Siegfried Reusch
Chefredakteur
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der blaue reiter 2. Sonderausgabe

 



Philosophie im Gespräch


Das Gespräch ist die Urszene der Philosophie. Auch wenn viele die Schrift für die größte Errungenschaft der Menschheit erachten, ist das Gespräch doch die unmittelbarste Möglichkeit des Zugangs zum Denken des Gegenübers. „Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht ändern kannst, so rate ich dir … mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen“, so Heinrich von Kleist in Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. In diesem Sinne schreibt auch Michel de Montaigne: „Das Gespräch ist, meiner Ansicht nach, die lohnendste und natürlichste Übung unseres Geistes: Keine andere Lebensbetätigung macht mir so viel Freude.“
Ein Leben ohne Gespräch mit anderen schien Sokrates, dem Altmeister des Dialogs, nicht lebenswert. Doch auch wenn vieles dafür spricht, dass tatsächlich ein Philosoph namens Sokrates, der sich gerne mit Freunden und Fremden in Gesprächen erging, im Athen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts lebte, diente dieser Platon vermutlich lediglich als Vorbild für seinen „literarischen“ Sokrates. Lässt der Sokrates von Platon, so Herbert Schnädelbach, in der Regel doch „seine Opfer in ironischer Verstellung als Nichtwisser und als Hebamme verkleidet Gedanken gebären; die Wehen sind endlos, und das Ergebnis ist in der Regel eine Fehlgeburt“. In der Tat missbraucht der literarische Sokrates seine Gesprächspartner eher dafür, ihnen sein Denken mittels ausgeklügelter Gesprächstechniken aufzuzwingen, denn dass er bereit wäre, selbst etwas von ihnen zu lernen. Er interessiert sich nicht für sein Gegenüber, hört nicht im eigentlichen Sinne zu, lässt kein „Dazwischen“, keinen Raum für Neues entstehen.
Was aber einen literarisch fixierten Dialog von einem philosophischen Gespräch unterscheidet, sind vor allem dessen unvoreingenommene, ungeschützte Spontaneität und das offene Ende. Philosophisch kann ein Gespräch nur dann genannt werden, wenn es ein Wechselspiel ist, wenn bei allen Beteiligten der Wunsch nach gegenseitigem Verstehen vorherrscht. Dabei lässt sich trefflich darüber streiten, ob sich im Gespräch so etwas wie verbindliche Wahrheit oder verbindliche Werte finden lassen, ob es möglich ist, Gespräche frei von Herrschafts- und Eigeninteressen zu führen, sprich ob so etwas wie ideale Kommunikationsgemeinschaften tatsächlich existieren oder theoretisch angenommen werden können. Auch ob Einigungen, die man in Gesprächen erzielt, ein Wahrheitsanspruch zugeschrieben werden kann und wenn ja, welchen Status solche sogenannten kommunikativen Wahrheiten haben, ist Gegenstand vieler Diskussionen. Unzweifelhaft ist jedoch, dass die Präsenz eines Gegenübers nur dann gewinnbringend ist, wenn man bereit ist, sich auf diesen auch einzulassen.
Dass das Zwiegespräch mit sich selbst, dass Selbsterforschung unabdingbar ist, wusste auch die platonsche Figur des Sokrates; doch was der literarische Sokrates nicht zu wissen scheint, ist, dass ein Gespräch etwas anderes ist als eine Belehrung. Ein philosophisches Gespräch kann man nur mit der Bereitschaft führen, sein Denken über sich und die Welt in der Denkwelt des Gegenübers sich bewähren zu lassen und gegebenenfalls auch seine Meinung zu ändern. Mithin ist ein Gespräch nichts anderes, als Interesse am anderen – aus Interesse an sich selbst. Die Welt des Menschen, als dem immer schon auf Gemeinschaft mit seinesgleichen verwiesenen Tier, dem Zoon politicon, wie Aristoteles es ausdrückt, ist immer eine mit anderen Menschen geteilte Welt, die sich zuallererst im Miteinander konstituiert: Mensch ist der Mensch nur da, wo er kommuniziert. Aber: Weder ist das Gespräch etwas vom Menschen Unabhängiges, noch sind wir ein Gespräch, wie es bei Hölderlin heißt, sondern wir als Menschen sind im Gespräch; und zwar in einem schon immer währenden Gespräch, von dem niemand sagen kann, wer und wann es begann, welche Richtung es nimmt und wann es enden wird. Ist und bleibt doch der einzelne Mensch, einem geflügelten Wort von Walter Schulz zufolge, sich und der Welt stets eine offene Frage, stellen sich die großen Fragen der Philosophie jedem Einzelnen doch stets in je neuen Lebensumständen aufs Neue.
