Jubiläum


25 Jahre „der blaue reiter“  

Burkhard Liebsch


Alles Wünschen wird, was die Philosophie angeht, wenig helfen, wenn zutrifft, was Paul Valéry ihren Vertretern vorgeworfen hat: Sie »verheimlichen uns die Philosophie in statu nascendi«, indem sie uns quasi fertig Vorgedachtes präsentieren, das scheinbar nur noch nachzuvollziehen ist. Philosophie im Prozess ihres Entstehens aber sei im Grunde das einzige, was ihn interessiere, nicht scheinbar endgültig Gedachtes, in dem die Bewegung des Denkens zum Ziel und zugleich zu ihrem Ende käme, nach dem sie sich wohl noch nachvollziehen, nicht aber wirklich um-denken und dadurch weiter-denken ließe. Besteht die nicht nur bei Hegel und seinen Bewunderern festzustellende Versuchung, das philosophische Denken zum Nach-Denken von abschließend Vorgedachtem zu zwingen, nach wie vor? Kann umgekehrt Philosophie im Entstehen, die über diesen Prozess nicht hinausgelangt und insofern einer Art Kindheit des Denkens gleichkommt, etwas anderes als bloß Vorläufiges, Unreifes und Unvollendetes sein? Oder kann und muss sie von Herausforderungen leben, die sich weder gegenwärtig noch auch zukünftig je in Antworten erschöpfen werden, nach denen man sucht? Wäre von philosophischen Antworten zu erwarten, die Genealogie ihrer Entstehung endgültig hinter sich zu lassen, so würden sie ihrem Sinn nach stets auf das Ende der Philosophie hinauslaufen. Zukunft hätte Philosophie bis auf weiteres nur aufgrund von mehr oder weniger unvorhergesehen Lücken und Mängeln, die man alsbald zu beheben versuchen würde, um nicht zu stagnieren oder im Kreise zu tappen und sich immer wieder die gleichen, vielfach uralten Fragen ergebnislos vorzulegen.
Demgegenüber handelt es sich bei einer immer wieder auf ihr Entstehen sich besinnenden Philosophie zunächst um gelebtes, rückhaltlos der Welt ausgesetztes Denken, das sich gerade in seinem Herausgefordert- und Überfordertsein durch andrängende Erfahrung inspiriert realisiert, die sich allerdings vielfach über das Erfahrene als solches nicht im Klaren ist. Nichts garantiert dabei von vornherein und im Allgemeinen, dass es gelingen könnte, sie zur »reinen Aussprache ihres Sinnes« zu bringen (worauf Edmund Husserl einst gesetzt hatte). Ist einer solchen ‒ phänomenologischen ‒ Version von Aufklärung noch über den Weg zu trauen? Sind nicht radikale Zweifler wie Georges-Arthur Goldschmidt, Maurice Blanchot oder Imre Kertész in diesem Punkt viel näher bei der Wahrheit, gerade weil sie ihr Scheitern zu erkennen geben?
Unverdrossen auf eine naive Version von Aufklärung zu setzen ‒ unbeschadet ihres unverzichtbaren politischen Sinns ‒, hieße das nicht, jene Kindheit des Denkens zu leugnen, die nur deshalb fortgesetzt ›zur Sprache kommt‹, weil sie nicht immer schon in ihr zuhause ist und nicht in ihr aufgehen kann? Diese Kindheit ist – wie auch die biografische ‒ nichts, was wir je ganz hinter uns lassen könnten. Daraus zu schließen, es könne sich nur um eine mangelhaft rationalisierte Kindlichkeit, um kaschierte Naivität oder gar nur darum handeln, auf pseudo-vernünftige Art und Weise ›das Kind zu geben‹, muss darauf hinauslaufen, die Quellen des Denkens, die es sich nicht selbst verdankt, gering zu schätzen und es auf diese Weise gewissermaßen in sich selbst einzuschließen. Aus diesen Quellen geht mit unaufhebbarer