Ju Sobing: „Ohne Worte“, 1995
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der blaue reiter Ausgabe 10

 



Der Gott der Vernunft – ein vernünftiger Gott?
Für Walter Schulz zum 18.11. in Dankbarkeit


Die Berufung auf die Vernunft war spätestens seit der Aufklärung verbunden mit einem tiefen Zweifel an allen Glaubenswahrheiten. Glaubenswahrheiten müssen, wenn sie als Wahrheiten sollen gelten können, in Vernunftwahrheiten überführt werden. Dies gilt auch im Bezug auf die Aussagen über Gott. Nur die Gottesvorstellungen, die aus den Tiefen der Vernunft heraus mit vernünftigen Gründen und ohne vorgängige Belehrung durch den Glauben entwickelt werden, haben Bestand.
Die metaphysischen Ordnungsrahmen, in denen die Philosophie den Weg der Vernunft zu Gott nachgezeichnet hatte, sind zerfallen. Dort, wo Philosophie heute unter den Anspruch gestellt wird, die Wirklichkeit im ganzen zu umfassen und Einigkeit unter den Menschen herzustellen, scheint sie Tür an Tür mit Ideologien zu leben. Worauf es demgegenüber ankomme, seien intelligente Lösungen für Probleme, vor die uns das Leben in einer „offenen" Gesellschaft stellt. Das „Denken" wird dabei auf Strukturen im Gehirn zurückgeführt, die in den „Naturwissenschaften des Geistes" zum Gegenstand fachwissenschaftlicher Untersuchungen werden. In dieser zum Forschungsgegenstand reduzierten Form ist das Denken nicht länger eingebettet in den Prozeß der Selbstentfaltung der Vernunft; den Prozeß, in dem die Vernunft sich zum Subjekt der Wirklichkeit erhebt. Die Vernunft hatte sich darin als die Grundlegung des Denkens verstanden, als den genuinen Ort des Gegebenseins der Wirklichkeit. In diesem Selbstverständnis ist sie der Raum des In-Erscheinung-Tretens der Wirklichkeit; die sich im Denken realisierende Offenbarung. Mit diesem Anspruch ist sie schließlich in eine eigentümliche Beziehung zum Absoluten getreten.

 

1. Die Selbstentfaltung der Vernunft als Subjekt der Wirklichkeit


Der Ursprung der Auffassung vom Subjektsein (von lat.: subjectum: das Zugrundeliegende)
liegt in der Aufklärung. „Aufklärung", das war der Aufruf zur Vernunft: Wer aufgeklärt ist, denkt und handelt vernünftig. Vernünftig, lehrt die Aufklärung, ist nicht schlechterdings jedes Denken. Vernünftiges Denken zeichnet sich durch Selbständigkeit und Klarheit des Gedachten aus. „Aufklärung", heißt es bei K. F. Bahrdt, „besteht allein in einer gewissen Beschaffenheit der Erkenntnisse des Menschen ... Zur Aufklärung gehören also erstlich – deutliche und eigene Begriffe – zweitens eigene und gründliche Überzeugung" (Funke 1963, 96 f.). Ein vernünftiger Gedanke ist ein solcher, von dem man sich selber und andere mit Vernunftgründen überzeugen kann, der also jedem Zweifel standhält und somit klar (evident) ist. Zur Klarheit gelangt man jedoch nur durch deutliche (wohldefinierte) Begriffe; die unmittelbare Anschauung ist immer verworren. Im deutlichen Begriff wird der erfaßte Gegenstand nur dann zur klaren, adäquaten Gegebenheit gebracht, wenn das Denken – eigenständig – sich in einem Akt der Freiheit von überlieferten Annahmen und Vorurteilen löst.
Beide Charaktere des vernünftigen Denkens, die Klarheit sowohl als auch die Selbständigkeit, sind antitheologisch. Das Denken löst sich aus der Bevormundung durch eine theologisch interpretierte Offenbarung. Das autonom gewordene Denken gelangt aus eigener Kraft und nach eigenen Gesetzen zur adäquaten Gegebenheit des darin Erfaßten. Mit der Berufung auf die Vernunft wird also die Einheit von Autonomie und Sachhaltigkeit (realitas) des Denkens postuliert. Just diese Einheit ist das philosophische Problem, das im Denkraum der Aufklärung nicht mehr bearbeitet werden konnte. Descartes, für den die Autonomie des Denkens vorwiegend in der Mathematik bezeugt war, wußte bereits, daß die Exaktheit des formalen (rationalen) Denkens keine Gewähr für seine Sachhaltigkeit ist. Daher mußte er einen Denkinhalt, einen Begriff nachweisen, mit dessen Inhalt zugleich die Existenz des Gedachten verbürgt ist. Dieser Denkinhalt, der unter gar keinen Umständen auf äußere Einflüsse zurückzuführen ist, ist die Vorstellung Gottes, eines vollkommenen Wesens also, zu dessen Vollkommenheit die Existenz notwendig dazugehört. Nicht daß Gott damit bewiesen wäre, ist das philosophisch Entscheidende, sondern daß Gott, wenn er gedacht wird, als die Einheit von Denken und Sein gedacht werden muß. Daß für diese Einheit der Name Gottes eingesetzt wird, ist beinahe sekundär und gewiß auch eine Reverenz an die christliche Tradition. Sicher war jedoch, daß in und mit dem vernünftigen Denken etwas Absolutes, ein mit sich selbst Beginnendes, durch sich selbst Bestimmtes in unser Dasein einbricht.

