Siegfried Reusch
Chefredakteur
Foto: Heinz Heiss



Editorial im Journal-Layout herunterladen

der blaue reiter Ausgabe 10

 



Götter


Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Ihr Gegenstand ist das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm, ihr Wesen weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Religion ist weder – wie die Metaphysik – ein Gemisch von Meinungen über das höchste Wesen oder die Welt noch eine Anzahl von Geboten für das menschliche Leben wie die Moral, schreibt Schleiermacher in seiner Schrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Wesen der Religion ist es, bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen stehen zu bleiben – von Ableitungen und Zusammenstellungen weiß sie nichts. „Alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen“ – das, so Schleiermacher, ist Religion.
Glaubenswahrheiten müssen jedoch, wenn sie Geltung beanspruchen, in Vernunftwahrheiten überführt werden, schreibt Klaus Giel unter dem Titel Der Gott der Vernunft – ein vernünftiger Gott? Bestand haben nur die Gottesvorstellungen, die aus den Tiefen der Vernunft heraus mit vernünftigen Gründen und ohne vorgängige Belehrung durch den Glauben entwickelt werden, denn, so Giel, „Welt, das ist nicht der Kosmos, sondern die für jedermann verbindliche, in sich zusammenhängende, weil vernünftig geordnete Wirklichkeit“. Dennoch wird die Vernunft nicht als das Absolute selbst begriffen, sondern als Bild des Absoluten aufgefaßt:

 

„Wer von Gott redet, spricht vom leidenschaftlichen Ergriffensein der Vernunft.“

 

