Martin Schmidl: Michel de Montaigne, 2012



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der blaue reiter Ausgabe 32

 



„Weil er er war, weil ich ich war“

Freundschaft über den Tod hinaus: Michel de Montaigne

Montaigne lebte und schrieb im 16. Jahrhundert in Frankreich, das damals Schauplatz fanatischer Religionskriege war. Inmitten von Verblendung und mörderischem Hass machte er die Ausnahme des Philosophen. Und dies tat er auf seine eigene, ganz neue Art: unbekümmert um System und Methode, sozusagen aufs Geratewohl. Was er ins Spiel zu bringen und schonungslos offen in Worte zu fassen hatte, das war er selbst in seiner ganzen Ungewissheit und Fraglichkeit.

Michel de Montaigne wollte versuchen, sich auf die Spur zu kommen und Ansätze zur Selbstportraitierung zu gewinnen. Und eben bei diesem Versuch sich zu zeichnen gelangte er mehr und mehr zur Beschreibung der menschlichen Natur, der condicio humana, überhaupt. Es entstanden ihm unter den Händen Essais, ein Buch, das er machte und das ihn machte: zum Autor, zum Denker, zum kundigen Vermittler in den menschlichen Angelegenheiten. So wurde er zum Ahnherrn der französischen Moralisten, zum Begründer eines Typs aphoristisch-essayistischen Philosophierens, das bis hin zu Nietzsche und weiter wirkt.
Die Achtsamkeit gegenüber dem Menschlichen steht dabei im Mittelpunkt aufgrund des Erlebnisses einer Freundschaft. Der junge Michel de Montaigne, graduierter Jurist, Politiker, Bürgermeistersohn, war sie eingegangen mit Étienne de la Boétie, einem um drei Jahre älteren Parlamentskollegen. Er hatte ihn bereits aus dessen Schriften als gebildeten und mutig um Freiheit kämpfenden Autor schätzen gelernt. Diese Freundschaft sah er als die leidenschaftliche Erfahrung seines Lebens an. Sie galt ihm als einzigartig, unvergleichlich, unbegründbar. Überlegte er, wie es dazu kam, wie sie bestehen konnte, so erkannte er: „Weil er er war, weil ich ich war.“ Diese Formel trug er in die Essais ein, in das achtundzwanzigste Kapitel des ersten Buches. Über die Freundschaft ist ein denkwürdiger Text, der sich an die antike Freundschaftsethik anschließt und in diesem Rahmen einzuordnen und zu verstehen sucht, was aber doch ganz außerordentlich und eigentlich ein in Ehren zu haltendes Geheimnis war: eine Fügung, ein Wunder, ein tiefes spirituelles Ereignis. Es war dies umso mehr, als Étienne, der Freund, nach wenigen Jahren starb. Das bestürzende Erlebnis dieses Sterbens und die abrupt beendete, unersetzliche Freundschaft brachten Montaigne zum Denken. Zunächst berichtete und reflektierte er in einem ausführlichen Brief an seinen verehrten und geliebten Vater. Und dann in den Essais. Sie sind überhaupt als Gedenken an den verstorbenen Freund zu verstehen, als dankbare Fortführung und Erneuerung des freundschaftlichen Dialogs, einschließlich der unabweislichen Todesthematik. Sie sind ein einziges Zeugnis jenes „Pathos der Vermissung“, dem alle bleibende Philosophie, Religion und Kunst entspringt. Das Leben ging dennoch weiter. Ehe, Vaterschaft, Gutsherrschaft, Publikation, Politik, all das nahm Montaigne in der Folge bereitwillig auf sich. Er war der äl?teste Sohn, und inzwischen war auch der Vater gestorben. Dann allerdings kam es zu einer Lebenswende. Der 38-Jährige zog sich in einen Turm seines Anwesens zurück, wo er fortan mehr mit Büchern als mit Freunden und Frauen Umgang hatte. Er wollte nachdenken, studieren, schreiben. Was er trainierte, begann als ein Tasten und entfaltete sich als ein umsichtiges Erproben der Urteilskraft in den menschlichen Dingen. Schreiben und Reflektieren individualisierten sich immer mehr. Selbstbewusstsein bildete sich. Man hat von einer „Entdeckung des Ich“ gesprochen, auch wenn es wenig von einem auftrumpfenden „Ich denke, ich bin“ an sich hatte. Montaigne übte Zurückhaltung. Skepsis schien ihm angebracht, die Unabgeschlossenheit des Fragens. „Was weiß ich?“ So notierte er. Das war nun die Maxime. Ihr entsprach sein Erwägen, seine Kunst des Mutmaßens.
Als er die Essais 1580 in zwei Bänden veröffentlichte, hatte er sogleich Erfolg. Nun konnte er den Turm verlassen und aufbrechen zu einer großen Reise. Sie dauerte eineinhalb Jahre und führte durch Süddeutschland, die Schweiz, Tirol und Italien. Ausgiebigster Aufenthalt wurde Rom, wo dem königlichen Ordensritter aus der Gascogne nach einer Privataudienz beim Papst das ersehnte Bürgerrecht der Ewigen Stadt verliehen wurde. Unterwegs führte er Tagebuch. Es sollte erst spät wiederentdeckt und noch später, jüngst erst, adäquat publiziert werden. Seither dient es den Essais zur Ergänzung. Noch auf der Reise ließ Montaigne, der menschen- und weltkundige Autor, sich erneut in die Pflicht nehmen, als Politiker, als Regent, als Bürgermeister von Bordeaux. Gleichzeitig arbeitete er weiter an seinen Essais. Ein dritter und letzter Band entstand. Er gilt als der bedeutendste. Mit den Überarbeitungen der beiden ersten Bände zusammen erschien er 1588, und zwar jetzt in der Hauptstadt Paris. Der 55-jährige renommierte Verfasser der Essais erlebte nochmals eine bedeutende Begegnung: mit Marie de Gournay. Sie war eine junge Verehrerin und sie wurde zu seiner geliebten Wahltochter. Später sollte sie sich als engagierte Nachlassbetreuerin und kompetente Herausgeberin bewähren. Darüber hinaus wurde sie freilich selber Autorin, und zwar als eine entschiedene frühe Vertreterin der Gender-Debatte und des Feminismus. Im Jahr 1592, in dem sechzigsten seines Lebens, starb Michel de Montaigne. Er wurde in der Klosterkirche der Feuillantiner in Bordeaux beigesetzt. Seit seinem vierhundertsten Geburtstag im Jahr 1933 ist in Paris, gegenüber der Hauptfront der Sorbonne, ein Bronzedenkmal errichtet. Es zeigt einen entspannt aufblickenden Weisen im Sitzen.

