belanglosen Phantasma heruntergekommen ist.
Im Gegensatz zur akademisch sanktionierten Vernunft trägt die der ästhetischen Moderne keine Bedenken, die Rückversicherung aufzukündigen, die der Intellekt beim gesunden Menschenverstand sucht. Das im Alltag wie auch in den empirischen Disziplinen der Wissenschaft konstitutive Realitätsprinzip stellt für Kunst und Literatur nicht mehr als ein Sprungbrett dar, um mit ihren Erzeugnissen über die Wirklichkeit hinauszuschießen. Das Irreale wird als eine Realität anderer Art erkannt und affirmiert (bejaht), das Unmögliche für faszinierender befunden als das, was gewöhnlich oder normalerweise der Fall ist, das ganz und gar Besondere schließlich – das, was flüchtig und wechselhaft ist und deshalb als nebensächlich und belanglos gehandelt wird –, die chaotische Fülle des Augenblicks also, gerade sie wird, wie Einsteins Rede von der disparaten Gestalt des „Moments“ unterstreicht, in bestimmten Kreisen ungleich höher geschätzt als die absolute Sicherheit und Beständigkeit, die Philosophie mit ihren Prinzipien, Ideen und Gesetzen verspricht.
Rein ästhetisch stellt das kein größeres Problem dar. Heikel und prekär wird die Außerkraftsetzung einer transzendental verankerten und auf das Gemeinwohl eingeschworenen Identitätslogik erst in dem Moment, wo das von ihr befreite Denken in die moralisch-ethische oder kognitiv-wissenschaftliche Sphäre überspringt, um jenseits von Kunst und Literatur sein Existenzrecht zu behaupten. Dann tritt die Polizei auf den Plan, um dem Wahnsinn im Verein mit der Justiz und der Psychiatrie den Garaus zu machen – mit geringem Erfolg indes, wie die Geschichte zeigt. So haben insbesondere Psychologie und Psychiatrie, obgleich auf abnorme Fälle und auffällig gewordene Charaktere spezialisiert, bis heute kein Mittel gefunden, den Wahnsinn definitiv in seine Schranken zu verweisen. Weder ist es bislang gelungen, ihn als Geisteskrankheit medizinisch überzeugend zu analysieren, noch auch den Schmerz und das Leiden, das in seinem Gefolge auftritt, therapeutisch umfassend zu beheben. …

 

Autor: Wolfgang Lange


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