Antje Seemann: John Stuart Mill, 2015
Linolschnitt, 42 x 41 cm



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der blaue reiter Ausgabe 37

 



Der Moralphilosoph als öffentlicher Moralist

John Stuart Mill im Porträt

Gesellschaftlicher Fortschritt ist für John Stuart Mill vor allem moralischer Fortschritt. Das „Gute“ einer Handlung bemisst sich ihm zufolge nicht an abstrakten theoretischen Prinzipien. Vielmehr müssen Handlungen für den erfolgreichen Geschäftsmann und Ökonomen, der sich seinen Lebensunterhalt nicht an einer Universität verdient, auch im realen Leben bewertbar sein. Als Maßstab der moralischen Bewertung gilt ihm nicht ausschließlich ein rein quantitativ zu messendes größtmögliches Glück der größtmöglichen Anzahl von Menschen. Indem er auch die Befriedigung der höheren Fähigkeiten des Menschen anmahnt, stellt er dem Mehr oder Weniger an Glück, Lust, Freude und Wohlbefinden ein qualitatives Bewertungskriterium zur Seite und entgeht so dem Vorwurf, einer „Schweinephilosophie“ das Wort zu reden, die lediglich die Befriedigung biologischer Instinkte in den Mittelpunkt der Ethik rückt.

In der Geschichte der Ethik finden wir immer wieder Moralphilosophen, die sich gleichzeitig oder primär als Moralisten betätigten – als Denker, denen es über ihre akademische Arbeit hinaus darauf ankam, auf die Gesellschaft und den Geist ihrer Zeit einzuwirken. Zur moralischen Belehrung und Kultivierung ihres Publikums nutzten sie in der Regel die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der medialen Verbreitung ihrer Lehren, die Kritik an moralisch als bedenklich oder verurteilenswert erscheinenden Praktiken und Institutionen und, soweit erreichbar, die Beratung von Machthabern und Gesetzgebern – Vorformen dessen, was wir heute Politikberatung nennen. John Stuart Mill, am 20. Mai 1806 als ältestes von neun Geschwistern in Pentonville (London) geboren, ordnet sich zwanglos in diese – von Platon bis Jürgen Habermas reichende – Tradition des philosophischen Moralismus ein. Man kann sogar noch weiter gehen und behaupten, dass ihm darin eine Sonderstellung zukommt. Denn Mill verstand sich von Anfang bis zu Ende seiner Karriere nicht primär als Gelehrter, der sich beiläufig auch einmal an ein größeres Publikum wendet. Vielmehr verstand er sich durchweg als öffentlicher Denker und Aufklärer, dessen Anliegen es war, zum „Fortschritt der Gesellschaft“ beizutragen. Diesen Fortschritt verstand er wesentlich als moralischen Fortschritt, auch wenn die Kritik, die er an der Gesellschaft seiner Zeit übt, auf den ersten Blick auf rein ökonomische oder organisatorische Verbesserungen zu zielen scheint. Zu den Zielscheiben seiner Kritik gehören unter anderem tragende Institutionen des viktorianischen Englands: der Mill zufolge übermächtige politische Einfluss des Großgrundbesitzes, den er durch eine Reform des Erbrechts aufgelöst sehen will; die ausbeuterischen Be­ziehungen zwischen Kapitalbesitzern und Arbeitern im Zuge der industriellen Revolution, an deren Stelle er genossenschaftliche und kooperative Formen der Produktion setzen will; die politischen Privilegien der anglikanischen Kirche, insbesondere im Bildungssystem; die politische und ökonomische Ungleich­behandlung der Geschlechter; und nicht zuletzt die engherzige Sexualmoral seiner, der bürgerlichen Gesellschaftsschicht, mit der er selbst als langjähriger Partner einer verheirateten Frau, Harriet Taylor, in Konflikt kam.

 

   Tugend kostet Opfer.

 

