Siegfried Reusch
Chefredakteur
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der blaue reiter Ausgabe 6 > zurück zur Themenliste

 



Der Eros des Denkens


Die Frage nach dem Eros des Denkens stellt die Frage nach dem Urgrund der Philosophie. Warum setzt sich der Mensch denkend mit der Umwelt auseinander, und wie ist dieses Denken mit der Sinnlichkeit verbunden?
Bei Kant obliegt die Verknüpfung von Sinnlichkeit und Verstand der „Einbildungskraft“, die aber, so Jürgen Trabant, bei Kant „merkwürdig geheimnisvoll“ bleibt. Unter dem Titel Sprache zeugt Denken stellt Trabant Wilhelm von Humboldts Modell der „Synthesis“ vor, in dem Sinnlichkeit und Verstand als verfeinerte Formen des Weiblichen und des Männlichen vorgestellt werden, deren Vermählung den Gedanken erzeugt. Im Gegensatz zu den modernen Bestrebungen nach Schaffung einer europäischen (Esperanto) oder gar einer Weltsprache plädierte Humboldt für deren Vervielfältigung so sehr, „als es immer die Zahl der den Erdboden bewohnenden Menschen erlaubt.“ Auch wenn er in der Vielzahl und Verschiedenheit der Sprachen ein Hindernis des Verstehens zwischen den Menschen erblickte, so sind die Sprachen in ihrer Pluralität das Mittel, die Wahrheit zu entdecken. Die entdeckten Wahrheiten repräsentieren verschiedene Weltansichten, sind Wahrheiten verschiedener historischer Traditionen.
Zu einem ähnlichen Schluss kamen Edward Sapir und Lee Whorf: „Keine zwei Sprachen sind ähnlich genug, um anzunehmen, sie repräsentierten dieselbe Realität“. Im Beitrag Sprache, Denken, Wirklichkeit setzt sich Rüdiger Vaas kritisch mit dem Ergebnis ihrer Untersuchungen von verschiedenen Grammatiken indianischer Sprachen auseinander. Die Sprache, so Vaas, stellt nicht die alleinentscheidende Bedingung dar. Sprache, Denken und Weltbild sind keine autonomen, voneinander unabhängigen Größen, sondern Wechselwirken in verschlungener und komplexer Weise miteinander. „Eine Beeinflussung ist noch keine Determination.“
„Diejenigen, die an interkultureller Philosophie interessiert sind, sollten den Wunsch haben, auch in anderen Sprachen zu philosophieren, ganz besonders in Sprachen, die sehr verschieden von der eigenen sind“. Das ist die Forderung des afrikanischen Philosophen Kwasi Wiredu im Gespräch mit Kai Kresse im Rahmen der Reihe „Außereuropäische Philosophie“. Um gegen Descartes’ „cogito ergo sum“ (lat.: ich denke, also bin ich) zu argumentieren, genügt es nicht, nur zu sagen, den Begriff „sum gibt es in meiner Sprache nicht, und deshalb ist der Satz von Descartes Unsinn.“ Dass die Struktur der Sprache je verschiedene Weisen des Sprechens, Denkens und Argumentierens vorgibt, begreift Wiredu als Chance der gemeinsamen Weiterentwicklung.
Unter der Überschrift Jeder kann’s, aber keinen wundert’s geht Hubert Haider in Anbetracht der Tatsache, dass es den Sprachwissenschaftlern bisher noch für keine Sprache gelungen ist, deren Grammatik zu enträtseln, der Frage nach, wie es jedem Kind problemlos gelingt, eine Muttersprache zu erlernen. Dem Postulat der „eingeborenen Ideen“, der vorsprachlichen, vollständigen und diskreten Verfügbarkeit der Grammatik der Muttersprache, schließt sich die Suche nach einer Universalgrammatik an, die allen Sprachen zugrunde liegt.
Einen völlig anderen Lösungsansatz verfolgt Peter Lutzker im Artikel Der Sprachsinn. Ausgehend von Goethes Satz