 

Du stirbst nicht, weil du krank bist;
         du stirbst, weil du lebst. (Montaigne)

 

Längst zählt Montaignes einzigartiges Buch zur Weltliteratur und, zumal in der Postmoderne, auch zur Philosophie. Doch Essais, das war seiner Zeit ein nicht geläufiger, neuartiger Titel. Niemand konnte wissen, was damit gemeint sein, welchen Inhalt ein so bezeichnetes Werk haben sollte. „Ich selber bin der Inhalt meines Buches“, erklärte Montaigne im Vorwort. Gleichwohl war es nicht ein Buch der Identität. Der Text folgt ganz dem offenen Verlauf fragender Identifizierung. Woraus eigentlich bestimmt sich das Dasein? Findet sich eine Person durch Gedanken repräsentiert? Und ist ein Ich überhaupt konstant und kohärent? Der in solchen Bahnen schrieb, verfuhr so, um seiner Verwunderung nachzugehen und die eigene Belehrbarkeit zu aktivieren. Die direktive Unterweisung anderer konnte hingegen seine Sache nicht sein. Überall traten Unbeständigkeit und Verschiedenheit hervor. Nicht nur zwischen den einzelnen Menschen war dem so, sondern, konträr zum eignen Bedürfnis nach Muße und Vertiefung, auch im Ich selbst. Das Bemühen um Orientierung, um Erkenntnis und Normen blieb „ein sprunghaftes und unablässiges Streben ohne vorgezeichnete Bahn und Absicht“. Es erwuchs ihm ein grundsätzlicher Vorbehalt bezüglich des Eingespielten, Festgelegten, Normativen. Am Anders- und Fremdartigen Anstoß zu nehmen, schien ihm kaum angebracht, wo es vielmehr darum ging, einen Blick zu gewinnen für die Ungereimtheiten des Eigenen und scheinbar allzu Vertrauten. Die Subjektivität erschien als schillernd und fluktuierend wie Wasser, Wind und Feuer. ...

Autor: Hans Peter Balmer