Manfred Mahsberg: Henri Bergson, 2011;
Holz, Nessel, Ölfarbe; je 7,5 x 7,5 cm



Leseprobe im Journal-Layout herunterladen

der blaue reiter Ausgabe 31

 



Wider den Augenblick!

Henri Bergsons Suche nach dem letzten Grund des Bewusstseins

Ein Professor der höchsten Bildungsanstalt seines Landes, der den gesunden Menschen-verstand als Ausgangspunkt des Philosophierens ernst nahm. Ein Analytiker des alltäglichen Weltzugangs, der gegen die Denktraditionen des Abendlands den Vorwurf erhob, spekulative Probleme mit den unzureichenden Kategorien der Umgangssprache formulieren und lösen zu wollen. Ein Metaphysiker, der sich so intensiv in die exakten Wissenschaften seiner Zeit eingearbeitet hatte, dass seine Bücher von bedeutenden Naturforschern ausgiebig diskutiert wurden. Ein Verfasser detailliert argumentierender Texte, deren eleganter Stil voller prägnanter Metaphern aus geistigen Expeditionen philosophische Bestseller machte. Ein Nobelpreisträger für Literatur, der keinen Roman, kein Drama und kein Gedicht veröffentlicht hat, dessen Wirkung auf die moderne Kunst jedoch häufig die Auseinandersetzung mit seiner Theorie motiviert. Ein Musterbild des gelehrten Lebens, das aufgrund seiner inneren Folgerichtigkeit schnell vergessen lässt, wie eng es mit der Weltpolitik verknüpft gewesen ist.

Diese spannungsreichen Eigenschaften kennzeichnen einen Denker: den französischen Philosophen Henri Bergson. Ihren inneren Zusammenhang versteht, wer Bergsons Leben und Werk am Leitfaden der Frage nach der Zeit durchdenkt.
Alles, was existiert, ist zeitlich: Das gilt gemäß Bergson nicht nur für die sinnlich wahrnehm-baren Gegenstände der materiellen Welt, die Natur, sondern auch für die Welt des Geistigen. Es wäre ungenau zu sagen, dass Gedanken und Körper in der Zeit existieren – eine solche Formulierung ließe die Möglichkeit offen, dass ein Seiendes in seinem Wesen durch Verweis auf etwas Überzeitliches bestimmt werden müsste (beispielsweise die Uhr, die ich gerade sehe, durch die platonische Idee der Uhr, an die ich mich soeben erinnere – siehe Erläuterung). Vielmehr behauptet Bergson: Gedanken und Körper sind Zeit. Zwischen ihnen gibt es nur Unterschiede in der Weise, wie sie Zeit sind. Das muss allerdings unverständlich bleiben, wenn der Augenblick als zeitliches Grundelement gilt. Zeit jedoch, so Bergson, ist nicht aus Augenblicken zusammengesetzt, Zeit ist Dauer.

I. 1859 als Sohn jüdischer Eltern (eines polnischstämmigen Komponisten und einer englischen Arzttochter) in Paris geboren, lebt und wirkt Bergson in einer Zeit radikaler Modernisierung. Bis zur Jahrhundertwende durchläuft er einen Bildungs- und Forschungsweg, der ihn zuerst als Studenten, dann – nach dem üblichen Umweg über Gymnasien der Provinz und in Paris – als Professor an die Elitehochschule Frankreichs, die École normale supérieure, führt. Seine beiden Dissertationsschriften, der 1889 erschienene Essai sur les données immédiates de la conscience (Zeit und Freiheit) und eine auf Latein verfasste Analyse von Aristoteles’ Theorie des Orts, werden nur von Fachkollegen wahrgenommen. Bergsons Auseinandersetzung mit dem Leib-Seele-Problem (siehe Erläuterung) in der 1896 veröffentlichten Schrift Matière et mémoire (Materie und Gedächtnis) stößt auf ein großes, aber überaus geteiltes Echo, das zu einer ersten heftigen Kontroverse über Bergsons neuartige Philosophie führt.
Es wirkt nachträglich geradezu übertrieben symbolisch, dass Bergson 1900 – zur Hälfte seines Lebens – als Professor in das Collège de France gewählt wird: bezeichnenderweise erst für antike, vier Jahre später dann doch für zeitgenössische Philosophie. Mit seinen dort gehaltenen Vorlesungen beginnt er, das intellektuelle und mondäne Paris zu erobern. Aufsätze wie Introduction à la métaphysique (Einführung in die Metaphysik, 1903) und das Werk L’Évolution créatrice (Schöpferische Entwicklung, 1907) führen schließlich dazu, dass Bergsons Name auf der ganzen Welt für die Bezeichnung einer geistigen Bewegung verwendet wird, die weit über die Grenzen der akademischen Philosophie hinaus wirkt: le bergsonisme.
Warum wurde Bergson zum Modephilosophen der späten belle époque (wörtlich: schöne Epoche. Die für das Bürgertum „schöne Zeit“ von zirka 1884 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs)? Immer noch kann sein Denken eine starke Anziehungskraft ausüben, weil er, ausgehend von der eindringlichen Beschreibung des individuellen Erlebens, versucht, dessen überindividuellen Ursprung so prägnant, wie es mit sprachlichen Mitteln nur geht, zur Anschauung zu bringen. Die Suche nach diesem letzten Grund des eigenen Bewusstseins muss gemäß Bergson von traditionellen Bestimmungen des Absoluten Abschied nehmen. Trotz aller Streitigkeiten zwischen den philosophischen Hauptströmungen ist diesen gemeinsam, dass sie sich zu sehr an jene Kategorien halten, mittels derer die Umgangssprache den gesunden Menschenverstand (sens commun) ausdrückt. Da dieser aus dem Grundproblem des Lebens entspringt, zweckgerichtete Handlungen zu planen und durchzuführen, überträgt jede Philosophie, die sich an das alltägliche Welt- und Selbstverständnis hält, das Begriffsinstrumentarium des praktischen Denkens ungerechtfertigt auf den Bereich des im ursprünglichen Sinne theoretischen, also anschauenden Denkens. Insofern der Mensch als ein Organismus analysiert wird, dem es um sein eigenes Wohlergehen zu tun ist, gibt es keinen strengeren Pragmatiker als Bergson; zugleich ist er aber der schärfste Kritiker eines naiven Pragmatismus (siehe Erläuterung), der die Wahrheit einer Weltanschauung mit deren Nutzen für ihre Anhänger identifiziert, ohne sich um den metaphysischen Hintergrund (siehe Erläuterung) einer solchen Gleichsetzung zu kümmern.
Exemplarisch zeigt Bergson in Matière et mémoire die Grenzen traditioneller Philosophien am Leib-Seele-Problem auf: Wie kann die Selbsterfahrung des Menschen als eines geistigen und körperlichen Wesens auf den Begriff gebracht werden? Bergson kritisiert die allzu bekannten Auseinandersetzungen zwischen monistischen und dualistischen Antwortstrategien: Der Mensch ist weder ein rein geistiges noch ein rein materielles Wesen (Monismus), und er ist auch nicht auf eine mysteriöse Weise aus Geist und Körper zusammengesetzt (Dualismus). Bergson hält die traditionellen Definitionen dessen, was Geist und Körper seien, für ungeeignet, um zu einer befriedigenden Bestimmung ihrer Identität oder Differenz zu gelangen. Warum? Bergsons Antwort hierauf klingt zuerst abseitig; in ihr liegt aber das wahrhaft Neue seines Denkens.

