der blaue reiter Ausgabe 3 > zurück zur Themenliste

 



Ethik ohne Zukunft? Zur Zukunft der Ethik


Der Blick in die Medien genügt: Da predigt ein Pfarrer eherne Werte und zieht sich abends widerliche Kinderpornos rein. Ist das christliche Moral? Da beruft sich der Abgeordnete auf sein Gewissen, während seine Aktivitäten schierem Bereicherungsaktivismus gleichen. Da infizieren Mediziner Patienten mit Syphilis und behandeln sie nur scheinbar, um endlich Studienobjekte für das Tertiärstadium dieser Krankheit zu haben. Ist das das Ethos der Wissenschaften? Da umarmen demokratische Politiker Diktatoren, deren Atem nach Massenmord, Folter und Brutalität stinkt. Ist es vielleicht doch korrekt, wenn Herbert Marcuse schreibt: „Nicht das Bild einer nackten Frau, die ihre Schamhaare entblößt, ist obszön, sondern das eines Generals in vollem Wichs, der seine in einem Aggressionskrieg verdienten Orden zur Schau stellt.“

1. Der Schatten der Ethik heißt Ohnmacht.

Ist Ethik also nicht mehr als eine intellektuell und argumentativ aufgeblasene Lusche, ein System aus vollmundigen Sprüchen, Sollensforderungen und Imperativen, eine Ansammlung schicker Tugenden, Werte, geschickter Rechtfertigungen, ein Instrument für Sonntagsreden und das Kleinvieh eines Volkes, während das Großvieh jenseits ethischer Forderungen operiert? Oder zeigt sich gar in dieser Kluft zwischen Sein und Sollen, zwischen Wirklichkeit und Anspruch, zwischen dem Reich des Faktischen und dem Reich des Gewünschten, das Spezifische jeder Ethik? Hat denn ein System, das Beurteilungen unserer Handlungen und Unterlassungen leisten und unseren Lebensvollzug, sprich Praxis, lenken soll, noch Zukunft, wenn es allenfalls zur intellektualistischen und populistischen Selbstbefriedigung taugt, aber sonst permanent und kläglich versagt?
Ethik hat es traditionellerweise mit der Auszeichnung von Handlungen und Unterlassungen mit gut oder böse zu tun, aber ganz offensichtlich juckt es die Wirklichkeit wenig, was Moralisten krähen. Müsste sich Ethik nicht auch schon längst mit dem, was wir Herstellen und Produzieren nennen, beschäftigen und nicht nur mit unseren Handlungen, wenn sich dieses Produzieren vehement in unser Handeln gedrängt hat?
All diese Beispiele und Fragen zeigen Eigentümlichkeiten jeder Ethik. Wir sind zwar eingekreist von Tausenden von Sollensforderungen, Pflichten, Imperativen, Geboten, Tugenden, Werten, aber trotz diesem Heer aus Appellen und Ansprüchen besteht die Freiheit und die Möglichkeit, all dies zu missachten. Das Prädikat „böse“ juckt mitunter weder die Mächtigen noch jene, in deren Herzen sich kein Gefühl der Verpflichtung gegenüber all diesen Sollensforderungen breitgemacht hat.
Ethik ist ein zahnloser Tiger, dem nur dann Zähne wachsen, wenn wir an ihre Aussagen glauben und danach handeln. Das Reich der Ethik ist nicht das der Fakten: Obgleich diese anders „laufen“, bleiben ethische Forderungen in Kraft. Der Satz: „Du sollst nicht töten“ beansprucht seine Gültigkeit auch dann noch, wenn permanent getötet wird. Hierin zeigt sich einesteils der „transfaktische Anspruch“ (transfaktisch = jenseits der Tatsachen) jeder Ethik, anderenteils ihre fundamentale Ohnmacht. Jede Ethik ist mit dieser Eigentümlichkeit belastet, es kommt nur darauf an, das Reich der Ohnmacht zu verkleinern. Der Schatten, der jede Ethik begleitet, heißt Ohnmacht.