 

Wer von Gott redet, redet von dem
leidenschaftlichen Ergriffensein der Vernunft.

 

Die Frage nach der Einheit und Zusammengehörigkeit von Autonomie und Sachhaltigkeit des Denkens wurde jedoch erst im Idealismus (siehe Kasten) eindringlich gestellt.
Der Idealismus setzt ein mit einer radikalen „Hinterfragung" dessen, was Denken „eigentlich"
ist, in philosophischer Hinsicht nämlich und nicht als psychisches Vermögen (das als solches genaugenommen ja auch schon ein Konstrukt des Denkens ist). Denken ist und vollendet sich, so der Ausgangspunkt des Idealismus, im Urteilen, in Aussagen. In Urteilen wird hervorgebracht, was der „Gegenstand" unbeschadet der Veränderungen seiner sinnlichen Gegebenheit ist. Darin wird herausgestellt, als was und wie der Gegenstand präsent, gegenwärtig ist. Präsenz, das ist die Gegebenheit des Gegenstandes ohne jede perspektivische, standpunktbezogene Verkürzung und ohne interessebedingte Beleuchtung. Es sind also nicht die Sinne, in denen die Dinge ursprünglich, in dem, was sie sind, gegeben sind, sondern das Denken.
Und nur insofern die Sinnlichkeit eine Erscheinungsweise des Begriffes ist, ist auch sie der Ort des Gegebenseins. Was sich wirklich und wahrhaftig in den Sinnen zeigt, muß durch das Urteil ins Freie gebracht werden. Die Form aber, in der das Urteil seinen Gegenstand zur adäquaten Selbstgegebenheit bringt, ist die Explikation, das heißt die Entfaltung des Begriffs: Durch die Urteilsformel Subjekt = Prädikat wird nämlich unterstellt, daß in den Prädikaten (Eigenschaftsbezeichnungen) nur entfaltet wird, was im Subjekt enthalten ist. So gesehen wird mit dem Urteilsschema ferner unterstellt, daß es Prädikate gibt, die dem Subjekt „wesensmäßig" zugehören und also nicht nur zufällig daran angetroffen werden. Damit liegt dem Urteil immer schon die Voraussetzung zugrunde, daß das im Subjekt Anvisierte vollkommen bestimmbar ist, daß es in den ihm zugehörigen Prädikaten zur vollständigen Präsenz gebracht werden kann. Dies ist jedoch nur unter der Voraussetzung möglich, daß es eine Ordnung des Prädizierens gibt, die jedem konkreten Urteil vorausgeht: ein innerer Zusammenhang der Auslegung (in Prädikate), in der die Wirklichkeit angeschnitten wird. Man hat die Richtungen, in denen die Wirklichkeit angeschnitten wird, Kategorien genannt. Diese innere Ordnung von Kategorien, die dem Denken als Bedingung seiner Möglichkeit zugrunde liegt, ist nicht selbst wieder bedingt. Der Idealismus sieht darin eine sich selbst entfaltende, sich selbst erzeugende Ordnung: die Vernunft. Die Ordnung der Kategorien ist die Form, in der die Vernunft sich selbst entfaltet und sich als das allem Denken zugrundeliegende Subjekt ergreift. Die Vernunft ist also nicht nur, wie bei Bahrdt, eine Beziehung des Menschen zu seinem Denken, sondern die allem Denken vorausgesetzte Selbstexplikation, in der die Vernunft sich in Kategorien auslegt, in denen sie die Wirklichkeit in einem inneren Zusammenhang anschneidet.

