der blaue reiter, Ausgabe 36
ISBN: 978-3-933722-42-3
€ 16,90 (D, unverb. Preisempf.)



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der blaue reiter Ausgabe 36

 



Luxus

20 Jahre der blaue reiter – 20 Jahre Luxus des Denkens

Die philosophische Frage nach Luxus ist keine Erfindung unserer modernen Überflussgesellschaft. Schon in der Antike setzte Diogenes von Sinope mit seinem asketischen Lebenswandel ein großes Fragezeichen hinter den Genuss des nicht unmittelbar zum Überleben Notwendigen: Hauste der Philosoph doch fast nackt in einem Fass auf dem Marktplatz und pflegte, um sein Essgeschirr zu sparen, seinen erbettelten Linsenbrei aus einem aufgebrochenen Brot zu essen. Dem entgegen steht die These, dass es gerade das Streben nach Luxus sei, das die Menschen zu ihren zivilisatorischen Anstrengungen motiviere und vom Müßiggang abhalte. In der Tat steht außer Frage, dass die dem Luxus frönenden Athener dem kulturellen Erbe Bedeutenderes hinzugefügt haben als die asketisch lebenden Spartaner. Wer wollte auch vordergründig nicht dem Überleben dienende Prunkbauten wie den Petersdom, das Taj Mahal und die Hagia Sophia abreißen lassen oder überflüssige Vergnügen wie Musik, bildende Kunst und Philosophie verbieten wollen? Ist Luxus vielleicht gar kein überflüssiger, sondern vielmehr ein wesentlicher Teil jeglicher Zivilisation?

Aus dem Inhalt:

thema


Diderots Hausrock
oder: 20 Jahre der blaue reiter – 20 Jahre Luxus des Denkens

Seit der französischen Aufklärung wird Luxus mit verschwenderischem Prunk Weniger auf Kosten Vieler gleichgesetzt. Doch neben dem Luxus zu Zwecken der Repräsentation von Staat und Kirche sowie der Protzsucht mancher (Neu-)Reicher gibt es auch eine Geste der Verschwendung, die Unersetzliches, die Schönheit hervorbringt.
Autor: Siegfried Reusch

Die Vorzüge eines ländlichen Lebens
Jean-Jacques Rousseaus Kampf gegen das luxuriöse Stadtleben

Der schöne Schein der Künste und der Kultur ist der Vorhang vor einer Welt des Verrats. Reiche wie Arme sind gleichermaßen in einer Gesellschaft des Reichtums und des luxuriösen Überflusses gefangen. Das ungleiche Eigentum hat zum lasterhaften Luxus geführt, welcher der Freiheit des einzelnen schadet, so Jean-Jacques Rousseau. Nur durch ehrliche Arbeit und demütige Bedürfnisentfaltung können die Grundlagen für eine gerechte und freie Gesellschaft geschaffen werden.
Autor: Alfred Hirsch

„Existenz ist Genuss“
Wider die Hoffnung auf Weltaneignung durch „grobe“ Emanzipation der Sinnlichkeit

Die Askese der Selbstoptimierung lockt mit dem Versprechen, ein glücklicheres Leben führen zu können. Dabei wird Wirklichkeit auf ihre Genusskompatibilität hin untersucht und entsprechend reduziert. Der sich optimierende Mensch wird solchermaßen zum systemkompatiblen Modell degradiert, Wirklichkeit und Genuss werden in das Medium ihrer Darstellung verlagert. Anstelle einer „Weltaneignung durch die Sinne“ tritt die „Weltaneignung durch Begriffe“.
Autor: Jean-Pierre Wils

Die Wiederverzauberung der Warenwelt
Das System des Konsumismus

Die Kosmetik der Existenz durch Konsum wird um so wichtiger, je mehr die religiösen Grundlagen der Kultur unglaubwürdig werden und je mehr der Unwille wächst, das Privatleben allgemeinen Gesetzen zu unterwerfen. Was Not tut, wenn der Glaube schwindet, ist Stil, das heißt der Entwurf einer Ethik als Ästhetik der Existenz. Im System des Konsumismus erfahren die Wünsche der Kunden Anerkennung vor allem in Produkten mit spirituellem Mehrwert. Die aus dem Himmel der Religionen verdrängten Götter kehren so als Idole des Markts, als Marken, wieder.
Autor: Norbert Bolz