Ambivalenz überfordernd und inspirierend genau das hervor, was zu denken gibt, ohne je im Gedachten ganz gegenwärtig werden zu können. So gesehen entsteht Philosophie nicht nur einmal, um sich von ihren Anfängen restlos zu emanzipieren; vielmehr entsteht sie im besten Fall immer wieder neu, wenn sie ihre Begriffsmühlen anhält, wenn sie innehält und sich als Befremdlichem ausgesetzt realisiert, das womöglich anders zu denken gibt, ohne dass absehbar wäre, wie das Denken dieser Alterität gerecht werden sollte.
Ob sie in diesem Sinne als vorbildlich ›einladend‹ oder als gastlich gelten kann, statt nur endlose Kämpfe ums bessere Argument bzw. darum, wer ›Recht behält‹, nach sich zu ziehen, steht dahin. Zahllose Bücher und Zeitschriftenbände, die das versprechen, füllen die Bibliotheken. Unzählige Grundlegungen, Enzyklopädien und Systeme erwecken den Eindruck, sich der unabsehbaren Alterität künftigen Denkens nur gleichsam widerwillig öffnen zu wollen, so als ob von dieser eine tödliche Krankheit drohte. Dabei müssen sie sich dieser Alterität so oder so ausliefern oder anvertrauen – wie jedes weiter-gegebene Wort. Denn nur dank des Anders-Denkens, in dem das Denken sich gleichsam sich selbst widersetzt und dem man nicht vorgreifen kann, hat das Gesagte und das Geschriebene überhaupt Zukunft.
So gesehen ist es kein Manko, dass sich das zu denken Gegebene dort, wo nicht eine durch Formalisierung ihrer Fruchtbarkeit beraubte, sondern lebendige Sprache das Medium ist, niemals mit dem Gedachten und Gemeinten wird decken können. Das muss nicht als Defizienz des Denkens aufgefasst werden, denn vielleicht ist es ja gerade das Übermaß des zu Denkenden ›vor‹ und ›nach‹ dem Gesagten, was es gestattet, überhaupt etwas so zu denken zu geben, dass nicht bereits gebahnte und vorgedachte Denkwege noch einmal zu durchlaufen sind – wie es gelehrte Vor- und Meisterdenker von Platon und Aristoteles über Kant und Hegel bis hin zu Husserl und Heidegger nahegelegt haben. Mussten sie auf diese Weise nicht, gewollt oder ungewollt, das Ende ihrer Disziplin heraufbeschwören? Ist dieses Ende etwa bereits eingetreten? Wofür auch immer ihnen und anderen im Modus des Denkens Dank gebührt, Spätere können ihnen nichts zurückerstatten, sondern nur Gesagtes weitergeben, indem sie Anderen zu denken geben und dabei ins Unbekannte aufbrechen. So gibt man alles Geschriebene aus der Hand und schreibt es in den Wind. Daran können weder die Selbstgerechtigkeit des viel zitierten Rezensionsunwesens noch auch beträchtliche Drittmittel, weder mit Argumenten bewaffnete Polemiker noch eloquente, medial gewandte Disputanten etwas ändern, die am Ende nur jenes ›Recht‹ behalten, das sie vorher schon auf ihrer Seite wähnten. Was könnte den Sinn eines hospitablen Philosophierens mehr konterkarieren als gerade das? Und wo könnte eine dialogische Kommunikation, die ihren Namen verdient und die so manche Philosophie für sich gepachtet zu haben scheint, abwesender sein? Was sollte man einem philosophischen Journal mehr wünschen, als wenigstens diese Fragen im Blick zu behalten ‒ allen rhetorischen, publizistischen und ökonomischen Zwängen zum Trotz, die man sich selbst auferlegt. Angeblich sind ja die Zeiten längst vorbei, in denen Wünsche noch geholfen haben. Das bedeutet aber nicht, dass es für immer dabei bleiben muss.