 

2. Die Vernunft – Bild des Absoluten

 

Nun ist die Vernunft zwar das absolute Subjekt und sie expliziert sich als solches (in der Ordnung der Kategorien), kann sich aber in dieser ihrer absoluten Subjektivität nicht mehr begreifen: Sie ist ja immer schon vorausgesetzt, wo sie zum Begreifen ansetzt. Sie ist das absolute Subjekt, ist sich aber, da der Ort allen Gegebenseins der Begriff ist, nicht selbst als das absolute Subjekt gegeben. Sie ist, was sie ist, nicht für sich selbst: Wo sie sich selbst zu begreifen versucht, gerät sie außer sich. Was sie außer sich selbst ist, ist ihre Absolutheit, ihre unvordenkliche Anfänglichkeit: Sie unterscheidet sich von dieser ihrer Unvordenklichkeit, auf die sie doch, als ihre eigene Absolutheit, bezogen bleibt. Das Medium, in dem Beziehen und Unterscheiden zusammenfallen, Beziehungs- und Unterscheidungsgrund nicht auf verschiedenen Ebenen (lat.: genus proximum und differentia specifica) liegen, ist das Bild. Das Bild erfaßt die „Sache" voll und ganz und, da es immer davon unterschieden bleibt, doch nicht als sie selbst. Die Vernunft begreift sich also nicht als das Absolute selbst, sondern nur als Bild des Absoluten. Die Vernunft bleibt somit mit allen ihren Leistungen auf eine unvordenkliche „Wirklichkeit" außer ihr bezogen. In dieser Beziehung ist die Vernunft jedoch nicht von außen bedingt, sondern der Bezug liegt in der Logik des Bildes begründet. Diese Wirklichkeit „gibt" es nur im, durch und für das Bildsein der unbedingten, sich aus jeder vorgängigen Bedingtheit des Denkens befreienden Vernunft. Anders als im und durch das Bild ist diese unvordenkliche Wirklichkeit nicht zu erfassen: Es gibt sie gleichsam nur als die im Bild repräsentierte; aber im und durch das Bild ist die Unvordenklichkeit der Wirklichkeit nicht an ihr selbst gegeben. Über die unvordenkliche Wirklichkeit läßt sich nichts sagen: Die Wirklichkeit, die uns gegeben ist, ist uns nur im Begriff gegeben, der im Urteil gebildet wird. Es gibt nichts ohne den Begriff, aber nichts kann voll und ganz in den Begriff aufgehoben werden. Der Begriff bleibt immer nur ein in seiner Vernünftigkeit begründeter Hinweis auf eine jenseitige Wirklichkeit. Darin liegt eine Selbstbegrenzung der Vernunft. Aus sich selbst heraus findet die Vernunft nämlich keine Gewähr dafür, daß ihren Bildern auch etwas in der Wirklichkeit entspricht. An dieser Frage muß die Vernunft an sich selber verzweifeln. Fichte, auf den die Lehre vom Bildsein der Vernunft zurückgeht, hat der Betroffenheit des Idealismus bewegten Ausdruck verliehen: „Ich weiss überall von keinem Seyn, und auch nicht von meinem eigenen ... Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach der Weise der Bilder ... Bilder, ohne Etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck ... Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, der da träumt ... das Denken, – die Quelle alles Seyns und aller Realität, die ich mir einbilde, meines Seyns, meiner Kraft, meiner Zwecke – ist der Traum von jenem Traume." (II 245)
Im Unterschied zu Hegel ist für Fichte (ähnliches gilt für Schelling) somit keineswegs ausgemacht, daß das Wirkliche vernünftig ist, wenngleich jede andere Annahme absurd wäre. Es kann allerdings nicht mehr vernünftig begründet werden, daß die Bildungen der Vernunft keine Chimären sind. Daß den Bildern der Vernunft etwas entspricht, daß es eine wirkliche Referenz der Bilder „gibt", muß daher geglaubt werden. Doch was rechtfertigt den Glauben und das Selbstvertrauen der Vernunft?