Jachten für Flüchtlinge
Über Luxus, Reichtum und Gerechtigkeit

Für die meisten Menschen bemisst sich Luxus weder in spirituellen Werten (Erkenntnis) noch in selbstbestimmter Zeit (Zeitwohlstand). Der dominante Maßstab ist ein materieller. Rechtfertigungsversuche des Luxus sind zumeist nur subjektiv motivierte Verteidigungsmanöver gegen Umverteilungsansprüche, die zwei Fragen offen lassen: Hilft der Genuss von Luxusgütern auf der Suche nach dem gelingenden Leben und wie gerecht ist die Verteilung? Denn: Reich wird man nicht durch eigene Arbeit, sondern dadurch, dass man andere für sich arbeiten lässt.
Autor: Fritz Reheis

Luxus und Zivilisation
Eine Polemik wider den asketischen Furor

Als Verkörperung des Überflüssigen und Unnützen, als Symptom der Dekadenz und sichtbarer Ausdruck der Klassenherrschaft scheint der Luxus ein zivilisationsfeindliches Element par excellence zu sein. Entsprechend umgibt sich der asketische Furor häufig mit dem Mäntelchen der Moral. Aber: Askese ist Ausdruck eines antizivilisatorischen Impulses und Luxus ein wesentlicher Teil unserer Zivilisation. Aufklärung heißt nämlich nicht Befreiung der Zivilisation von luxuriösen Annehmlichkeiten, sondern Befreiung von ideologischen Scheuklappen.
Autor: Robert Zimmer

„Spätrömische Dekadenz“
Über Gelage, Orgien und andere Ausschweifungen

Als Guido Westerwelle die Erhöhung von Sozialhilfesätzen als Einladung zu „spätrömischer Dekadenz“ geißelte, wurden Salongemälde des 19. Jahrhunderts vor manch innerem Auge lebendig: Feste prunksüchtiger Kaiser, lorbeergekränzte Lebemänner auf Lotterbetten, die sich von leichtgeschürzten Sklavinnen unterhalten lassen, und mancherlei andere Ausschweifungen. Ist die Antike solchermaßen das abschreckende Bild einer Luxusgesellschaft oder Projektionsfläche für Wunschträume?
Autor: Frank T. Zumbach
> Anmerkungen zu den zitierten Texten

Kann der Luxus „in“ sein?
Geschmack und Vergänglichkeit in Mode und Gesellschaft

Mode bietet eine Referenz in einer Welt, in der sich alles verändert, außer der Tatsache, dass alles sich ändert. Sie macht die Grundparadoxie der Gesellschaft produktiv: sich selbst im Bezug auf andere zu finden. Entsprechend besteht der größte Genuss des Luxus darin, beim Genießen beobachtet zu werden. Mode ist aber nicht unbedingt Luxus und Luxus ist fast nie modisch, oft ist er als Kitsch und Protz sogar die Negation der Mode.
Autorin: Elena Esposito

Das eierlegende Wollschwein und der Pfau
Nützlichkeit versus Selbstdarstellung in der Natur

Herrscht in der Natur ein strenges Regime der Not, das Sparsamkeit und beständige Anpassung erfordert oder dominiert eine opulente Fülle von Gestalten, Formen und Farben? Aus der Selbstdarstellung von Pflanzen und Tieren lassen sich Kennzeichen des Lebens ableiten, so Adolf Portmann, denn Natur ist bestimmt durch überschießende Produktivität und eine jenseits aller Nützlichkeit stehende Gestaltungsfreude.
Autoren: Kristian Köchy, Martin Böhnert

Vom überflüssigen Luxus der Arbeit
Hannah Arendts vita activa

In der Antike war Arbeit Sache der Sklaven. Wer etwas auf sich hielt, lebte als Müßiggänger und widmete sich bestenfalls den schönen Künsten. Mit Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert rückte die Erwerbsarbeit immer mehr in den Lebensmittelpunkt. Doch unserer sich im Dauerwettbewerb befindenden Leistungsgesellschaft, die bei weitem mehr produziert als sie sinnvollerweise konsumieren kann, scheint die Arbeit auszugehen. Arbeit zu haben ist in Umkehrung zur Antike heute Luxus; arbeitslos zu sein, gilt weithin als soziales Stigma.
Autorin: Annette Vowinckel

Japonia luxurians
Zwischen reichhaltiger Oberfläche und bedeutungsvoller Schlichtheit