2. Die Triebfeder lebendiger Ethik heißt Engagement der Gefühle.

Aber wie finden Werte, Tugenden und Trefflichkeiten, Sollensforderungen und Imperative Eingang in unser Gefühl? Die Philosophie wird erdrückt von mächtigen Traditionen. Vergegenwärtigen wir uns folgenden „fiktiven“ Fall. Der Immobilienmogul S. kauft ein Gebäude nach dem anderen. Natürlich benötigt er dazu Geld. Woher holen? Ganz klar, dort wo dieses wohnt, in den Geldhäusern, sprich Banken. Auch diese lassen sich ihre Ware zahlen. Der Hypotheken- und Zinsberg wächst, die Garantien, die für das Geldleihen gerade stehen, schmelzen. Aber die Herren Bankiers – die fetten Gewinne im, das Brett des guten Namens des Herrn S. vor dem Hirn – sind weiterhin spendierfreudig. Da erblüht in S. ein genialer Plan. Noch einmal richtig abkassieren, noch einmal ein paar hundert Millionen abzocken, dann raus aus der Höhle der Gläubiger.
Natürlich wusste S., dass er das geborgte Geld niemals mehr zurückzahlen kann, er arbeitete, wie Kant dies nennt, mit einem „lügenhaften Versprechen“. Er benutzte die Banken als bloßes Mittel. Aber bringt uns die überaus geistreiche Konstruktion des Satzes: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte“, wie dies Kant in seiner Metaphysik der Sitten formuliert, allzu viel moralische Klarheit? Bringt es viel, wenn ich den ganz banalen Egoismus des Herrn S. und die genauso banale Dummheit der Kreditgeber als Vertreter jener Institutionen, die S. erst dieses Handeln ermöglichten, mit einer Verallgemeinerungsformel und einem Widerspruchsfreiheitspostulat traktiere, das alles mit einem Vernunftbegriff garniere, der schon so konstruiert wurde, dass Allgemeinheit und Notwendigkeit seine spezifische Eigenheiten darstellen? Natürlich wäre es unerfreulich, wenn alle so handelten wie S., das Kreditgewerbe würde liquidiert, Versprechen wären sinnlos. Nur erreicht solch eine „logische Konstruktion“ die Herzen der Handelnden nicht, es sei denn, sie haben gerade Philosophie studiert und sind überdies noch in dem Fanclub der Kantianer. Ist es nicht so, dass der ganze Mensch aus Vernunft und Trieben besteht, und dass die Reduktion dessen, was sittlich ist, auf Vernunftgebrauch ein fundamentaler Missgriff ist?

 

Eine Ethik, die Zukunft haben will, hat sich
dem Sumpf, dem Abgrund, den Schatten der menschlichen Psyche zu stellen.

 