Unerlässlich ist es bei all dem, die Balance zwischen Vernunft, Verstand und Gefühl zu wahren. Es darf eben nicht so sein, dass die Vernunft im Gespräch nur das begründet, was das Gefühl findet beziehungsweise der Verstand Gefühltes ignoriert. Auch wenn Naturwissenschaften ein tolles Instrument der vernünftigen Entzauberung der Welt sind, so Otto-Peter Obermeier im Interview unter dem Titel Die Wieder-Erotisierung der Wirklichkeit, sind sie aber auch ein Instrument, das uns in den Abgrund eines technologischen Gottes stürzen kann: „Die Herren Rationalisten wollen immer ein zwingendes Verfahren, sie müssen immer entlang eines verdammten Systems philosophieren. ,The most ingenious way of becoming foolish is by a system‘ sagt Shaftesbury, auf gut Deutsch: Der beste Weg zu verblöden – vornehmer: sich zum Narren zu machen –, ist durch ein System … Einerseits ist es ja nicht schlecht, wenn man jedes Phänomen daraufhin untersuchen kann, wie und aufgrund welcher Merkmale es in ein System einzuordnen ist. Aber wenn man nur in dieser Zwangsjacke steckt, dann ist das Denken tot. Deswegen ist mir die Sinnlichkeit so wichtig. Die Sinnlichkeit ist für mich die Quelle der Vielfalt.“ Wesentlich aber, so heißt es weiter, „sind nicht die intelligible oder die Sinnenwelt, wesentlich ist vielmehr das, was sich dazwischen abspielt … Wenn wir uns verstehen, wenn zwischen uns Sympathie besteht, dann verhalten wir uns anders, als wenn dies nicht so wäre … Es ärgert mich sehr, dass die Philosophen die dialogische Darstellung abgeschafft haben. Die ist viel schlauer als der jetzige wissenschaftliche Stil, weil man beim Dialog immer darauf achten muss, was ‚dazwischen‘ passiert, was tatsächlich gemeint und was nur Rhetorik ist.“ In der Tat evoziert und provoziert die Präsenz eines anderen, dessen Tonfall, Gestik und Mimik ein Denken, das sich in seinem direkten Welt- und Lebensbezug fundamental von dem unterscheidet, das seinen Weg im einsamen Dialog des Autors mit sich und dem unbeschriebenen Papier findet. Das Buch, so formuliert es der Schriftsteller Hans Urs Balthasar, „ist immer ein verhindertes Gespräch“.
Ein Beispiel für das „Dazwischen“ ist das Schöne, erläutert Obermeier im Interview. Mit Bezug auf Friedrich Schiller führt er aus: „Wenn man etwas Schönes anschaut, zum Beispiel in der Landschaft, dann merkt man, dass man zwischen irgendetwas schwebt und nicht nur sein eigenes Ego als Bezugspunkt hat; man spürt so etwas wie Selbstvergessenheit. Wenn das Dazwischen präsent ist, vergisst man die Bezugspunkte – die abendländische Philosophie hat so begonnen. Traumhaft-sein, grenzenloses Sich-verwundern-können: Das ist das Dazwischen … Der Gegenbegriff ist die Alienatio, die Entfremdung. Das heißt, dass man nur noch ein Relatum (ein Bezugspunkt) ist … Für mich ist ausreichend, wenn ich die verschiedenen Arten der Zerbrechlichkeit jeglichen Seins erkenne und erfühle … Wenn ich irgendetwas als schön empfinde, dann mache ich das nicht gleich kaputt, nur weil es mir scheinbar im Wege steht.“
Dass die im Gespräch begründete Lebenswelt immer nur eine Schnittmenge darstellt, macht den Reiz des Philosophierens aus – denn nichts ist langweiliger und sinnloser als ein Leben in einer einmal erkannten, absoluten Wahrheit. Selbst in den Naturwissenschaften, die vorgeben, sich nur mit dem Messbaren, dem Wirklichen zu beschäftigen, geht es, so Obermeier gegen den Wissenschaftstheoretiker Raimund Popper gerichtet, „primär nicht um Wahrheit, sondern um den materiellen, den operativen Nutzen: Schlägt das Antibiotikum an oder nicht? Ob die Theorie, warum es wirkt, wahr ist oder falsch, ist völlig egal.“ Mit dem Wahrheitsbegriff, so heißt es weiter, wird etwas suggeriert, das wir nicht erreichen können, er ist ein in hohem Maße ideologischer Machtbegriff: „Die Frage nach der Wahrheit ist der Sehnsucht nach Aussagen oder Weltbildern geschuldet, die alles richtig wiedergeben. So etwas gibt es aber nicht … Hätte zum Beispiel Fichte sich am Abend gemütlich zurückgelehnt und gesagt ‚Wenn ich den ganzen Tag die Welt erschaffe, dann muss ich sie am Abend wieder kaputt machen, damit ich sie mir morgen wieder neu erschaffen kann‘, wäre er auf ganz andere Ideen gekommen.“
Eindringlich verweist Obermeier auch auf eine Gefahr: „Mittels Differenzierungen in das Reich der Werte, das Reich der Sinne, das Reich des Verstands, das Reich der Vernunft und so weiter und so fort wird versucht, alles sauber einzuteilen. Aber der Mensch ist sozusagen ein Schmuddelkind … Eine zu genaue Analyse macht jedes Leben kaputt. Diese analytische Seuche kommt auch dort zum Ausbruch, wo der Mensch in ein empirisches (innerweltliches) und ein transzendentales (rein geistiges) Ich zerlegt wird. Da gewinnt man einen gespaltenen Affen, der nicht mehr zusammen kommt … Es gibt einen Unterschied zwischen einem System und einem Mosaik. Ein Mosaik glänzt in vielen Bereichen und kann ein Ganzes ergeben, muss es aber nicht. Die Frage ist, wie man die Vielfalt lieben lernt.“ Konsens, so formuliert es der Medienwissenschaftler Jochen Hörisch, ist gleichbedeutend mit Stillstand und Langeweile. Produktiv ist allein der Dissens. Damit ist jedoch kein Wettbewerb der Ideen oder Systeme gemeint, in dem am Schluss ein Sieger gekürt wird, sondern ein andauerndes Gespräch zwischen gleichberechtigten Menschen mit den unterschiedlichsten Weltanschauungen und Lebenserfahrungen.