 

„Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt“

 

zeichnet er den Steinerschen Versuch nach, Wahrnehmung und Verstehen von Sprache als spezifischen Sinnesprozess zu erklären: „Wie das Auge vom Licht abhängig ist, wenn es sich entwickeln soll, hängt die Tätigkeit und Organisation des Sprachsinns von der sensorischen Wechselwirkung des Erlebens von Sprache ab“, so Lutzker.
Eros war für Platon noch das Streben nach dem Guten, das sich außerhalb der menschlichen Sphäre befindet. Otto-Peter Obermeier konstatiert im Beitrag Homo medioideoticus, in dessen Mittelpunkt Marcuses Verbindung von Gesellschaftskritik mit Kritik an der Sprache steht, dass heute nur noch das als gut und begehrenswert empfunden wird, „was über die Maschinerie der Medien und der Reklame geadelt wurde … Was bleibt, ist eine Sprache, die nur Hinnahme, Akzeptanz, Befehl, Nachfolge, Verführung zum unkritischen Konsum von Gütern und Meinungen erzeugt.“
Im Aufsatz Eros und Metapher beschreibt Marie-Cécile Bertau den Kernpunkt der Erkenntnis als im Dialog – dem Geschehen zwischen Zweien – verborgen: „In der philosophischen Praxis des intensiven Redens trifft sich die Vorstellung vom Eros mit dem, was geschieht, wenn ein Sprecher Metaphern verwendet … Die Lust an der Erkenntnis wird getragen von der Lust, sich dem anderen mitzuteilen.“
Einen über die reine Mitteilung hinausgehenden Beweggrund des Denkens sieht Klaus Giel unter der Überschrift Heroische Leidenschaften „in einer Leidenschaft für das Bleibende im Vergänglichen. Im Ergriffenwerden durch die Leidenschaft werden wir fähig, uns aus den Verstrickungen in Traditionen und Dogmen zu lösen.“
Sprache ist als Eros des Denkens immer auch gerichtet auf das Ergreifenwollen des Eigenen im Anderen. Ursprung des Sprechens, mithin der Kommunikation, ist die Sehnsucht, der eigenen Verlorenheit im Ergreifen des Anderen zu entrinnen. Wenn jedoch das Denken als die Fähigkeit der Menschen definiert wird, „sich selbst Gesellschaft zu leisten“ (Hannah Arendt), so liegt es nahe, dem die Auto-Erotik des Schreibens als dessen Entäußerung entgegenzuhalten. Heinz Kimmerle stellt in seiner mit Die Auto-Erotik des Schreibens überschriebenen Arbeit über Denken und Schrift bei Derrida die erotische Komponente der Sprache heraus: „Die Auto-Erotik, das Berührend-Berührtwerden, ist einerseits der gesprochenen Sprache zuzuordnen, dem ‘Sich-Sprechen-hören’ … Andererseits gleicht die Masturbation der Schrift und wird wie diese als ein gefährliches und äußerliches Supplement erklärt.“
Es gibt allerdings Unaussprechliches, so Johann Kreuzer in seinem gleichnamigen Beitrag, „das sich zeigt und das Wittgenstein ‚das Mystische‘ nennt … Die dialektische Kunst besteht in der Gleichzeitigkeit von Reden und Schweigen … Die Kunst der Sprache darin, dass in ihr das, was sich nicht eigens sagen lässt, beredt wird.“
Insofern möchte man der These Martin Holochs in Von Büchern und Phantasmen widersprechen, der in Anlehnung an Borches alles bereits Gedachte, das zu Wissen gewordene, als in Bibliotheken archiviertes verortet. Mit dem Internet sieht er das Informationswesen an die Stelle des Bibliothekswesens treten. Nicht mehr die Wissensvermittlung steht im Mittelpunkt, sondern das immer effizientere Beschaffen von Informationen, „eben jener Vielzahl von Details, die in keinen Zusammenhang mehr zu bringen sind und bestenfalls zum Zeitvertreib, als Infotainment sich eignen.“
Ganz anders argumentiert Norbert Bolz im Essay Die Sinngesellschaft. Unter Verweis auf die Leibnizsche These, daß wir in der besten aller möglichen Welten leben, fragt er, warum es so unpopulär ist, unsere Welt als gelungen zu betrachten. Seine Antwort ist provozierend:

 

„Pessimismus ist Denkfaulheit!“

 

Waren für Kant Gedanken ohne Inhalt leer und Anschauungen ohne Begriffe blind, sehen wir uns heute angesichts der komplexen Leistungen moderner Großrechner genötigt, das menschliche Denken gegen die künstliche Intelligenz zu verteidigen. Während die kausale Abhängigkeit vom Gegenstand der Erkenntnis in Form einer physikalischen Repräsentation Mensch wie Computer zu eigen ist, so ermangelt letzteren doch, so Elmar Holenstein im Beitrag Intuition und maschinelles Wissen, ein grundlegender Bestandteil menschlicher Erkenntnis: der phänomenale Charakter des unmittelbaren Erlebens – die Intuition.
Sich wieder mehr mit den großen Fragen der Philosophie auseinanderzusetzen, ist die Forderung des Tübinger Philosophen Walter Schultz im Interview: „Alle diese Probleme, Leib-Seele, Ethik und Tod sind Fragen, die durchaus zu beachten sind. Es hat keinen Zweck, im philosophischen Sinne nur die Postmoderne zu verkünden, wonach alles ästhetisch sei und es ganz egal ist, was die einen oder die anderen denken.“
Den Versuch, eine solche Auseinandersetzung zu provozieren, unternimmt Christian Mürner mit seiner Streitschrift Die Schattenseite der Philosophie. Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben, und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, dass sie diese in ein System sperren – was nicht in das Ordnungsschema passt, wird ausgesondert. Mit einer Zitatenlese quer durch die Philosophiegeschichte sucht er zu belegen, zu welchen Grausamkeiten Philosophen in ihrem Streben nach der Vernunft gelangen, die es, so Seneca, gebietet, „vom Gesunden Untaugliches zu sondern … Missgeburten löschen wir aus, Kinder auch, wenn sie schwächlich und missgestaltet geboren wurden.“

Die Frage nach dem Staat und dessen Verfassung ist Thema der 7. Ausgabe des blauen reiters mit dem Titel:

Mythos Staat

Forderte Platon mit dem „Philosophenstaat“ noch die Herrschaft der Vernünftigen, verkommt die Frage nach dem Politischen in der „politischen Philosophie” vom ursprünglichen „Was ist der Mensch” zunehmend zu den Fragen der Politikwissenschaft nach dem „Wie” und „Warum” des menschlichen Handelns. Die einschlägigen philosophischen Lexika enden meist mit Marx oder Nietzsche. So steht in einem Handbuch philosophischer Grundbegriffe unter dem Stichwort Staat: „Eine philosophische Analyse des Staates ist heute nicht möglich … so sehr sind sowohl Gegenstand als auch Methode in Zweifel geraten.“
Im Spannungsfeld klassischer Staatstheoretiker und moderner Autoren wird die Frage zu beantworten sein, was wir meinen, wenn wir von Staat sprechen. Wie ist das Verhältnis von Nation und Staat? Gibt es ein gemeinschaftliches Zusammenleben außerhalb von Staaten? Wodurch ist ein Staat legitimiert, und wie lassen sich Recht und Herrschaft begründen? Gilt für die Verfassung eines Staates nur die Grundvoraussetzung von Stanislaw Lec, dass sie so beschaffen sein sollte, dass sie die Verfassung der Bürger nicht ruiniert, oder gibt es allgemein verbindliche Grundlagen, beispielsweise die Menschenrechte?

 

Siegfried Reusch, Chefredakteur


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