Eine Ethik, die Zukunft haben will – sieht man einmal davon ab, dass verbeamtete Philosophen gewissen Ethiken kraft Amts Zukunft sichern – diese Ethik hat sich dem Sumpf, dem Abgrund, den Schatten der menschlichen Psyche zu stellen und, was den Philosophen noch schwerer fällt, den Kampf mit den Zwängen und der Dynamik unserer großen Systeme, etwa der von Unternehmen, aufzunehmen. Letzteres würde natürlich bedeuten, bedingt Abschied zu nehmen von der Kunst wiederkäuender geschichtsphilosophischer Arbeit und Erkenntnisse der Soziologen, der Psychologen, der Organisationstheorie für diese Ethik der Zukunft fruchtbar zu machen.
Eine Ethik der Vernunft ist zu rein und die Wirklichkeit, die sie steuern soll, zu widerwärtig, um Zukunft zu haben. „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ in allen Ehren, aber vielleicht täte es der Abstieg in den Sumpf in mir auch und brächte überraschende ethische Einsichten. „Die Tugend in ihrer eigentlichen Gestalt erblicken, ist nichts anderes, als die Sittlichkeit von allen Vermischungen des Sinnlichen und allen unechten Schmuck des Lohns oder der Selbstliebe entkleidet darzustellen“, so Kant in der Metaphysik der Sitten. Aber wie sollen wir, bei soviel theoretischem Saubermachen, lernen, mit unserer Sinnlichkeit, mit dem schnöden weltlichen Mammon und dem banalen, aber überall anzutreffenden (ubiquitären) Egoismus umzugehen? Indem wir diese essentiellen Züge des Menschen wegdefinieren, auf dass sie uns stündlich von hinten anfallen? Wer sich zu schön ist, eine Schale voller Würmer anzuschauen, wird von ihnen zerfressen. Vernunft ist nur die halbe Wahrheit über den Menschen. Der Sumpf in ihm und der Terror von Staatsorganen über ihm wird um so virulenter, je mehr wir ihn verdrängen. Der Gerichtshof der reinen Vernunft, der Wille, der sich selbst das Gesetz gibt, der schlechterdings gute Wille, sie alle sind prächtige Kerle, aber sie haben den Ort, wo der eigentliche moralische Kampf stattfindet, nie gesehen. Der akademische Moralphilosoph Immanuel Kant stellt ein aufgemotztes, intellektualistisches Konstrukt vor unsere Haustüre, der triebgebeutelte Mensch soll sehen, wie er mit diesem Sack voll reiner Luft zurechtkommt.

3. Umgang mit dem Sumpf: Auskommen mit dem Bösen?

Wie sollten wir dann mit unseren Trieben umgehen, mit deren Heftigkeiten fertig werden? Es war kein Psychologe, kein Psychoanalytiker, der hierauf eine interessante Antwort gab, sondern ein gewisser Herr Nietzsche. Der Katalog an Methoden, den Nietzsche in der „Morgenröte“ zur Selbstüberwindung des eigenen und kollektiven Sumpfes präsentiert, liest sich wie die Offenbarung eines von Trieben Gepeinigten, der mit seinen Schatten nicht nur manchen Nahkampf ausgefochten hat, sondern weiß, dass man diesem inneren Sturm nicht „entgehen“, sondern nur damit „umgehen“ kann.

Nietzsches sechs Methoden im Umgang mit unseren Trieben lauten:

1. den Anlässen ausweichen,
2. Regeln in den Trieb hineinpflanzen,
3. Übersättigung und Ekel an dem Trieb erzeugen,
4. die Assoziation eines quälenden Gedankens zustande bringen,
5. die Dislokation der Kräfte,
6. die allgemeine Schwächung und Erschöpfung.

Es überrascht vielleicht, dass die „siebte“ Methode, die des fundamentalistischen Saubermanns, nicht zu finden ist, nämlich: „Rotte das Übel, das Böse, die widerlichen Triebe mit Stumpf und Stiel aus!“ Es mag sein, dass den fundamentalistischen, moralinsauren und sektiererischen Gruppen die Zukunft gehört. Die Blutspur, die diese Verbesserer der Menschheit hinterlassen haben und sicher noch hinterlassen, ist gewaltig, ebenso ihre Versprechungen.
Ob politisch in Form einer endlich gerechten Sozialordnung im Kommunismus, ob religiös in Form einer endlich wahren Gemeinde und Eliminierung der Ungläubigen, ob Freund und homogenes Volk und Liquidation des Andersartigen, des Heterogenen, ob Friede mit der Natur bei gleichzeitigem Zwang, diese auch töten zu müssen: Wer zuviel Sauberkeit will, der muss auch Triebe aus unseren Leibern reißen. Aber damit beginnt das Werk der absoluten Verstümmelung des Menschen, die Orgie der Perversionen…

Autor: Otto-Peter Obermeier


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