 

Es gibt keinen Moment, der soeben noch nicht war, jetzt ist und gleich nicht mehr sein wird.

 

II. Für Bergson hat die traditionelle Metaphysik, da sie sich zu sehr auf den gesunden Menschenverstand verlassen hat, nichts anderes als verräumlichende Bestimmungen eigentlich zeitlicher Beziehungen hervorgebracht. Auch die Wissenschaften entgehen diesem Verdikt nicht, weil sie letztlich nur den gesunden Menschenverstand kontrolliert auf Fragen anwenden, die sich ein biologisches Wesen angesichts seiner Umwelt stellt, um zu überleben. Das gilt selbst für solche wissenschaftlichen Revolutionen wie die durch Einsteins Relativitätstheorie im physikalischen Verständnis von Raum und Zeit ausgelöste. Deren Kritik in Bergsons Durée et simultanéité (Dauer und Gleichzeitigkeit, 1922) hat eine bis heute andauernde Diskussion um die wissenschaftliche Relevanz dieses Werks ausgelöst.
Wie interpretieren der gesunde Menschenverstand und die Wissenschaft laut Bergson die Erfahrung von Zeit? Beim Schreiben dieses Textes am Computer spüre ich, wie meine Finger die Tastatur vor mir berühren, und ich sehe dies auch nebenbei. Je konzentrierter ich am Text arbeite, desto stärker werde ich diese Wahrnehmungen ausblenden – ich schreibe dann gleichsam blind und mit tauben Fingern. Die Formulierung von Sätzen in meinem Bewusstsein, das Niederschreiben dieser Sätze am Rechner, ihre Lektüre auf dem Display erfahre ich als einen umfassenden und kontinuierlichen Prozess, in dem ein mir äußerlicher Gegenstand (der Computer), mein Körper und mein Geist harmonisch zusammenarbeiten. Doch ich weiß, dass ich, wenn ich einen anderen Satz formuliert hätte, auch andere Tasten niedergedrückt haben könnte; ja, ich hätte bei jedem einzelnen Buchstaben andere Entscheidungen treffen können. Je weiter ich diese Analyse meines Handelns treibe, desto stärker wird es in eine immer feiner unterteilte Reihe von Momenten zerfallen, an denen mir verschiedene Entschlüsse und Bewegungen möglich gewesen wären. Ist die Erfahrung, die mich und die Welt umfasst, wenn ich am Computer schreibe, dann nicht in Wirklichkeit das Resultat einer Zusammensetzung solcher Augenblicke der Wahl in meinem Geiste? Wäre das der Fall, existierte vor dem zeitlichen Ablauf meiner Handlungen bereits ein Raum, in dem sich der Computer befände und sich mein Körper bewegen könnte; die Elemente dieses Raums wären Orte, an denen in einem unteilbar kleinen Zeitpunkt Entscheidungen darüber stattfänden, wo ein sich dort gerade befindlicher Körper im nächsten Augenblick sein würde. ...

Autor: Stefan Artmann