Für F. H. Jacobi ist ein universaler Begründungsanspruch der Vernunft zurückzuweisen. Rationale Systeme seien zwar in sich schlüssig – da Gott in solchen Systemen jedoch als ein vom All unterschiedener Grund keinen Platz mehr hat, sind sie auch notwendig atheistisch. Aus diesem Grund – so zitiert Temilo von Zantwijk in seinem Beitrag Ist der Atheist ein Theist? Jacobi – ist es offensichtlich, „daß Gott sich dem Herzen kund thue und denen sich verberge, die ihn mit dem Verstande allein suchen“.
„Das Herz will etwas haben, woran es sich anklammern kann, einen unerschütterlichen Grund im Sturm des Lebens“ schreibt Philipp Mainländer in seiner Philosophie der Erlösung. Doch der Weltsinn, so Ulrich Horstmann im Essay Allmacht und Selbstverwüstung, wird in der Philosophie Mainländers auf ungewöhnliche Weise verankert: Das Göttliche verwirklicht sich in seiner Schöpfung nicht mehr, um in einem umfassenderen Sinne zu existieren und zum Guten sich zu wandeln, sondern gerade um sich zu entewigen, um sterben zu können – die Schöpfung ist der Selbstmord des Weltenschöpfers.
Die Rede vom „Tod Gottes“ war für Nietzsche Aufforderung an die Individuen, die Fesseln von Religion und Moral abzustreifen und sich selbst als Bestimmer des eigenen Schicksals zu begreifen. Aber woher soll ein Mensch die Kraft nehmen, die Ketten der Tradition abzustreifen und sich zum eigenen Gott zu erheben? Für Eugen Drewermann war Nietzsche ein genialer Diagnostiker – aber ein miserabler Arzt. „Ich glaube nicht“, so Drewermann im Interview, „daß Nietzsche viel darüber nachgedacht hat, wie die Katastrophen sich beschreiben, die dieses Losgekettetsein anrichten kann.“ Mit Bezug auf Kierkegaard folgert er: „Der Mensch, der sich selbst ergreift ohne Gott, wird an seiner eigenen Angst zugrunde gehen.“ Dies vor allem, weil wir Menschen die einzigen Kreaturen sind, „die nicht nur sterben müssen, sondern die mit dem Sterben leben müssen“.
Auch Hartmut Böhme sieht in einer solchen existenziellen Angst der Menschen das „Grund-Motiv“ aller Religionen. Mit Bezug auf die christliche Tradition schreibt er in seinem Beitrag Himmel und Hölle als Gefühlsräume: „Himmel und Hölle sind Medien, welche Gefühle ‚ins Licht’ und ‚in Erscheinung’ bringen, die zum Menschlichen gehören.“
Abbilder des Menschlichen sieht Reinhard Falter in den Göttern der Erfahrungsreligionen, die im Gegensatz zu den Offenbarungsreligionen keine Verkünder kennen. Götter sind für den erfahrungsreligiösen Menschen keine außerhalb der Erfahrungswelt agierenden Wesen, sondern „Benennungen der Grundcharaktere oder Grundgesten, die Natur und Menschenwelt, Landschaft und Seelenlandschaft miteinander verbinden“. Dionysos ist die Atmosphäre des rauschhaften Sichverlierens, Athene die der klaren Besinnung, Aphrodite der neue Glanz der Welt in den Augen des Verliebten. Von Göttern zu reden, schließt Falter seinen Beitrag Die Götter der Erfahrungsreligion neu verstehen, ist „eine wesentliche Erleichterung für sonst nur sehr indirekt und geschraubt ausdrückbare Zusammenhänge in der Naturphilosophie, aber auch der Psychologie“.
Eine über einen langen Zeitraum gewachsene Erfahrungsreligion war die ägyptische Religion der Pharaonenzeit. „Der Lauf von Kosmos und Welt war das Buch, aus dem man in Ägypten versucht hat zu lesen“, schreibt Wolfgang Wettengel unter dem Titel Zwischen Sonnenkult und Vielgötterei. Im voraus zum Scheitern verurteilt war der Versuch des „Ketzerkönigs“ Echnaton, der im 14. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung den Sonnengott Aton zum einzigen verehrungswürdigen Gott erhob. Damit wurde die Religion der komplexen Wirklichkeit und ihren verborgenen Prinzipien nicht mehr gerecht, die gemäß der Tradition unverzichtbare Aspekte eines großen Ganzen waren.
Mit ihrem „messianischen“ Zeitkonzept ist die jüdische Religion den Erfahrungsreligionen näher als das Christentum. Das Judentum, so schreibt Karlheinz Kleinbach in seinem Portrait des jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig, „lebt innerweltlich in der Gegenwärtigkeit. Liturgie und Ritus stehen nicht im Gegensatz zum alltäglichen Leben, sondern sind vielmehr dessen Existenzmodus.“ Mensch und Gott und Welt sind für Rosenzweig nicht zu verbindende Elemente. Nur in der Gemeinschaft, im Gespräch wird es möglich, das trennende „Und“ zu überbrücken.
Im Beitrag Arbeiten – um Gottes willen schildert Anthony J. Wilke die besonderen Gotteserfahrungen der vom Judentum zum Katholizismus konvertierten Philosophin Simone Weil. Bei den Mystikern, so Wilke, bedeutete das „Gottleiden“ nicht, daß man sich einredete, für Gott oder wegen Gott zu leiden. „Die Sache war in ihrem Grunde schlichter. Man ‚litt’ das Göttliche, … man ließ es zu, wenn und weil man ‚Platz machte’“, zum Beispiel bei der Arbeit. Hart arbeitende Menschen sieht Simone Weil, „auf der Spur“ des Göttlichen. Arbeit erachtet sie letztlich als eine Vorbereitung für eine eigentümliche „Aufmerksamkeit“ gegenüber der Welt – und für das „Schweigen“ mit der Welt.
Ein solches Erleiden des Schicksals, „die eitle Lüge: das Schlechte, das Leiden, das Grauen habe einen Sinn, sei es durch die irdische, sei es durch die himmlische Zukunft“, wäre nach Max Horkheimer Religion im schlechten Sinne. Religion im guten Sinne sah er im gegen die Wirklichkeit durchgehaltenen, immer noch nicht erstickten Impuls, „daß es anders werden soll, daß der Bann gebrochen wird und es sich zum Guten wendet“.
Während Horkheimer von der Religion anstelle einer Vertröstung auf ein „besseres“ Jenseits einen Anstoß zur Verbesserung des Diesseits einfordert, galt für Hegel, daß das, was wirklich ist, auch vernünftig sei und umgekehrt das Vernünftige wirklich. Dies, so Hegel, weil die Philosophie „das Ergründen des Vernünftigen ist, eben damit das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen“. Zweck der Philosophie ist es nach Hegel, so heißt es im Beitrag Gott denken, Religion verstehen von Carl-Friedrich Geyer, die Wahrheit zu erkennen, Gott zu erkennen, denn er ist die absolute Wahrheit; insofern ist nichts anderes der Mühe wert gegen Gott und seine Explikation“. Für Martin Heidegger hingegen zeugt die Philosophie der Antike, des Mittelalters und noch Hegels von dem Unvermögen, das Sein selbst zur Sprache zu bringen. Die Philosophie dementiere sich selbst in Gestalt der „Frage nach dem Göttlichen und dem Gott“ und wird: philosophische Theologie.