Mill war ein unbeirrbarer öffentlicher Moralisierer, auch auf das Risiko hin, sich damit lächerlich zu machen, und er nutzte dafür alle ihm verfügbaren Chancen, seine Botschaft „unters Volk zu bringen“. In seiner Autobiografie bemerkt er – ganz ohne Ironie –, dass er keine Gelegenheit ausgelassen habe, seine Auffassungen zu verbreiten. Einige Jahre war er sogar selbst Herausgeber und Besitzer einer Zeitschrift, in der er selbst veröffentlichte, der von Jeremy Bentham gegründeten und bis 1914 weitergeführten Westminster Review, dem politischen Organ der sogenannten Radicals, der Vorgänger der heutigen Labour Party. Mill unternahm auch ganz konkrete Schritte, seine Philosophie zu popularisieren. 1865 veranstaltete er eine preiswerte Volksausgabe der wichtigsten seiner Schriften, damit sie für die Leser in der arbeitenden Klasse erschwinglich wurden: die Grundsätze der politischen Ökonomie, die Schrift über Freiheit und die zur Repräsentativen Regierung. Durch den Verzicht auf die Hälfte des Autorenhonorars ermöglichte er es dem Verleger, den Preis so weit zu senken, dass die für die Grundsätze berechnete Auflage von 10000 Exemplaren nach kurzer Zeit verkauft war. In England dienten die Grundsätze über Jahrzehnte als Lehrbuch für Studenten der Volkswirtschaftslehre, aber ihre Popularität verdankten sie insbesondere ihrer auch für den Laien verständlichen Darstellungsart und ihren sozialpolitischen Reformideen, etwa im Erb- und Steuerrecht.
Noch in einer anderen Hinsicht kommt John Stuart Mill eine Sonderstellung in der Tradition der philosophischen Moralisten zu: Er war einer der wenigen Philosophen, die als Politiker agierten – zumindest für eine Legislaturperiode. Mill wurde 1865 von der liberalen Partei als Unterhauskandidat für Westminster aufgestellt und bekam die Mehrheit der Stimmen. 1868 wurde er erneut aufgestellt, unterlag aber dem Kandidaten der Konservativen.
Als Member of Parliament beteiligte sich Mill an einer großen Zahl von Debatten, wobei er ganz über­wiegend Positionen vertrat, die aus heutiger Sicht „progressiv“ anmuten: neben der Ausdehnung des Wahlrechts auf die gesamte Arbeiterklasse sowie auf die Frauen unter anderem eine radikale – unter den damaligen Verhältnissen allerdings als gänzlich inakzeptabel geltende – Reform der Irland-Politik, durch welche die irischen Pächter zu dauerhaften Besitzern ihres Grund und Bodens gemacht werden sollten. Im Übrigen fiel Mill seinen Kollegen im Unterhaus nicht nur dadurch auf, dass er stets nur für sich selbst sprach und sich an keine Fraktionsdisziplin gebunden fühlte, sondern auch durch übermäßige Intelligenz. Der Ausspruch eines Parlamentskollegen ist überliefert: „The hon-member for Westminster is a great deal too clever for us in this House.“ („Der Kollege Abgeordnete für Westminster ist für uns hier erheblich zu klug.“)
Es war ein historischer Glücksfall, dass Mill in eben derjenigen Legislaturperiode Abgeordneter war, in der mit dem zweiten Reform Act eine grundlegende Novellierung des Wahlrechts anstand. 1867 wurde das Wahlrecht auf alle männlichen Haushaltsvorstände ausgedehnt, sodass nunmehr von fünf Millionen erwachsenen Männern in England und Wales zwei statt wie zuvor nur eine Million wahlberechtigt waren. Die Debatte um das Wahlrecht verschaffte Mill die Gelegenheit, seine unkonventionellen Auffassungen zur Gleichberechtigung der Geschlechter vorzutragen. Mit seinen Reden für das Frauenwahlrecht vermochte er immerhin einen Achtungserfolg zu erringen, indem er bei der Abstimmung ein Drittel der Stimmen der anwesenden Unterhausmitglieder auf sich vereinte. Das allgemeine Wahlrecht für Frauen über 21 Jahre wurde in Großbritannien erst 1928 eingeführt.

Mills Utilitarismus

Getragen war Mills Engagement als Publizist und Politiker von seiner spezifischen Version einer utilitaristischen Ethik, das heißt einer nicht anhand abstrakter moralischer Prinzipien, sondern an den Folgen von Handlungen wertenden Ethik. Diese Version baute auf der von seinem Vater James Mill und dessen Freund Jeremy Bentham vertretenen Fassung auf, unterschied sich aber von der „klassischen“ Form in einigen bezeichnenden Hinsichten. Ein erster Punkt, in dem Mill von der „reinen Lehre“ abwich, war seine bedeutend weniger dogmatische Auffassung von der Begründbarkeit des utilitaristischen Grundprinzips des „größten Glücks der größten Zahl“. Die klassische Form des Utilitarismus war durch zwei Grundprinzipien cha­rakterisiert: dass sich die moralische Richtigkeit einer Handlung an den wahrscheinlichen Folgen dieser Handlung bemisst, wobei neben den beabsichtigten Folgen auch die indirekten und Nebenfolgen zu berücksichtigen sind; und dass der Maßstab der Beurteilung der Handlungsfolgen ausschließlich im Glück und Unglück, in Lust (pleasure) und Unlust (pain) der von der Handlung voraussichtlich Betroffenen besteht. Eine Handlung ist nach den utilitaristischen Kriterien dann moralisch richtig, wenn sie unter allen mög­lichen Handlungen diejenige ist, die für die Betroffenen zusammengenommen das größte Übergewicht an Glücksfolgen über Unglücksfolgen erwarten lässt. …

Autor: Dieter Birnbacher