In diesem Sinne sind die vorliegenden Interviews mit Prominenten und Philosophen ein Angebot, in die jeweilige Welt des Denkens einzutauchen. Otto-Peter Obermeier, Jan Philipp Reemtsma, Heribert Illig, Peter Heintel, Peter Sloterdijk, Walther Ch. Zimmerli, Alexander Dill, Jean Ziegler, Maxim Biller, Slavoj Zizek, Eugen Drewermann, Helmut Schmidt, Joachim Gauck, Edgar Reitz, Helmut Schieber, Andreas Michel – allen Gesprächspartnern gelingt das, was der Mitbegründer und Mitherausgeber des blauen reiters, Klaus Giel, von der Philosophie einfordert: Sie bringen Welt zur Sprache – und stellen ihre je eigene Weltsicht, mithin sich selbst zur Disposition.

Die vorliegende zweite Sonderausgabe des Journals für Philosophie der blaue reiter ist Prof. Dr. phil. Dr. med. vet. Dipl. soc. pol. Otto-Peter Obermeier, dem Mitbegründer und Mitherausgeber dieser Zeitschrift gewidmet. Ohne ihn hätte der blaue reiter nie das Licht der Welt erblickt. Redaktion und Mitherausgeber bedanken sich mit dieser Sonderausgabe für die anhaltende Unterstützung, für Anregungen, für Kritik und vor allem für die vielen, im besten Sinne des Wortes philosophischen Gespräche.

Dr. Siegfried Reusch, Chefredakteur