 

„Die Antwort auf die Frage, wie der Gott in die Philosophie geraten sei, könne daher nur lauten: aufgrund eines Mißverständnisses.“

 

schreibt Geyer mit Bezug auf Heidegger. Dem entgegen steht jedoch, so merkt er an, das Faktum der Präsenz Gottes im Diskurs. Sein Beitrag schließt mit dem Fazit: „Nicht eine bestimmte Religion ist wahr, sondern das Phänomen des Religiösen, das quasi-anthropologisch zur Ausstattung des Menschen zählt, unabdingbar im Arsenal der (kulturellen) Hilfsmittel, die das Leben erträglich zu gestalten und zu bestehen helfen.“ Wie auch immer:

 

„Es leuchtet ein, daß Gott eine Lösung war und daß man nie wieder eine ebenso befriedigende finden wird.“ (Cioran)

 

Die folgende Ausgabe des blauen reiters wird sich einem Götzen widmen, der nicht erst seit der Moderne angebetet wird, dem

Geld.

Erst die Erfindung des Geldes als eines abstrakten Tauschäquivalents für Waren und Dienstleistungen macht das möglich, was wir heute als Globalisierung bezeichnen. Doch mit dem Geld kam der Geldhandel, kamen Inflation und Wirtschaftskrisen. Gründe genug, die Frage zu stellen, ob Geld die Welt bereichert, beziehungsweise der Frage nach dem Geld philosophisch auf den Grund zu gehen.
War Geld ursprünglich als Edelmetallmünze noch ein Wert zu eigen, würde heute wohl keiner einen Pfifferling gegen die zumeist recht unästhetischen Scheckkarten eintauschen, wiewohl diese in virtueller Form enorme Werte repräsentieren können. Geld alleine macht nicht glücklich, weiß der Volksmund, doch macht Geld zwangsläufig unglücklich? Leichter Hand läßt sich fragen:

 

Wer kennt einen Millionär, der glücklich ist? Niemand? Das dachte ich mir! Wer kennt einen armen Tropf, der glücklich ist? Auch niemand?

 

Was macht den Wert einer Sache aus? Welche Konsequenzen hat die Entsinnlichung des Geldes? Woher kommt der Begriff des Eigentums, und was besagt der Terminus des Allgemeinguts? Wie kommt das Vertrauen ins Geld zustande, das Tausch gegen Geld erst möglich macht? Ist Geld ein Kommunikationsmedium? Was ist die Zukunft des Geldes?
Zu diesen und ähnlichen Fragen lesen Sie in der elften Ausgabe des blauen reiters unter anderem Beiträge von:

–  Hans Christoph Binswanger: Der Mythos von Erysichthon
–  Otto Peter Obermeier: Die Wiederentdeckung der praktischen Philosophie
–  Jochen Hörisch: Die Poesie des Geldes

sowie ein Portrait des Moralphilosophen und Ökonomen Adam Smith.

Die folgenden Ausgaben des blauen reiters beschäftigen sich mit den Themen: Ästhetik, Tod, Kommunikation und Gerechtigkeit.

Siegfried Reusch, Chefredakteur