Die Vernunft ist nicht einfach nur Bild des Absoluten: Sie bestimmt sich selbst dazu und begreift sich als solches. Sie bestimmt sich unter dem Anspruch, absolut zu sein, als das mit sich selbst Beginnende. Da sie aber ihre Anfänglichkeit nicht mehr begrifflich einholen kann, kann sie sich nur als das Streben, sich selbst bestimmen zu wollen, bestimmen. Das Bildsein der Vernunft ist somit in dem Streben begründet, sich selbst in seiner Anfänglichkeit bestimmen zu wollen. Bild des Absoluten ist die Vernunft nun nicht in dem Sinne, daß sie sich ein Bild oder eine Vorstellung von Gott macht. Als Bild Gottes bringt die Vernunft eine sonst nicht vorhandene, gegebene Wirklichkeit ins Bild, macht sie dem vernünftigen Denken zugänglich. Sie erschließt die sonst verborgene Wirklichkeit. So gesehen ist die Vernunft, wie Fichte immer betont, der Standpunkt der Weltschöpfung. Damit ist nicht gemeint, daß die Vernunft die Dinge und ihre Konstellationen erschafft, ins Dasein ruft. Welt, das ist nicht der Kosmos, die natura naturans (lat.: hervorbringende Vernunft), sondern die für jedermann verbindliche, in sich zusammenhängende, weil vernünftig geordnete Wirklichkeit. In der so verstandenen Weltschöpfung ist die Vernunft in ihrem Bildsein zurückgebunden an das Absolute. Allein in dieser Rückbindung – re-ligio – ist die Vernunft sich selbst gegeben: Sie könnte nur um den Preis der Selbstaufgabe von ihr lassen. Nun ist diese vernünftig geordnete Welt nicht schlicht gegeben; gegeben ist sie vielmehr nur im Streben nach der umgreifenden vernünftigen Ordnung: als eine unendliche sittliche Aufgabe. Die Vernunft ist nur als Vernunftpraxis wirklich, eine Praxis, die herausfinden muß, was sie über die Wirklichkeit vermag. Die vernünftige Durchdringung der Wirklichkeit wird zwar vornehmlich in den Wissenschaften geleistet, weil ein vernünftiger Verkehr unter den Menschen vor allem im Medium des Wissens möglich wird; gleichwohl können die Wissenschaften nur in einer Gesellschaft gedeihen, deren Zusammenhalt vernünftig begründet und durch entsprechende Fassungen des Rechts, des Handels und der Politik geregelt ist.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Vernunftreligion dar als das leidenschaftliche Ergriffen- und Durchdrungensein von dieser sittlichen Aufgabe. Der darin erfahrene Gott ist ganz gewiß nicht der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs; aber auch nicht der Gott im „Meeresrauschen" der Spätromantik, wie er am schönsten von Runge beschrieben wurde: „Wenn der Himmel über mir von unzähligen Sternen wimmelt, der Wind saust durch den weiten Raum, die Woge bricht sich brausend in der weiten Nacht, über dem Walde rötet sich der Äther und die Sonne erleuchtet die Welt; das Tal dampft und ich werfe mich im Grase unter funkelnden Tautropfen hin, jedes Blatt und jeder Grashalm wimmelt von Leben, die Erde lebt und regt sich unter mir, alles tönt in einem Akkord zusammen, da jauchzet die Seele laut auf und fliegt umher in dem unermeßlichen Raum um mich, es ist kein unten und kein oben mehr, keine Zeit, kein Anfang und kein Ende, ich höre und fühle den lebendigen Odem Gottes, der die Welt hält und trägt, in dem alles lebt und wirkt; hier ist das Höchste, was wir ahnen – Gott." (I 9) Noch am ehesten ist der Gott der Vernunft der des Johannes-Evangeliums: der Logos (gr. hier: das „Wort Gottes"), der Fleisch geworden ist. Letztlich aber kann, wie Fichte immer wieder betont, über Gott nichts mehr ausgesagt werden: Eine philosophische Theologie scheint nicht mehr möglich zu sein. Wer von Gott redet, redet von dem leidenschaftlichen Ergriffensein der Vernunft. Und die Erfahrung Gottes darin ist das Erfülltsein von der sittlichen Aufgabe, die, und das ist das Entscheidende, ihren Lohn in sich selber hat. Die Vernunftpraxis, das ist das unendliche Streben des Zur-Welt-Bringens der Wirklichkeit, gewährt allein ein Leben in Übereinstimmung mit sich selbst, ein glückliches Leben, oder, wie Fichte sagt, ein „seliges Leben". Eine Berufungsinstanz ist der so erfahrene Gott freilich nicht. Der Gott der Vernunft ist kein vernünftiger Gott, der sich von sich aus in der Welt und als Welt offenbart. ...

 

Autor: Klaus Giel