Wer Japan aus den reichlich vorhandenen Büchern und Bildbänden kennt, die seine „Kultur der Stille“ präsentieren, wird es kaum für ein Land halten, in dem die Ästhetik des Luxus zuhause ist. Doch der Sinn für das Schlichte wie jener für das luxuriös Überschießende sind in der japanischen Kultur schon lange verankert.
Autoren: Raji C. Steineck, Tomoe Steineck


umfrage
Was ist Luxus?
Mit dem Mikrofon unterwegs waren Schüler der 10. Klasse der Helene-Lange-Schule in Hannover unter Leitung von Elena Kuss und Stefan Helge Kern.
Dokumentation dieses Schülerprojekts: > Videodatei / > mp3-Audio-Datei


kolumne
Das Notwendige und das Überflüssige
Askese ist kein Ausweg

Es ist die zur außerehelichen Liebe freigesetzte Frau, die zu ihrer Selbstbestätigung und der ihrer Liebhaber den Luxus erfindet. Sie führt die Menschheit damit nicht nur auf den Weg wachsender sinnlicher Verfeinerung, sondern zugleich auf den konträr, nämlich profit- und effizienzorientierten des Kapitalismus. Nur dieser ist in der Lage, die gewünschten Waren bereitzustellen. Die Kultur des Sinnlichen als Treibstoff für die Erzeugung des rationalistischen Profitbetriebs ist eine Paradoxie von weltgeschichtlicher Dimension.
Autor: Friedrich Dieckmann


interview
mit Wolfgang Joop
Luxus ist das Gefühl der Freiheit

Luxus ist für mich immer das, was knapp ist, ein Gegenstand der Sehnsucht, vielleicht sogar eine Fata Morgana. Auf jeden Fall bezeichnet Luxus eher eine Befindlichkeit als eine Ware. Denn je näher man dem „Luxus“ kommt, umso selbstverständlicher wird er und je selbstverständlicher er ist, umso weniger ist er da. Das ist ähnlich wie mit der Freiheit. Dadurch, dass ich das Privileg habe, mir teure Dinge leisten zu können, bin ich von diesen Produkten auch gefangen genommen. Das heißt, meine Freiheit schwindet. Meine Freiheit dann wiederzuerlangen, empfinde ich als Luxus.


essay
Die Diktatoren des guten Geschmacks
Auf der Flucht vor der Banalität der modernen Welt

Wer ist dieser Mann, der ein parfümiertes Taschentuch gegen seine Nase presst, da es ihm schwer fällt, die Ausdünstungen seiner Mitmenschen zu ertragen? Wenn er das Teatro Piccolomini besucht, um der barocken Kammermusik von Alessandro Scarlatti zu lauschen, hat er eine dreihundert Jahre alte Partitur aus Pergament auf seinem Schoß. Er schätzt die weißen Trüffel von Vera dal 1926 in der Via San Jacopo und die Mandelseife aus der Farmacia di Santa Maria Novella. Dr. Hannibal Lecter, Hannibal the Cannibal – ein Dandy wie er im Buche steht.
Autor: Ruben Zacharias


lexikon
Diät
Autorin: Lisa Schmalzried

Duck, Dagobert
Autorin:
Jutta Heinz

Shopping
Autorin:
Jutta Heinz

Wachstum
Autor:
Klaus Kufeld


unterhaltung
Bücherrätsel
Autor: Stefan Baur

Haben Sie Probleme philosophischer Art? Dr. B. Reiter sorgt für Aufklärung!
Autor: Dr. B. Reiter
Dr. B. Reiter beantwortet Ihre Fragen auch auf seiner > Facebook-Seite.

Luxus ist geil!
Während der Normalbürger meint vom Asylbewerber zu wissen, von wessen Geld er lebt („Von meinem Geld!“), will er vom üppig Lebenden vor allem wissen, wie der so im Luxus lebt („Guck dir das mal an!“). Den Luxus-Menschen verachtet er auch, jedoch heimlich. Sein Neid möchte die gefühlte eigene Benachteiligung für alle.
Autor: Stefan Reusch


porträt
Die regulierte Lasterhaftigkeit
Bernard de Mandeville im Porträt

Mandeville hat einen festen Platz in der „hall of shame“ der Philosophie. Seinen Ruhm als Gesellschaftsverderber verdankt er seiner Bienenfabel, mit der er Luxus und Laster zu rechtfertigen sucht, denn das Verbot von Überflusskonsum führe zu Massenarbeitslosigkeit. Wer war der Autor, den die Heerschar von Gutmenschen geifernd und beschimpfend umkreiste wie Motten das Licht, jener „Gentleman“, welcher als erster „für die öffentliche Tolerierung der Laster“ schrieb?
Autor: Otto-Peter Obermeier