Richard Reschika
Nietzsches Bestiarium



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Nietzsches Bestiarium

 




Ernste Bestie
„Der Intellect ist bei den Allermeisten eine schwerfällige, finstere und knarrende Maschine, welche übel in Gang zu bringen ist: sie nennen es ‚die Sache ernst nehmen‘, wenn sie mit dieser Maschine arbeiten und gut denken wollen – oh wie lästig muss ihnen das Gut-Denken sein! Die liebliche Bestie Mensch verliert jedesmal, wie es scheint, die gute Laune, wenn sie gut denkt; sie wird ‚ernst‘! Und ‚wo Lachen und Fröhlichkeit ist, da taugt das Denken Nichts‘: – so lautet das Vorurtheil dieser ernsten Bestie gegen alle ‚fröhliche Wissenschaft‘. – Wohlan! Zeigen wir, dass es ein Vorurtheil ist!“
Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. KSA 3, Seite 555
Abbildung: Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831)


Einleitung
Friedrich Nietzsche (1844–1900) definierte den Menschen in seinem philosophischen Œuvre wechselweise als „liebliche“, „traurige“ oder „wahnsinnige Bestie“, als Kreatur, die ihren „gesunden Thierverstand“ verloren hat, aber auch als das „unfestgestellte“, „undurchsichtige“, „phantastische Thier“, das erst noch über sich hinauswachsen müsse. Entsprechend seiner von Charles Darwin (1809–1882) übernommenen Grundüberzeugung ist der Mensch vor allem ein animalisches Wesen. Jeder Versuch, ihm einen anderen, höheren Ursprung zuschreiben zu wollen, ist pure Illusion, mitunter verhängnisvolle Hybris.

Die verhältnismäßig junge Geschichte des Menschen stellt für Nietzsche lediglich die Fortsetzung der weit in die Vergangenheit reichenden tierischen und pflanzlichen Evolution dar. Selbst die vielfältigen sozialen Konventionen des Menschen, einschließlich seiner viel gepriesenen „Humanität“, beruhen – dem tiefsinnigen Psychologen zufolge – bestenfalls auf „primitiven“, mehr oder weniger unbewussten Handlungsmustern. Analog den tierischen Instinkten handelt es sich bei dem „ganzen moralischen Phänomen“, seiner kulturell bedingten Genealogie, keineswegs um ein metaphysisches, sondern bloß um ein animalisches.

Es überrascht daher nicht, dass Nietzsches philosophisch-poetischer, dem rein abstrakten, begrifflichen Denken feindlicher Kosmos von einer Unzahl von Tieren bevölkert wird, die dem Menschen als natürlicher Spiegel seiner „Tugenden“ und „Laster“, ja sogar als echte Vor- und Leitbilder dienen sollen. In der Regel sind das Lebewesen mit hervorstechenden Fabelqualitäten, die primär auf menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen, auf Triebe und Triebkomplexe bezogen werden. Bemerkenswerterweise knüpft der Dichterphilosoph dabei jedoch nicht nur an die tradierte antike und christliche Tiersymbolik des Abendlandes an, wie sie vornehmlich in den so genannten Bestiarien, den mittelalterlichen allegorischen Tierbüchern, übermittelt wurde. Er nimmt vielmehr bewusst provokative Umwertungen vor, kreiert gleichsam seine eigene animalische Ikonografie, die – wie in der Kunstwissenschaft – zur notwendigen Voraussetzung sinngemäßen Erschließens wird.

Ein Streifzug durch Nietzsches originäres, sich wie ein roter Faden durch sein Gesamtwerk ziehendes Bestiarium führt mitten ins Herz seiner bahnbrechenden Philosophie, seiner scharfen Kultur- und Zivilisationskritik, die bis heute nichts an Brisanz eingebüßt hat.


Mensch und Tier: Eine spannungsreiche Beziehung im Wandel der Zeit

„Wir haben wohl manches vor dem Tiere voraus; aber es ist nichts im Tiere, was nicht auch in uns wäre.“ Es ist kein Zufall, dass man philosophische Erkenntnisse über die komplexe Beziehung zwischen Tier und Mensch – wie in diesem trefflichen Aphorismus von Ludwig Börne (1786–1837) – eher bei Literaten als bei erklärten Berufsdenkern findet. Denn während sich Dichter aller Zeiten und Länder im Allgemeinen intensiv mit dem rätselhaften Wesen der Tiere und deren heiklen, ambivalenten Verhältnis zu uns Menschen auseinander setzten, spielte die Beschäftigung mit der animalischen Welt zumindest unter abendländischen Philosophen und Theologen nur eine bescheidene Nebenrolle.

Der Unzahl von tiefgründigen Tiermythen, Fabeln und Märchen, aber auch einfühlsamen künstlerischen Tierdarstellungen von Malern und Bildhauern – man denke auch an die vieldeutigen antiken Mischwesen, etwa an den bocksbeinigen Gott Pan oder die Schar fischleibiger Meerwesen, an die kämpferischen Kentauren und rätselhaften Sphingen – steht auf rein theoretischem Gebiet in historischer Perspektive nichts Vergleichbares entgegen. Empathische, das heißt einfühlende Einsichten wie die folgende des Sprachforschers Jacob Grimm (1785–1863) wird man in der Geschichte der Philosophie kaum antreffen: „Es ist nicht bloß die äußere Menschenähnlichkeit der Thiere, der Glanz ihrer Augen, die Fülle und Schönheit ihrer Gliedmaßen, was uns anzieht, auch die Wahrnehmung ihrer mannigfachen Triebe, Kunstvermögen, Begehrungen, Leidenschaften und Schmerzen zwingt, in ihrem Innern ein Analogon von Seele anzuerkennen.“

In der Philosophiegeschichte wurde über Jahrtausende insbesondere der vermeintlich gewaltige Unterschied zwischen Mensch und Tier diskutiert und der Homo sapiens auf Kosten der Kreatur metaphysisch wie moralisch überhöht. Dies ungeachtet der großen kultischen Verehrung der Tiere als Erscheinungsformen des Göttlichen und als dem Menschen ebenbürtige „Mitgeschöpfe“ in fast allen archaischen Naturreligionen.

Waren die älteren griechischen Philosophen noch davon überzeugt, dass den Tieren ein dem Menschen ähnliches Seelenleben zukomme – nach Pythagoras (um 570–480 v. Chr.) können sogar Seelen von Menschen in Tiere und von Tieren in Menschen übergehen –, so schrieb Aristoteles (384/3–322/1 v. Chr.) den Tieren nur eine empfindende Seele zu, während er die denkende, vernünftige dem Menschen allein vorbehielt und ihn daher als „animal rationale“ bezeichnete. Ausgehend vom Merkmal der Rationalität wurde das Tier in der abendländischen Tradition bis in die Moderne fast durchgehend als vernunft- und sprachloses Wesen, als triebhaftes, stumpfes Geschöpf aufgefasst – kurzum als ein „animal brutum“, das als solches in seiner Entgegensetzung zum Menschen beziehungsweise auf Grund seiner vermeintlichen Wildheit „bestia“ genannt wurde.